Der große Sprung PDF Drucken
Thomas Schmid - DIE ZEIT Nr.17 vom 19.04.2007, S.12

Es hätte weit schlimmer kommen können. Die insgesamt knapp zwei Tonnen Sprengstoff, in drei Autos geladen, explodierten nicht auf der belebten Rue Didouche Mourad in Algiers, nicht auf einem quirligen Markt, nicht vor einer vollen Moschee, sondern vor einem Polizeikommissariat, vor einer Kaserne der Gendarmerie und vor dem Regierungspalast. 30 Menschen starben bei den Attentaten in Algier in der vergangenen Woche. Den Terroristen von al-Qaida im islamischen Maghreb ging es offenbar nicht darum, möglichst viele Menschen zu töten. Noch nicht. Das kann sich ändern.
Für die Machthaber Algeriens hingegen hätte es kaum schlimmer kommen können. Während die Armee schon seit zwei Wochen eine größere Gruppe von Terroristen in den Bergen der Kabylei umzingelt halten, schlugen die Islamisten im Herzen der Hauptstadt zu, vor dem weiträumig gesicherten Sitz der Regierung. Dabei schien der Krieg doch zu Ende.

Im vergangenen Jahr waren im Rahmen einer Amnestie 2629 inhaftierte Islamisten darunter rund 500 Imame freigelassen worden. An die 300 Mitglieder der Salafistischen Gruppe für Predigt und Kampf (GSPC) streckten danach die Waffen. Ab und zu gab es zwar noch Tote. Doch Staatspräsident Abdelasis Bouteflika sprach beschwichtigend von einem »Restproblem«.
Nun hat das »Restproblem« zugeschlagen und die Algerier fühlen sich in die neunziger Jahre zurückgebombt. 1992 wurde die Islamistische Heilsfront (FIS) von den Militärs durch einen veritablen Staatsstreich um ihren absehbaren Wahlsieg gebracht. Zehntausende ihrer Anhänger gingen danach in den Untergrund und lieferten der Armee ein Jahrzehnt lang einen erbitterten Krieg. Die Bewaffneten Islamischen Gruppen (GIA) überfielen Kasernen und Schulen und ermordeten auch Frauen und Kinder, oft indem sie ihnen, wie Schafen bei der Schächtung, die Kehle aufschlitzten. Die Militärs ihrerseits machten keine Gefangenen, folterten gnadenlos, liquidierten tatsächliche oder vermeintliche Sympathisanten der GIA und gründeten selbst angeblich islamistische Terrorgruppen, um diesen Scheinvereinigungen danach die Schuld an Massakern unterzuschieben. Zwischen 150000 und 200000 Algerier fielen dem Krieg zum Opfer. Millionen wurden entwurzelt. Die algerische Bevölkerung ist zutiefst traumatisiert.
Das »Restproblem« besteht nun aus der etwa 800 Mann starken GSPC, die sich 1998 als salafistische Abspaltung der GIA gründete und vor vier Jahren mit der Entführung von 32 Touristen zur Hälfte Deutsche für Schlagzeilen sorgte. Der Salafismus, im 19. Jahrhundert entstanden, tritt für die Wiederherstellung eines ursprünglichen Islams ein, wie er in den ersten drei Jahrhunderten nach der Hidschra, der Flucht des Propheten von Mekka nach Medina, geherrscht haben soll. Von der GSPC droht kein Bürgerkrieg mehr, aber Terror.
Am 11. September des vergangenen Jahres kündigte Aiman al-Sawahiri, die rechte Hand von Osama bin Laden, in einem Video an, al-Qaida und die algerischen Salafisten seien eine Allianz eingegangen. Ende Januar teilte die GSPC ihrerseits in einem Kommuniqué mit, sie nenne sich fortan al-Qaida im islamischen Maghreb. Ihre Kämpfer, so hieß es weiter, würden sich als »Vasallen des Löwen des Islams (bin Laden)« begreifen und »der Knochen« sein, der »den amerikanischen und französischen Kreuzzüglern im Halse stecken bleiben« werde. Nach der militärischen Niederlage im eigenen Land suchten die GSPC eine neue Legitimation. Die Allianz gereicht beiden Seiten zum Vorteil: Die Algerier profitieren vom Nimbus, den das Label al-Qaida verbreitet, und al-Qaida hat im Maghreb nun seine Truppen. Doch geht es eher um die Betonung ideologischer Verbundenheit als um eine operative Ebene.
Der Befehl zu den Attentaten in Algier ging nicht von einer Höhle im pakistanisch-afghanischen Grenzgebiet aus.
Es gab in den bleiernen Jahren Algeriens Tausende von Bombenanschlägen, aber nur zweimal kam es zu Selbstmordattentaten. Das letzte liegt über zehn Jahre zurück. Auch die Anschläge der vergangenen Woche sind nach Einschätzung des algerischen Innenministers Mohamed Yazid Zerhouni »sehr wahrscheinlich« keine Selbstmordattentate. Aber mit der neuen Liaison zeichnet sich ab, dass sich die algerischen Salafisten im gesamten Maghreb vernetzen. Im marokkanischen Casablanca sprengten sich am Vorabend der Attentate von Algier drei Selbstmordattentäter in die Luft und am vergangenen Samstag weitere zwei. Bis vor wenigen Jahren galt Marokko als weniger terrorismusanfällig als Algerien, weil König Mohammed VI. eine starke parlamentarische islamistische Partei toleriert und er zudem auch »Emir aller Gläubigen« ist. Doch wird die Autorität des Monarchen vor allem von der fundamentalistischen Bewegung Gerechtigkeit und Spiritualität des Scheichs Yassine untergraben, der wahrscheinlich stärksten politischen Kraft Marokkos. Diese stellt anders als die parlamentarischen Islamisten den in der Verfassung festgeschriebenen Anspruch des Königs auf religiöse Führerschaft infrage, doch lehnt sie Gewalt öffentlich ab. Erst im Mai 2003, als zwölf Selbstmordattentäter der salafistischen Gruppe Rechter Weg sich selbst und 31 weitere Menschen töteten, war der Terrorismus auch in Marokko angekommen.
