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Das Eiland am Ende der Welt PDF Drucken

Thomas Schmid - DIE ZEIT 12.04.2006 Nr.16
Die vorkoloniale Geschichte der Osterinsel gilt als Lehrbeispiel für ökologische Selbstzerstörung – sogar Hollywood hat sich des Themas bemächtigt. Die eigentliche Tragödie der faszinierenden Insel im Pazifik begann jedoch erst mit Anbruch des 19. Jahrhunderts

Stünden da nicht diese rätselhaften Kolosse mit ihren langen Nasen, wäre uns das Eiland vielleicht so unbekannt wie irgendeines auf der Rückseite unseres Globus. Aber eben dort, in den unendlichen Weiten des Pazifiks, auf einem kleinen Flecken Erde, 163 Quadratkilometer groß, gibt es diese faszinierenden Statuen aus Vulkanstein, fast 900 an der Zahl, stumme Zeugen einer untergegangenen Kultur. Die Osterinsel – oder Rapa Nui, wie die Ureinwohner sowohl ihr Land als auch sich selbst bezeichnen – ist der einsamste bewohnte Ort der Erde, am weitesten entfernt von jeder andern menschlichen Siedlung. Die nächsten Nachbarn leben 2200 Kilometer weiter westlich auf den Pitcairn-Inseln; zum nächsten Festland, zur Küste Chiles im Osten, sind es gar 3700 Kilometer.


Als der niederländische Seefahrer Jacob Roggeveen an Ostern 1722 die Insel entdeckt, wundert er sich über die seltsame Welt, in die er da geraten ist. Kein Baum ist höher als drei Meter. »Wir konnten nicht verstehen«, schreibt er in sein Tagebuch, »wie Menschen, die weder über dicke Holzbalken zur Herstellung irgendwelcher Maschinen noch über kräftige Seile verfügten, dennoch solche Bildsäulen aufrichten konnten.« Immerhin sind die meisten Statuen vier bis sechs Meter hoch und rund zehn Tonnen schwer. Und überhaupt: Wie sind diese Menschen hierher gekommen? Ihre Boote seien nicht nur klein und zerbrechlich, sondern auch undicht, stellt der Holländer fest, »weshalb sie gezwungen sind, die Hälfte der Zeit mit Schöpfen zu verbringen«. Wie aber sollen sie mit solchen Nussschalen wochenlang auf dem Meer unterwegs gewesen sein?
Die meisten der Rätsel sind inzwischen halbwegs befriedigend gelöst. Sprachforscher haben nachgewiesen, dass die Osterinsulaner von Westen her, aus Polynesien, eingewandert sind. Der Zeitpunkt ist umstritten. Vielleicht erst im 12. Jahrhundert. Pollenanalysen haben ergeben, dass auf der Insel einst die größten Palmen der Welt wuchsen. Der Wald wurde abgeholzt, um die Statuen zu transportieren, um Kanus zu bauen und um Leichen einzuäschern.
Dem Raubbau folgte die Erosion des Bodens, der immer weniger Feldfrüchte hergab. Mit den Bäumen verschwanden die Landvögel. Auf Delfinfleisch und Fisch mussten die Insulaner verzichten, weil das Holz für seetüchtige Boote fehlte. Ein Teufelskreis. Die ökologische Katastrophe führte zu Stammeskriegen und schließlich – gegen Ende des 17. Jahrhunderts – zum rapiden Rückgang der Bevölkerung. 1994 hat Hollywoodstar Kevin Costner aus dem Stoff einen viel diskutierten Film gemacht (Rapa Nui); und just tauchte die beispielhafte Geschichte in dem Buch Kollaps des amerikanischen Geografen Jared Diamond wieder auf, das weltweit auf den Bestsellerlisten steht.
Etwa 15000 Einwohner hat die Insel wohl einst beherbergt. Roggeveen trifft gerade noch einige tausend Rapa Nui an. Kein Einziger von ihnen, so können wir annehmen, hat je einen Menschen von irgendeiner andern Insel oder gar vom Festland gesehen. Irgendwo weit hinter dem Horizont, wo die Sonne ins Meer sinkt oder aus dem Wasser steigt, mag es anderes Land und andere Menschen geben. Sie wissen es nicht. Aber die Großeltern haben es erzählt, die es von ihren Großeltern hörten.
