Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 21.12.2012
Stellen Sie sich mal vor: In
Berlin demonstrieren Zehntausende völlig friedlich für ihr Anliegen.
Die Polizei kesselt Tausende ein, schlägt rund 300
Demonstranten tot und wirft viele Leichen kurzum in die Spree.
Unvorstellbar. Jedenfalls im Nachkriegsdeutschland. Ersetzen Sie
Berlin durch Paris und die Spree durch die Seine. Unvorstellbar?
Just dies geschah im Oktober 1961. Zugegeben, die Opfer waren
keine Franzosen, sondern Araber, Algerier. General Charles de Gaulle,
damals Frankreichs Präsident, der Mann, der wie kein anderer Franzose
für die Versöhnung mit Deutschland steht, erwähnte in seinen Memoiren
das Massaker mit keinem einzigen Wort. Bis vor Kurzem wussten wohl die
meisten Franzosen gar nichts davon. Fünf Präsidenten, die dem General
in seinem Amt folgten, Nicolas Sarkozy inbegriffen, beschwiegen das
Tabu. Dann kam François Hollande und redete vor zwei Monaten als
erster Präsident am 51. Jahrestag öffentlich über das Verbrechen
und huldigte den Opfern.
So waren also die Erwartungen hoch, als
Hollande nun Algerien einen Staatsbesuch abstattete. Würde er sich für
die Verbrechen der Kolonialzeit öffentlich entschuldigen? Würde er
weiter gehen als sein Vorgänger Sarkozy? Der hatte vor fünf Jahren in
Algier das Kolonialsystem als "zutiefst ungerecht" bezeichnet. Nun das
war es offensichtlich, und insofern war die Feststellung
eine Plattitüde. Aber aus dem Mund eines Staatsoberhaupts einer
ehemaligen Kolonialmacht hört es sich eben anders an. Eine
Entschuldigung, wie sie Hollande, damals Chef der
Sozialistischen Partei, eindringlich forderte, kam Sarkozy nicht über
die Lippen.
Nun, Hollande hat gesprochen - von einem
"zutiefst ungerechten und brutalen System". Er sprach auch das Massaker
von Sétif an, bei dem Franzosen wohl über Zehntausend Algerier
hinmetzelten. Es war "am 8. Mai 1945, am Tag, als die Welt über die
Barbarei triumphierte und Frankreich seine universellen Werte vergaß".
Er sprach von "Gewalt, Massakern Folter". Von Entschuldigung und Reue
kam von ihm - den Erwartungen vieler Algerier zum Trotz - kein einziges
Wort. "Die Geschichte, so tragisch und schmerzhaft sie auch
sein mag, muss gesagt werden", meinte Hollande und sprach sich
gegen "Verschleierung, Vergessen und Leugnung" aus. Doch die Geschichte
ist längst gesagt. Zum 50. Jahrestag der algerischen Unabhängigkeit
erschienen auch in Frankreich Dutzende Bücher über die Verbrechen des
Kolonialkriegs 1954-1962: Millionen Algerier wurden
zwangsumgesiedelt, Hunderttausende gefoltert. Etwa 400000 Tote mag der
Algerienkrieg gekostet haben, vielleicht ein Zehntel von ihnen
Franzosen.
Mehr als um die Aufarbeitung der Geschichte geht es um
die Haltung der obersten Repräsentanten Frankreichs zu derselben. Erst
1999 wurde per Gesetz verfügt, dass in offiziellen Dokumenten der
Begriff "Algerienkrieg" zu verwenden sei. Bis dahin hatte man von
"Operationen zur Aufrechterhaltung der Ordnung" gesprochen. Noch im
Jahr 2005 verabschiedete das französische Parlament ein Gesetz, das
allerdings 2006 zurückgenommen wurde, wonach in den Lehrplänen der
Schulen "die positive Rolle" anerkannt werden müsse, die die Franzosen
in Nordafrika gespielt hätten. Nach 124 Jahren Kolonialherrschaft gab es
bei Ausbruch des Unabhängigkeitskrieges 1954 in Algerien
gerade mal rund tausend algerische Universitätsabsolventen, unter
ihnen 165 Ärzte. Welch zivilisatorische Leistung!
Deutschland hat
seine Geschichte - wenn auch mit reichlich Verspätung - wie kaum ein
zweites Land aufgearbeitet. Die historische Schuld ist spätestens seit
Willy Brandts Kniefall in der Öffentlichkeit unumstritten. Ja, es hat
sich längst eine regelrechte Erinnerungskultur etabliert. Die totale
Niederlage, die auf den totalen Krieg folgte, das schiere Ausmaß und
die Monstrosität der nationalsozialistischen Verbrechen, an die
im eigenen Land zerstörte Städte wie die Besatzungssoldaten täglich
erinnerten, mögen es den Deutschen erleichtert haben, sich mit der
Vergangenheit auseinanderzusetzen, historische Schuld zu anerkennen.
In Frankreich wurde die Geschichte des Algerienkriegs
wissenschaftlich aufgearbeitet, weit gründlicher übrigens als in
Algerien selbst, wo eigene Verbrechen, vor allem die Hinrichtung
von Zehntausenden von Kollaborateuren, bis heute tabu sind. Aber die
französische Bevölkerung ist mit den großzügig amnestierten
Kolonialverbrechen allenfalls marginal konfrontiert worden. Hätte
Hollande in Algier ein deutliches Signal gesetzt, wie es von
algerischer Seite erwartet wurde, hätte er im Lager der französischen
Rechten wohl einen Sturm der Empörung riskiert. So aber hat er nur
eine Chance verpasst.
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