Träume vom arabischen Domino-Stein |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 27.01.2011 China war den Kommunisten anheimgefallen, ein Teil Koreas ebenfalls, und auch Indochina war bereits infiziert. Wenn ein Staat fällt, befand US-Präsident Dwight D. Eisenhower 1954, dann klappen die andern zusammen wie Domino-Steine. Mit der Domino-Theorie begründeten die Amerikaner dann ihre militärische Intervention in Vietnam 1965. Als sie zehn Jahre und drei Millionen Tote später geschlagen abzogen, war nicht nur ganz Vietnam kommunistisch, auch Laos und Kambodscha waren gefallen. 2003 hoffte George W. Bush auf einen Domino-Effekt, als
er seinen Feldzug gegen Saddam startete. Dessen Sturz würde der Fall
anderer Despoten folgen. Nun feiert die Domino-Theorie wieder
Renaissance. Der Westen hofft, dass die Staaten einer nach dem andern
kippen - wie Tunesien. "Erst Tunis, dann Kairo", schrien vorgestern
zehntausend Demonstranten in Ägyptens Hauptstadt, "lasst es uns machen
wie in Tunesien!" Zweifellos strahlt die Jasmin-Revolution über
die tunesischen Grenzen hinweg aus. In Algerien, Ägypten, Jordanien und
Jemen begehrten frustrierte Bürger gegen die Machthaber auf. In Algerien
und Ägypten verbrannten sich Menschen öffentlich, so wie Mohamed
Bouazizi, der sich im tunesischen Sidi Bouzid angezündet und damit die
Revolte ausgelöst hatte. Die Motive sind ähnlich:
Jugendarbeitslosigkeit, eine korrupte Elite und Polizisten, die foltern.
Und vor allem autokratische Regimes. Doch muss man sich hüten,
alle die Vorgänge über einen Kamm zu scheren. In Algerien gibt es seit
Jahren überaus häufig soziale Unruhen, ohne dass diese das Regime
ernsthaft gefährdet hätten. Das Land hat im Unterschied zu Tunesien
unter Ben Ali eine relativ freie Presse und oppositionelle Parteien, die
sich äußern und den Protest zum Teil kanalisieren können. Außerdem ist
Algerien traumatisiert von einem zehnjährigen Krieg mit 200000 Toten,
der erst ein Jahrzehnt zurückliegt. Die Mittelschicht, die in Tunesien
eine entscheidende Rolle spielte, ist in Algerien weitgehend
verschwunden. In Tunesien verhalf letztlich die Armee der
Revolution der Straße zum Sieg, indem sie die Präsidialgarde
ausschaltete. In Algerien ist trotz ziviler Regierung faktisch die Armee
an der Macht. Die Generäle teilen sich die Pfründen aus dem
einträglichen Erdöl- und Gasgeschäft, die zusammen 98 Prozent der
Exporte ausmachen. In Tunesien hingegen hatte die Armee keine eigenen
wirtschaftlichen Interessen. Ägypten, kulturell dem
maghrebinischen Tunesien fremder als Algerien, gilt schon lange als
Pulverfass. Im Unterschied zu Tunesien, wo die Islamisten politisch und
sozial keine Rolle spielen, sind diese in Ägypten stärkste politische
Oppositionskraft. Sie besetzen bedeutende Wirtschaftspositionen und
betreiben ein dichtes Netz karitativer Einrichtungen, was sie gerade in
der Unterschicht populär macht. Eine geeinte Opposition wie in Tunesien
ist schwer vorstellbar. Zudem verfügt Ägypten über die stärkste Armee im
arabischen Raum, ist eine Regionalmacht und ein wichtiger Stützpfeiler
der amerikanischen Nahostpolitik. Die USA, von deren Finanzhilfe das
Regime in Kairo abhängig ist, werden auf eine Demokratisierung erst
ernsthaft drängen, wenn diese mehr Stabilität verspricht als das
gegenwärtige Regime von Muhammad Husni Mubarak, der schon sechs Jahre
vor Ben Ali ins Amt kam. Dass die arabischen Staaten jetzt wie
Domino-Steine kippen, ist also nicht zu erwarten. Doch längerfristig hat
die Jasmin-Revolution eine nicht zu unterschätzende Bedeutung. Zum
ersten Mal im arabischen Raum ist ein Potentat vom Volk entmachtet
worden. Das wissen die Despoten, und das wissen - dank der
elektronischen Medien, dank Al Dschasira, Facebook und Twitter -
Millionen Untertanen. Vorübergehend mögen einige Autokraten nun
die Repressionen verschärfen, andere werden eine kontrollierte
politische Öffnung wagen - etwas mehr Pluralismus, etwas mehr
Partizipation. Jede Öffnung aber birgt das Risiko einer Eigendynamik. Wie
der Aufstand der Werftarbeiter von Danzig 1980 zur Gründung von
Solidarnosc führte und der Anfang eines Prozesses war, der ein Jahrzehnt
später im Fall der Berliner Mauer und im Zusammenbruch der Sowjetunion
kulminierte, so könnte die tunesische Revolution in einem Jahrzehnt
rückblickend als Fanal für die Emanzipation der arabischen Welt von
autokratischer Herrschaft erscheinen. Das ist die optimistische
Hypothese. Die Alternative: Islamistische Bewegungen profitieren
von der Verknöcherung der Regimes und der Lähmung der Gesellschaft. Für
diese pessimistische Hypothese spricht, dass die arabischen Despoten
bislang Demokraten immer mehr fürchteten als Islamisten. |