Und nun, 1722, kommen also Fremde auf drei großen Schiffen an. Einige Rapa Nui paddeln ihnen neugierig entgegen. Doch dann fällt der erste Schuss, »worauf sie alle ins Wasser sprungen und davon schwummen«, wie der mecklenburgische Korporal Carl Friedrich Behrens, damals 21 Jahre alt, vermerkt. Zehn bis zwölf Einheimische sterben. Die erste Begegnung der beiden Welten ist gezeichnet von Arroganz, Angst und Aggression. Viele Menschen kommen am Strand zusammen. »Weil einigen sich unterstanden, unser Gewehr anzugreiffen«, schreibt der Korporal, der als erster Europäer die Insel betritt, »ward Feuer unter sie gegeben, worüber sie hefftig erschracken, und auseinander lieffen.«
Als sie ihre Toten abholen, bringen die Rapa Nui den Eindringlingen zugleich Feigen, Nüsse und Hühner. Eine Geste der Unterwerfung? Oder halten sie die hellhäutigen Europäer für Abgeordnete ihrer Ahnen, denen sie so wuchtige Denkmäler setzten? Wir wissen es nicht. Die Geschichte haben die Sieger geschrieben, ihre Geschichte: die Geschichte von Entdeckung, Missionierung, Zivilisierung.
Nachdem die holländischen Schiffe am Horizont verschwunden sind, dauert es fast ein halbes Jahrhundert, bis die Rapa Nui wieder Besuch erhalten. Diesmal aus Spanien. 1770. Felipe González de Haedo kommt mit seiner Fregatte, hisst auf der Insel die spanische Flagge und nimmt sie für seinen König in Besitz. Er lässt sich den Akt in einem Dokument bestätigen, das von drei Insulanern mit großzügigen Kringeln unterzeichnet wird.
Vier Jahre nach dem Spanier erreicht der Brite James Cook bei seiner zweiten Weltumsegelung die Osterinsel. Er wird freundlich empfangen, hat er doch einen Tahitianer mitgebracht, der sich mit den Rapa Nui auf Polynesisch einigermaßen verständigen kann. Dem jungen Georg Forster, der zusammen mit seinem Vater Cooks Expedition begleitet und der später mit der Beschreibung dieser Reise um die Welt (1778–1780) berühmt wird, fällt vor allem a uf, dass die Einheimischen zwar Geschenke bringen, andererseits aber den Fremden sorglos die Taschen stehlen und sogar die Mützen vom Kopf ziehen. »Sie waren die größten Diebe, die wir auf der Reise fanden«, notiert Cooks Kapitän Tobias Fourneaux. »Wir waren genötigt, einen zu erschießen.«
Auch spätere Ankömmlinge, ob Seefahrer oder Missionare, klagen, dass die Rapa Nui bedenkenlos stehlen, was ihnen zwischen die Finger kommt – oft sogar mit einem freundlichen Lachen. Ganz offensichtlich haben sie andere Wertvorstellungen als die Europäer. Persönliches Eigentum ist ihnen kaum bekannt. Vielleicht denken sie auch, dass die Geister der Ahnen ihnen die Fremden geschickt haben, um ihnen zu bringen, was sie brauchen.
Die Visiten häufen sich. Der französische Graf La Pérouse bringt 1786 Samen, Schafe und Schweine auf die Insel. Der russische Kapitän Urey Lisjanskij tauscht 1804 Waren. Doch auf die friedlichen Besucher folgen andere. Die Mannschaft der US-amerikanischen Nancy verschleppt 1805 zwölf Männer und zehn Frauen; sie sollen auf einer fernen Insel Robben für sie jagen. 1811 landet der amerikanische Walschoner Pindos, die Seeleute kidnappen einige Frauen, bringen sie aufs Schiff, vergewaltigen sie und werfen sie danach ins Meer.
So kommt es, dass eine russische Expedition unter dem Kommando Otto von Kotzebues (eines Sohns des Erfolgsdramatikers) 1816 von einem Steinhagel empfangen wird und das Weite sucht. Während der Kapitän um die Sicherheit bangt, betrachtet der Berliner Schriftsteller Adelbert von Chamisso, der Kotzebue begleitet, die »Wilden« mit dem Blick des Ästheten. »Diese als so elend geschilderten Menschen«, schreibt er, »schienen uns von schönen Gesichtszügen, von angenehmer und ausdrucksvoller Physiognomie, von wohlgebildetem, schlankem, gesundem Körperbau […]. Das Aug des Künstlers erfreute sich, eine schönere Natur zu schauen, als ihm die Badeplätze in Europa, seine einzige Schule, darbieten.«
Der Terror gegen die Rapa Nui aber geht weiter. 1855 hat Peru die Sklaverei abgeschafft. In den Minen und auf den Plantagen fehlt es an billigen Arbeitskräften. Die freigelassenen Sklaven werden durch Zwangsarbeiter aus der Südsee ersetzt. Kapitäne und Abenteurer stechen in See, um Polynesier zu fangen. Innerhalb eines halben Jahres landen auf der Osterinsel 18 Schiffe an, fast alle aus Peru. An die 1500 Menschen, über ein Drittel der Bevölkerung, werden verschleppt, 800 an einem einzigen Tag, dem 23. Dezember 1862. Wie viele Rapa Nui bei der Menschenjagd getötet wurden, ist nicht überliefert. Und auch die Zahl jener, die in den Minen und auf den Feldern starben, ist unbekannt.