Sämtliche Selbstmordattentäter von Casablanca 2003 wie 2007 stammten aus Elendsvierteln der Millionenstadt. In der Bevölkerung stoßen die Terroristen weder in Algerien noch in Marokko auf nennenswerte Sympathien. Aber unter den frustrierten, arbeits- und perspektivlosen Jugendlichen finden sie trotzdem Anhänger. Daran vermögen auch die Demokratisierungsprozesse in beiden Ländern nichts zu ändern. Im Dezember nahm die Polizei 30 Islamisten fest, denen sie vorwarf, in der nordmarokkanischen Stadt Tetouan 40 Jugendliche rekrutiert zu haben, die von der algerischen GSPC in Mali ausgebildet wurden, bevor sie zum Kampf im Irak aufbrachen.
In Tunesien, dem dritten Land des Maghreb, ist der Islamismus weniger virulent. Während Algerien und Marokko inzwischen eine ziemlich freie Presse haben, ist das Touristenparadies Tunesien ein Polizeistaat sondergleichen. 2005 wurde Ben Ali Sajn al-Abadin zum vierten Mal zum Präsidenten gewählt wenn auch nur noch mit 94,49 Prozent der Stimmen. Fünf Jahre zuvor hatte er sich noch 99,84 Prozent zugebilligt. Die Presse ist gleichgeschaltet. Über 200 Mitglieder der einst legalen islamistischen Ennahda-Partei sitzen in Gefängnissen, weit mehr sind ins Exil getrieben worden. Doch auch Diktatur schützt vor Terrorismus nicht. Im April 2002 starben bei einem Anschlag auf eine Synagoge auf Djerba 17 Menschen (darunter elf deutsche Touristen). Ein halbes Jahr später verkündete Ben Ali siegesgewiss, Tunesien habe »das Kapitel Terrorismus definitiv abgeschlossen«. Vor wenigen Monaten wurde er eines Besseren belehrt. Bei drei Feuergefechten im Dezember und im Januar am Stadtrand von Tunis starben zwei Polizisten und zwölf Islamisten, dreizehn weitere wurden festgenommen. Die Hälfte von ihnen war aus Algerien eingesickert, wo sie offenbar von der GSPC ausgebildet worden waren.
In Mauretanien, wo algerische Salafisten 2005 eine Kaserne überfielen und 20 Soldaten töteten, wurden im Januar GSPC-Mitglieder festgenommen, die ein Attentat auf die Rallye ParisDakar geplant haben sollen. In der Wüste im Norden von Mali haben US-Satelliten schon vor zwei Jahren mobile Trainingscamps der Salafisten ausgemacht.
Im Rahmen der Transsahara Counterterrorism Initiative übten damals 700 Elitesoldaten der USA mit 3000 Soldaten aus sieben Staaten der Region den Kampf gegen den Terrorismus. Die Sahara- und Sahelzone gilt als Aufmarschgebiet der maghrebinischen al-Qaida.
Mit der Transformation der GSPC, die vor allem algerische Ziele ins Visier nahm, zur maghrebinischen al-Qaida droht auch Europa zum Kampfgebiet zu werden. Spanien besitzt auf dem marokkanischen Festlandsockel die beiden Exklaven Ceuta und Melilla, zu deren Befreiung Osama bin Ladens Stellvertreter Aiman al-Sawahiri im Dezember aufrief. In ihrem Bekennerschreiben kündeten die Attentäter von Algier an, die Herrschaft des Islams über die Gebiete »von Jerusalem bis al-Andalus« wiederherstellen zu wollen. Al-Andalus ist die Iberische Halbinsel, die zum Teil fast 800 Jahre lang unter islamischer Herrschaft stand. In Madrid, wo vor drei Jahren bei Anschlägen auf Vorortszüge 191 Menschen starben, nimmt man solche Drohungen ernst. 15 der 29 Terroristen, die im Zusammenhang des Massakers angeklagt wurden, sind Marokkaner.
Auch Frankreich ist im Visier der Terroristen. Schon die GIA sah in der früheren Kolonialmacht die Hauptstütze des verhassten algerischen Regimes. Weihnachten 1994 entführte sie ein Flugzeug auf dem Weg von Algier nach Paris, um es in den Eiffelturm zu steuern. Bei einem Zwischenhalt in Marseille stürmten jedoch Polizisten die Maschine.
1995 starben bei verschiedenen Anschlägen der GIA auf Kaufhäuser und U-Bahnstationen in Paris elf Menschen. Seither aber verübten algerische Terroristen in Frankreich keine Attentate mehr.
Doch nach den Anschlägen in Algier rief der französische Innenminister François Baroin nun »zu äußerster Wachsamkeit überall in Frankreich, unter allen Umständen und zu jeder Zeit« auf. Vor allem am 11. eines Monats herrscht jeweils Gefahr. Am 11. September 2001 fielen die Türme New Yorks, am 11. April 2002 fand der Anschlag auf Djerba statt, am 11. März 2004 war Madrid an der Reihe und nun am 11. April 2007 Algier. Es ist eine terroristische Kabbalistik sui generis.

 

copyright © 2008 | - Journalist | website designed by: kalle staymann

Der Blick in die Welt, Thomas Schmid