Dudu gegen Lulu PDF Drucken

Thomas Schmid - DIE ZEIT 29.04.2004 Nr.19


In Rocinha, dem größten Elendsviertel Brasiliens, herrscht Krieg. Zwei verfeindete Drogenbanden kämpfen um die Macht. 1200 Polizisten sind eingerückt

Der 21.April ist in ganz Brasilien ein Feiertag. Am 21. April 1792 wurde der Tiradentes (Zahnzieher) genannte Anführer einer liberalen Verschwörung gegen die portugiesische Kolonialmacht von Pferden auseinander gerissen. Sein Kopf wurde auf einen Pfahl gespießt und öffentlich ausgestellt. Am diesjährigen Feiertag hatte sich Viva Rio (Es lebe Rio de Janeiro), eine Organisation mit immerhin 800 Angestellten, die sich dem Kampf gegen die Gewalt verschrieben hat, etwas Besonderes ausgedacht: den dia del carinho, den „Tag der Liebe“. Den Bewohnern von Rocinha, eines Elendsviertels am Rande Rio de Janeiros, das von Drogenbossen beherrscht wird und seit zwei Wochen von über 1200 Militärpolizisten besetzt ist, sollte ein Zeichen der Solidarität überbracht werden: Kinderspielsachen und weiße Papierblumen.

Etwa 250 Personen, vorwiegend Jugendliche, fast alle aus den mittelständischen oder wohlhabenden Vierteln der Metropole am Zuckerhut, alle in weiße T-Shirts gekleidet, machen sich in drei Reisebussen auf nach Rocinha. In eine Favela, einen lateinamerikanischen Slum, haben viele von ihnen noch nie einen Fuß gesetzt. Zunächst geht alles gut. Die Kinder freuen sich über Pappnasen, Vampirzähne und Murmeln. Erwachsene gucken aus den Fenstern, treten vor die Tür, gewähren den Gästen einen Blick in die dunklen, engen, armseligen Behausungen. Doch dann fallen Schüsse, eine halbe Stunde lang. Drei Polizisten werden verletzt ins Krankenhaus gefahren. Ein Bandit stirbt im Kugelhagel. Es ist der dreizehnte Tote innerhalb von zwölf Tagen. Vor ihm sind sieben mutmaßliche Drogenhändler, zwei Polizisten und drei Unbeteiligte gestorben. Nach einem Jahrzehnt relativer Ruhe ist in Rocinha wieder der Krieg ausgebrochen.
Angefangen hat alles am Karfreitag. Eine Stunde nach Mitternacht versuchte Eduíno Eustáquio de Araújo, genannt Dudu, mit 70 Anhängern die Favela zu erobern. Bis 1995 war Dudu unumstrittener Boss von Rocinha. Dann wurde er gefasst und wegen Mordes und Mitgliedschaft in einer kriminellen Vereinigung zu 30 Jahren Haft verurteilt. Am 17. Januar dieses Jahres – da saß er schon neun Jahre hinter Gittern – durfte er seine Familie besuchen. Statt ins Gefängnis zurückzukehren, tauchte er ab. Nun versuchte er also, seine alte Machtposition wieder einzunehmen, das heißt, die Kontrolle über die fünf festen bocas de fumo zurückzugewinnen, öffentliche Verkaufsstellen von Kokain und Marihuana. Doch da hatten sich längst die Anhänger von Luciano Barbosa da Silva, genannt Lulu, festgesetzt.
Dudu und seine Mannen drangen von der nahen Favela Vidigal her nach Rocinha vor. Als Erste starb Telma Veloso Pinto. Sie hatte versucht, eine Barrikade der Banditen zu durchbrechen und wurde erschossen. Kurz danach fielen ein Kindermädchen und ein Skateboarder, möglicherweise getroffen von Querschlägern. Dann stießen die Eindringlinge auf den Widerstand von Lulus Truppen und später auch der Polizei. Etwa 30 Banditen wurden festgenommen, den übrigen – unter ihnen auch Dudu – gelang die Flucht in den Urwald, der am Rand von Rocinha beginnt.
Am sechsten Tag der Auseinandersetzungen erschoss die Polizei Lulu und einen seiner Leibwächter. Der Drogenboss hatte seine Villa mit Sauna und Swimmingpool, mitten in der Favela, schon Tage zuvor verlassen. Rocinha ist der größte Umschlagplatz für Kokain in ganz Brasilien. Monatlich hat Lulu Drogen im Wert von umgerechnet etwa 11Millionen Euro umgesetzt. Schätzungsweise 20 Prozent des Rauschgifts bleiben in der Stadt, der Rest findet den Weg ins übrige Land und nach Europa. Doch jetzt sind in Rocinha die bocas de fumo, wo man sich für branco (weiß, für Kokain) und preto (schwarz, für Marihuana) wie beim Bäcker für Brötchen anstellte, vorerst geschlossen.
Rocinha mit seinen offiziell knapp 60000, real vermutlich etwa 120000 Einwohnern, gilt als größte Favela Lateinamerikas. Doch die Hütten aus Wellblech und Karton haben schon vor Jahrzehnten stabilen Häusern aus Zement Platz gemacht. Es gibt Elektrizität, fließendes Wasser, Kabelfernsehen, Banken, ein Internet-Café, McDonald’s, ein Fitness-Zentrum und – sicher auch dank des schmutzigen Geldes – über tausend kleine Läden. Inzwischen bieten Tourismus-Unternehmen Ausflüge nach Rocinha an.