Erst auf heftigen Protest der Briten, Franzosen und Chilenen hin setzen Perus Behörden den Deportationen ein Ende. Vor allem der Bischof von Tahiti drängt auf die Rückführung der Polynesier. Auch 100 Rapa Nui sollen auf ihre Insel heimkehren. Die Reise führt über Tahiti, wo sie sich mit Pocken infizieren. 85 sterben unterwegs, die übrigen 15 schleppen das Virus auf die Osterinsel ein, das dort weitere tausend Einwohner dahinrafft.
Als 1864 der erste Missionar an Land geht, gibt es auf der Insel keine Führungsschicht mehr. Die lokalen Notabeln sind verschleppt worden. Die Rongorongo-Zeichen, eine Schrift, die es nur hier gibt, kann keiner mehr entziffern. Das soziale System ist zerstört. Was übrig geblieben ist von der alten Kultur, löschen die christlichen Missionare aus.
Eugène Eyraud heißt der erste Gottesmann; sein frommes Werk gelingt zunächst nicht. Er muss die Insel verlassen, kehrt jedoch wenige Monate später mit einem Kollegen zurück. Die beiden Franzosen errichten eine Kirche. Bald singen und beten die Einheimischen – auch auf Französisch und Lateinisch. Schließlich werden die Fremden zur großen Zeremonie eingeladen, bei der jährlich der Vogelmann gekürt wird. Wenn die ersten Rußseeschwalben auf Moto Nui, einer der Küste vorgelagerten Klippe, nisten, schickt jeder Stamm seinen besten Schwimmer aus, um als Erster ein Ei des Vogels dem obersten Priester zu bringen. Der Häuptling des siegreichen Stammes wird für ein Jahr zum Vogelmann ernannt, zum Herrscher über die Insel. Es ist die letzte Zeremonie dieser Art, welche die Europäer noch erleben. Der Kult stirbt aus. Dafür lassen sich nun immer mehr Menschen taufen.
Im April 1868 trifft ein Landsmann der Missionare ein: Jean-Baptiste Ounèsime Dutrou-Bornier. Im Auftrag seines tahitianischen Geschäftspartners will er eine Schaffarm gründen. Forsch und unverfroren ruft er sich zum König der Insel aus, heiratet eine Einheimische, ernennt sie zur Königin und gründet einen »Staatsrat«, dessen Präsidentschaft er übernimmt. Als Generalsekretär gewinnt er den deutschen Missionar Theodor Zumbohm. Doch der weigert sich, Verträge gegenzuzeichnen, die Dutrou-Bornier den Rapa Nui abgepresst hat, um sich deren Land anzueignen. Der Franzose greift zur Gewalt. Er lässt die Missionen niederbrennen und selbst auf Kinder schießen.
Schließlich flüchten die Missionare mit 168 Rapa Nui übers Meer nach Westen auf die Îles Gambier, eine Inselgruppe, die zu Französisch-Polynesien gehört. Währenddessen deportiert Dutrou-Bornier rund 200 Einheimische nach Tahiti. Die auf der Osterinsel Verbliebenen unterwirft er einem Schreckensregiment, bis er 1876 von einer Gruppe Rapa Nui umgebracht wird. Als der französische Anthropologe Alphonse Pinart 1877 auf der Insel ankommt, zählt er noch genau 111 Einheimische.
1888 annektiert Chile das Eiland, auf dem die Spanier, die ihre lateinamerikanischen Kolonien (mit Ausnahme von Kuba) inzwischen verloren haben, trotz der förmlichen Inbesitznahme 1770 nie aufgetaucht sind. Die Rapa Nui treten in einem Dokument »die vollständige und ganze Souveränität für immer und ohne Vorbehalt an die Regierung der Republik Chile« ab. Es ist unwichtig, ob die Unterschriften gefälscht sind oder nicht und ob die genannten Häuptlinge überhaupt des Schreibens mächtig waren. Als der Korvettenkapitän Policarpo Toro mit seiner Streitmacht auf der Insel ankam, hatten sie ohnehin keine andere Wahl. Doch noch heute erzählen die Insulaner, dass ihr König Atamu Tekena sich damals vor Toro verbeugt habe – mit einem Büschel Gras in der einen Hand und mit Erde in der anderen. Das Gras habe er dem Chilenen gegeben, die Erde aber behalten. Was so viel heißt wie: Ihr dürft das Land nutzen, aber es bleibt in unserem Besitz.
