Reif für die Demokratie |
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 22.02.2011
Nun ist also der selbst ernannte "König der Könige Afrikas" an der Reihe: Muammar al-Gaddafi, der libysche "Revolutionsführer", der offiziell kein Amt hat, nur eben diesen Titel und die faktische Macht, die ihm zu entgleiten droht. Wenn einer allen Stürmen in der arabischen Welt zu trotzen vermag, dann er - mit seinem weit verzweigten Spitzelapparat, mit seinen Eliteeinheiten, mit seinen sprudelnden Ölquellen. So schien es bis vor wenigen Tagen. Aber mit ihrem Mut, der sich aus Verzweiflung und Hoffnung nährt, haben uns die Demonstranten von Bengasi, Tobruk, Derna, Surt, Misurata und Tripolis auch diese Gewissheit genommen. Dem Tunesier Ben Ali boten die Franzosen noch
drei Tage vor seiner Flucht Hilfe bei der Niederschlagung der Unruhen
an. Vom Ägypter Mubarak mochte man sich in den europäischen Hauptstädten
erst distanzieren, als klar war, dass ihn die eigene Armee würde fallen
lassen. Über Libyen schwieg man beharrlich bis vor wenigen Tagen. Einer
vermeintlichen Sicherheit und einer brüchigen Stabilität ordneten
Europas Politiker alles unter - auch die Menschenrechte. Als ob in
Tunesien und Libyen Diktaturen die Islamisten besser im Zaume halten
könnten als streitbare Demokratien. Als ob der Frieden mit Israel ohne
Folter in ägyptischen Gefängnissen eben nun mal nicht zu haben sei. Und
Libyen? Das Land ist längst von einem verfemten Schurkenstaat zu einem
beliebten Handelspartner avanciert. 1988 starben bei einer Explosion in
einem US-Jumbo über dem schottischen Lockerbie 270 Menschen. Als Gaddafi
sich weigerte, die beiden libyschen Agenten auszuliefern, denen das
Attentat zur Last gelegt wurde, verhängte die Uno 1993 gegen Libyen
Sanktionen. 2003 wurden sie aufgehoben. Gaddafi verzichtete auf
Massenvernichtungswaffen, Libyen trat dem Atomsperrvertrag bei. Und
heute ist es Deutschlands drittwichtigster Erdöllieferant. Die Welt
lernte ein neues Libyen kennen, die Libyer selber mussten mit dem alten
vorlieb nehmen - einem Staat ohne Parteien, ohne freie Medien, aber mit
Folter. Der Terror, einst munter exportiert, richtete sich fortan nur
noch gegen die eigenen Bürger. Europa drückte beide Augen zu. Vor
allem auch aus Angst vor den Flüchtlingen. Und der Revolutionsführer
weiß diese Angst zu bedienen. In höchster Not drohte er nun an, die
Schleusen zu öffnen und Europa mit einer Flut von Flüchtlingen zu
überschwemmen. Hunderttausende Afrikaner sind vor Elend und Krieg in
ihren Staaten durch die Sahara an die libysche Küste geflohen, in der
Hoffnung auf einem Seelenverkäufer zur italienischen Mittelmeerinsel
Lampedusa zu gelangen. Die EU hat Gaddafi im vergangenen Jahr 50
Millionen Euro als Hilfe für die Abwehr von Flüchtlingen zugesagt. Nun
will der Libyer den Pakt notfalls kündigen. Er setzt auf Erpressung.
Gaddafis Manöver droht Europa zu spalten. Italiens Außenminister warnt
bereits vor Sanktionen gegen Libyen. Sein Chef, Silvio Berlusconi, hatte
vor drei Jahren mit Gaddafi ein schäbiges Abkommen geschlossen: Italien
investiert 3,4 Milliarden Euro in den Bau einer Autobahn an der
libyschen Küste und in die Exploration von Erdöl und Erdgas. Der
Revolutionsführer hilft im Gegenzug bei der Abwehr von Flüchtlingen. Als
Folge des Paktes schickte Italiens Küstenwache aufgefischte Flüchtlinge
umgehend nach Libyen zurück, wo sie oft schwer misshandelt wurden.
Viele wurden gleich durch die Wüste nach Niger weiter verfrachtet, wo
sie ebenso wenig in Sicherheit waren. Mit der Abschiebung von
Flüchtlingen in ein unsicheres Land verstieß Italien zwar gegen die
Flüchtlingskonvention der Uno. Aber das juckte in Berlin und Brüssel
niemanden. Im Fall Tunesien hat Europa einen erbärmlichen
Opportunismus zutage gelegt, in Ägypten hat es gezaudert. Im Fall Libyen
täte es gut daran, nicht nur die mörderische Gewalt des Regimes zu
verurteilen, sondern umgehend Sanktionen zu beschließen und den
Demonstranten Mut zu machen. Sie kämpfen für Werte, deren Wiege in
Europa liegt, auf die Europa stolz ist und für die es zu Recht eine
weltweite Gültigkeit beansprucht. Immer wieder wurde den
arabischen Massen unterstellt, sie seien für die Demokratie nicht reif.
Es ist eine arrogante Haltung. In diesen Tagen, in diesen Wochen
beweisen sie das Gegenteil. Und wenn jetzt wieder keine klaren und
eindeutigen Signale von Europa übers Mittelmeer ans andere Ufer
gelangen, wird die Enttäuschung unter denjenigen, die alles riskieren,
um ein Leben in Würde zu führen, groß sein. Und sie wird jene
antiwestlichen Kreise stärken, vor denen der Westen sich so sehr
ängstigt. |