Drei Schulen und drei Ärzte für 120000 Menschen
„Wir sind eine Vorzeige-Favela geworden“, sagt der Journalist Carlos Costa, „doch der Staat ist abwesend, es gibt kein Krankenhaus, nur drei Ärzte, kein Kino und nur drei Schulen.“ Costa ist in Rocinha aufgewachsen, wo er noch immer lebt und monatlich ein Anzeigenblatt herausgibt. „Und machen Sie in Ihrer Zeitung denn auch den Drogenhandel zum Thema?“ Costas lächelt milde. „Allenfalls reden wir ab und zu ganz allgemein über Gewalt.“ Weshalb sollte er über den Drogenhandel schreiben? Das ist hier Alltag, uninteressant. Kauf und Verkauf wurden bis vor zwei Wochen öffentlich abgewickelt. Jeder kennt die olheros, die Halbwüchsigen, die Schmiere stehen und Leuchtraketen schießen, wenn die Polizei auftaucht, die vapores, die den Stoff transportieren, und die soldados, wie die Händler genannt werden, weil sie früher als Einzige bewaffnet waren. Was Costas nicht sagt: Wenn er den Drogenhandel zum Thema machen würde, könnte er seine Zeitung gleich einstellen.
Auch Dante Quinterno kennt seine Grenzen. Der alerte Sohn eines argentinischen Medienunternehmers hat auf eigene Kosten für 2,5 Millionen Dollar Rocinha verkabeln lassen. Er ist Direktor von TV-Roc, einem lokalen Fernsehsender, der nur in der Favela zu empfangen ist. Immerhin zahlen 30000 Abonnenten monatlich umgerechnet acht Euro Fernsehgebühr. TV-Roc kauft Filme ein, produziert eigene Clips und beschäftigt ein halbes Dutzend Journalisten, die über kulturelle Events in der Favela berichten. Auch der Tag der Liebe, die Solidaritätsaktion von Viva Rio, war ein Thema. „Doch über Politik reden wir nicht, und schon gar nicht über den Drogenhandel“, sagt Quinterno, „wir respektieren die Verhältnisse.“
Nicht anders in Rocinha: Sobald man auf Drogen zu sprechen kommt, werden die Menschen schweigsam, flüchten sich in Allgemeinplätze, verstehen die Frage nicht oder haben plötzlich etwas Dringendes zu erledigen. Bestenfalls sagen sie, wie die 40-jährige Marta ganz offen: „Nein, darüber möchte ich nicht reden.“ Marta besorgt einer Ingenieurfamilie in São Conrado den Haushalt, einem noblen Viertel, das nur durch eine breite Durchgangsstraße von Rocinha getrennt ist. Sie hat fünf Kinder von drei Männern, die nach und nach aus ihrem Leben verschwunden sind. Nur einer lässt ihr von Zeit zu Zeit etwas Geld zukommen. Von den Kindern wohnen noch drei bei ihr. Der Älteste – aber diesen Teil der Geschichte verschweigt sie – sitzt seit drei Jahren wegen Drogenhandels im Gefängnis. Und der Zweitälteste verdient als 14-Jähriger schon dreimal so viel wie sie selbst, ohne sich den Buckel krumm zu machen. Zu Hause kommt er selten vorbei.
Weiß man in Rocinha zu schätzen, dass nun über 1200 Militärpolizisten in der Favela stationiert sind? „Viele fühlen sich jetzt sicher“, sagt William de Oliveira, der Präsident der Einwohnervereinigung, „aber es gibt auch schon über hundert Beschwerden wegen Übergriffen und Erpressungen.“ Ob er selbst Ärger mit der Drogenmafia, mit den Banditen, bekommen habe? „Sie mischen sich nicht in unsere Arbeit ein und wir uns nicht in ihre Geschäfte.“ Auch William de Oliveira respektiert also die Verhältnisse. Mit Lulu hatte er sich arrangiert, und Dudu war vor seiner Zeit. Der Drogenboss, der heute der wohl meistgesuchte Mann Rio de Janeiros ist, pflegte mit seinem Jeep bewaffnet durch die Straßen zu brausen und schüchterte die Einwohner ein. Lulu hingegen hatte vielen Familien mit etwas Geld ausgeholfen, sei es, um ein Fest für die Erste Kommunion eines Kindes auszurichten, sei es, um einen kleinen Laden zu eröffnen oder einen kleinen Anbau am Haus zu finanzieren. So etwas sprach sich herum. Am Tag nach dem Tod Lulus waren alle Geschäfte Rocinhas geschlossen – aus Trauer, sagen die einen, weil die Drogenhändler es anordneten, die andern. Fest steht, dass 600 Einwohner Rocinhas in Bussen zum Begräbnis des Drogenbosses im Zentrum Rios fuhren.
Noch ist unklar, wer nun in Lulus Fußstapfen tritt. Sicher ist nur, dass die Militärpolizei, die Rocinha besetzt, sich eines Tages zurückziehen wird. Jeder in der Favela geht davon aus, dass dann die alten Verhältnisse wieder zurückkehren: das Gesetz der Drogenbosse, die Tortur und Liquidierung von Verrätern, die bocas de fumo, die halbwüchsigen olheros, die sich kraft ihrer Waffe jedes Mädchen gefügig machen.
Zwar wollen Rios Stadtplaner den Graben zwischen „Hügel“ (Favela) und „Asphalt“ (Stadt) überbrücken, zwar arbeiten in keiner brasilianischen Favela so viele Nichtregierungsorganisationen wie in Rocinha. Doch sie haben schlechte Karten. Die Bevölkerung hat mit den Verhältnissen, von denen nicht wenige ja auch profitieren, längst ihren Frieden geschlossen. Und sie stoßen auf den Widerstand einer wirtschaftlich potenten Drogenmafia, der diese Resignation nützt und die sich notfalls brutal durchsetzt.
In der vergangenen Woche wurde in einer Favela von Rio ein Waffenlager ausgehoben. Keine Seltenheit. Aber diesmal fand die Polizei neben den üblichen Gewehren und Munitionskisten auch 161 Handgranaten und acht Antipersonenminen, alles aus Beständen der Armee. „Verminte Favelas“, warnte die größte Zeitung der Stadt, eine Horrorperspektive, die nun immerhin in den Bereich des Vorstellbaren gerückt ist.
Ebenfalls in der vergangenen Woche veröffentlichte das nationale Statistikamt seinen neuesten Bericht. Demnach sind zwischen 1980 und 2000 in Brasilien 598367 Menschen ermordet worden. Zum Vergleich: In Angola wütete nach dem Rückzug der portugiesischen Kolonialmacht 27 Jahre lang, von 1975 bis 2002, ein Bürgerkrieg. Er forderte 350000 Todesopfer.


 

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