Die gesamte Insel wird 1895 an Enrique Merlet, einen chilenischen Geschäftsmann, verpachtet, dessen örtlicher Vertreter gleichzeitig Repräsentant der chilenischen Regierung und oberster Richter ist. Als Merlet vor dem Bankrott steht, borgt er sich Geld bei einer schottischen Firma, die auf Schafzucht spezialisiert ist und mit ihm zusammen die »Gesellschaft zur Ausbeutung der Osterinsel« gründet.
Die Rapa Nui, die schon Dutrou-Bornier aus ihren Dörfern an einen einzigen Ort im Südwesten der Insel umgesiedelt hat, werden in ein tausend Hektar großes, mit Mauer und Stacheldraht umzäuntes Areal gepfercht. Ohne Genehmigung der Firma, die auf ihrer Farm nur ein Dutzend Einheimische beschäftigt, darf niemand das Lager verlassen. Einmal pro Jahr kommt ein Versorgungsschiff mit Mehl, Bohnen, Reis, Zucker und Textilien.
Im Jahr 1914 scheitert ein Aufstand. Zufällig liegt gerade ein chilenisches Kriegsschiff vor Anker. Der Kapitän inspiziert die Situation. Er ist erschüttert über die Lage der Rapa Nui. »Sie leben im größten Elend und haben kaum etwas, um sich zu bedecken. Viele von ihnen, besonders die Kinder, laufen völlig nackt umher«, schreibt er. »Die Situation ist so schlecht, weil die Eingeborenen nichts zu essen haben. Man verkauft ihnen kein Fleisch, man erlaubt ihnen nicht, zum Fischen hinauszufahren.«
Doch der Rapport des Kapitäns rüttelt niemanden auf. Auch der deutsche Kapuziner Sebastian Englert, der sich 1935 auf der Insel niederlässt und die lange priesterlose Zeit beendet, kümmert sich wenig um das traurige Los der Eingeborenen, deren Kultur und Sprache er eifrig studiert. Er bemüht sich vor allem um die Seelen seiner Schäfchen, versucht, sie von »wilder Ehe« abzuhalten. Dass Diebe nach der Sonntagsmesse vor der Kirche ausgepeitscht werden, verhindert er nicht. 1963 ehrt ihn die Bundesrepublik Deutschland mit dem Verdienstkreuz erster Klasse.
Als synthetische Fasern die Wolle immer mehr verdrängen, zieht sich die schottische Firma 1953 von der Insel zurück. Die Marine übernimmt die Verwaltung. Für die Rapa Nui ändert sich nichts.
Erst 1964 setzt die Wende ein. Chiles neu gewählter christdemokratischer Präsident Eduardo Frei legt dem Parlament eine Gesetzesvorlage vor, um die Gleichstellung der Insulaner mit den Festlandchilenen durchzusetzen. Kurz danach sorgt Alfonso Rapu, ein 22-jähriger Rapa Nui, der von einer Chilenin aufs Festland geholt wurde und nach einer Ausbildung auf die Insel zurückkehrte, für Aufruhr. In einem Brief an Frei beklagt er sich über den Terror auf der Insel. Der Brief, der in der chilenischen Presse veröffentlicht wird, schlägt in Santiago wie eine Bombe ein. Soldaten nehmen Rapu auf der Insel fest. In der Hauptstadt debattiert das Parlament. Die Insulaner blockieren die Straßen, um eine Deportation des Aufmüpfigen zu verhindern. Im allgemeinen Aufruhr gelingt es ihm, den Soldaten zu entwischen. Frauen verstecken ihn in einer Höhle. 1965 müssen die Behörden eine freie Bürgermeisterwahl zulassen. Rapu gewinnt sie. Ein Jahr später erhalten die Rapa Nui die chilenische Staatsbürgerschaft. Der Stacheldraht des Lagers wird niedergerissen.
Heute, 40 Jahre nach diesen dramatischen Ereignissen, zählt die Osterinsel an die 4000 Einwohner. Die Rapa Nui sind gegenüber den Zugewanderten noch knapp in der Mehrheit. 1967 baut man einen Flughafen, seit den siebziger Jahren können hier auch große Jets landen. Sie bringen Touristen aus aller Welt auf die Insel, die 1995 von der Unesco zum Weltkulturerbe erklärt wird. Die meisten Rapa Nui leben inzwischen vom Fremdenverkehr. Und viele Besucher fliegen mit einer kleinen Statue im Gepäck in ihre Heimat zurück – pittoreske Erinnerung an eine grandiose Insel, deren tragische Geschichte wohl nur die wenigsten von ihnen kennen.

 

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid