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In der Türkei droht ein Putsch der Justiz PDF Drucken


Thomas Schmid, BERLINER ZEITUNG, 03.07.2008

Der Fall ist in der Weltgeschichte einmalig: In der Türkei will der oberste Ankläger der Republik dem Staatspräsidenten und dem Ministerpräsidenten, den höchsten Politikern des Landes also, jede politische Betätigung verbieten und die Regierungspartei schlicht auflösen. Und die hat bei den letzten Wahlen immerhin 47 Prozent der Stimmen erhalten und stellt fast zwei Drittel der Parlamentsabgeordneten. Die Anklage unterstellt der AKP (Partei für Gerechtigkeit und Aufschwung), sie wolle das islamische Recht einführen und einen Gottesstaat errichten. Heute werden der Vizeministerpräsident und der Fraktionschef der Partei vor dem Verfassungsgericht ihr Schlussplädoyer vortragen.



Der Generalstaatsanwalt behauptet, es gehe in der Türkei um die Alternative zwischen säkularer Republik und Theokratie. Das ist Unsinn. Es geht um einen Machtkampf mit ganz anderen Koordinaten. Auf der einen Seite steht die alte kemalistische Elite. Sie hat mit dem Regierungsantritt der AKP vor sechs Jahren zum ersten Mal seit der Gründung der modernen Türkei 1923 durch Kemal Atatürk die Kontrolle über Teile des Staates verloren. Auf der andern Seite stehen eine aufstrebende anatolische Bourgeoisie und konservative Mittelschichten, die in der religiös grundierten AKP ihre politische Vertretung gefunden haben.

Und noch ein zweites Missverständnis muss ausgeräumt werden. Es gab nie eine klare Trennung zischen Staat und Kirche - auch wenn Kemalisten in Justiz, Armee und der oppositionellen CHP (Republikanische Volkspartei) das immer wieder behaupten. Das staatliche Präsidium für Religiöse Angelegenheiten (Diyanet) war seit jeher die höchste religiöse Autorität des Landes. Es ist für die Ausbildung der Imame zuständig und gibt die Richtlinien für die Freitagsgebete in den Moscheen vor. Die theologische Schule der orthodoxen Christen ist seit Jahrzehnten auf staatliche Anweisung hin geschlossen. Die armenischen Christen, Nachfahren der Überlebenden des Genozids, bei dem gegen Ende des Ersten Weltkriegs etwa eine Million Armenier umkamen, bitten vergeblich um die Rückerstattung enteigneter Immobilien. In beiden Fällen mauert nicht die "religöse" AKP, sondern die "republikanische" CHP.

Gegen den heftigen Widerstand der einst von Atatürk gegründeten CHP (die kurioserweise noch immer Mitglied der Sozialistischen Internationale ist) und der alten kemalistischen Elite setzte die AKP in wenigen Jahren eine demokratische Öffnung durch, beschränkte die Macht der Militärs und liberalisierte das Strafgesetzbuch. Alles in Maßen, aber immerhin.

Die Europäische Union hat diesen Prozess befördert, indem sie der Türkei eine Beitrittsperspektive anbot. Sollte jetzt das türkische Verfassungsgericht, in dem die Kemalisten eine bequeme Mehrheit haben, die Regierungspartei verbieten, wofür vieles spricht, ist der Weg nach Europa erst einmal verbaut. Der französische Präsident und die deutsche Bundeskanzlerin könnten aufatmen. Sie ziehen eine "privilegierte Partnerschaft" einem Beitritt der Türkei zur EU ohnehin vor.

In der Auseinandersetzung mit den Kemalisten sind dem Ministerpräsidenten Recep Tayyip Erdogan einige Fehler unterlaufen. Er suchte - und verlor - den Streit um das Kopftuch. Sinnvoller wäre es gewesen, den Kampf um eine demokratische Verfassung aufzunehmen, um jene zu ersetzen, die die Militärs 1982 nach ihrem Putsch plebiszitär durchgepeitscht haben. Erdogan tolerierte zudem am 1. Mai einen äußerst brutalen Einsatz gegen Demonstranten und verscherzte sich damit die Sympathien liberaler Kreise. Schließlich ließ er vorgestern, just während die Anklage gegen die AKP verlesen wurde, zwei Dutzend Kemalisten verhaften, unter ihnen ein bekannter Journalist und zwei Generäle im Ruhestand. Einige von ihnen sind wahrscheinlich in Putschpläne verwickelt. Der Zeitpunkt ist trotzdem falsch gewählt. Es riecht nach Rache.

Die Folgen eines Verbots der AKP und einer Kaltstellung ihrer führenden Politiker sind unabsehbar. Außenpolitisch würde die Türkei, die sich zu einer Regionalmacht gemausert hat, deren Vermittlerdienste nicht nur in Israel und Syrien geschätzt werden, sicher an Bedeutung verlieren. Innenpolitisch wären die Folgen viel gravierender. Noch nie lebten die Türken so frei wie heute und noch nie in materieller Hinsicht so gut. Soziale Unruhen, Massenproteste von Anhängern der AKP, die über einen "Putsch der Justiz" um ihren Wahlsieg betrogen würden, könnten beidem, der relativen Freiheit wie dem relativen Wohlstand, ein Ende setzen.

 

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Der Blick in die Welt, Thomas Schmid