Ein Passagierflugzeug, abgeschossen über Italien Drucken
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 19.08.2014


Vor 34 Jahren stürzte in der Nähe der Mittelmeerinsel Ustica ein Flugzeug ins Meer. 81 Menschen starben.

Mit Fug und Recht besteht die EU darauf, die Umstände, die in der Ukraine zum Absturz eines Passagierflugzeugs und zum Tod von 298 Personen geführt haben, zu klären. Wer hat das Flugzeug von wo aus abgeschossen? Die Schuldigen müssen benannt werden. Die Angehörigen der Opfer haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Darüber herrscht völlige Einigkeit. Heute.

Und damals?

Damals, vor 34 Jahren, als bei der Mittelmeerinsel Ustica, 140 Kilometer nördlich von Palermo, ein Passagierflugzeug ins Meer stürzte und 81 Opfer auf dem Meeresgrund begrub, setzten französische und italienische Geheimdienstler und Militärs alles dran, die Wahrheit zu vertuschen. Die Öffentlichkeit wurde nach Strich und Faden belogen, Beweismittel wurden manipuliert oder vernichtet, und mehr als ein Dutzend Personen, die über die Ereignisse vermutlich mehr wussten als den Geheimdiensten lieb war, weil sie in den Radaranlagen beschäftigt waren oder Kommandofunktionen innehatten, starben zwischen 1980 und 1995. Einer erlitt mit 37 Jahren einen Herzinfarkt, drei starben bei Autounfällen, drei stürzten mit einem Flugzeug ab, drei fand man erhängt, einer wurde erstochen, zwei wurden erschossen.

Stoff für Verschwörungstheorien. Aber immerhin sagte ja auch Italiens Staatschef Giorgio Napolitano, ein Mann, der seine Worte sorgfältig abzuwägen pflegt, im Jahr 2010 anlässlich des 30. Jahrestages der Tragödie: "Es gibt Spuren einer Verschwörung im Fall Ustica, vielleicht auch eine internationale Intrige, die wir in Erinnerung rufen müssen." Vor allem dem hartnäckigen Staatsanwalt Rosario Priore, der über zehn Jahre lang die Ermittlungen geführt hat, ist zu verdanken, dass der Absturz nicht einfach als Flugzeugunglück abgebucht werden konnte.

1,6 Millionen Seiten dick sind die Ermittlungsakten, 3 050 Zeugen wurden angehört, 120 Gutachten erstellt. Doch ein Prozess, der Ursachen und Schuld hätte klären können, wurde nie eröffnet, "weil die Täter unbekannt" blieben. Es kam allerdings zu einer Reihe von Gerichtsverfahren gegen Militärs und Geheimdienstler wegen Beseitigung von Spuren und Behinderung der Ermittlungen. Aufgeklärt aber ist der Fall Ustica bis heute nicht. Doch steht immerhin fest, dass das Passagierflugzeug von einer Luft-Luft-Rakete getroffen worden war - vermutlich abgefeuert von einer französischen Kampfmaschine. Gewiss, man wollte kein Zivilflugzeug abschießen. Es war offenbar ein Versehen - wie in der Ukraine übrigens wohl auch.

Die DC-9 der kleinen, nach dem Crash schon bald in Bankrott gegangenen italienischen Fluggesellschaft Itavia startet in Bologna am 27. Juni 1980 um 20.08 Uhr. Ziel ist Palermo. An Bord befinden sich 77 Passagiere, unter ihnen 13 Kinder, und vier Besatzungsmitglieder. Das letzte Transpondersignal der Maschine wird um 20.59 Uhr aufgezeichnet, dann verschwindet sie von den Radarschirmen. Genau drei Wochen später gibt der italienische Verteidigungsminister Lelio Lagorio bekannt, im Sila-Gebirge in Kalabrien (Süditalien) sei ein libysches Militärflugzeug abgestürzt. Die Trümmer der MiG und der tote Kampfpilot werden schnell gefunden. Die Gerichtsmediziner kommen aufgrund der bereits fortgeschrittenen Verwesung der Leiche zum Schluss, das Flugzeug müsse etwa drei Wochen früher in den Berg gerast sein. Oder abgeschossen worden sein. Darauf deuten sieben Löcher im Wrack hin, wie sie Projektile von Bordkanonen hinterlassen.

Zurück zu Ustica. Die ursprünglichen Hypothesen, ein technischer Defekt oder die Ermüdung des Materials oder eine in der Toilette platzierte Bombe habe zum Absturz des Passagierflugzeugs geführt, ließ sich spätestens 1991 nicht mehr aufrechterhalten. Da waren 96 Prozent der Flugzeugteile aus 3 700 Meter Meerestiefe geborgen worden. Die Toiletteneinrichtung war unbeschädigt. Die Bullaugen des Flugzeugs waren fast sämtliche intakt, was Experten zufolge eine Explosion an Bord ausschließen lässt.

Radaraufzeichnungen und zahlreiche Dokumente, die zur Aufklärung der Katastrophe hätten beitragen können, wurden auf Befehl von oben systematisch vernichtet. Doch eben nicht alle. Zwei Signale, die auf dem Radarschirm des Flughafens Rom-Ciampino kurz vor dem Absturz der DC-9 aufgefangen wurden, kamen nach Auffassung eines amerikanischen Experten, der vor Gericht als Zeuge aussagte, mit Sicherheit von einem Militärflugzeug. Und auch auf einer erhalten gebliebenen Aufzeichnung der Radarstation von Poggio Ballone bei Grosseto geht hervor, dass von der französischen Luftwaffenbasis in Solenzara auf Korsika kurz vor dem Crash zwei Jagdflugzeuge aufstiegen und Richtung Süden, Richtung Ustica, abdrehten. Das französische Verteidigungsministerium hatte immer behauptet, von 17 Uhr an habe es auf Solenzara keine Aktivitäten mehr gegeben. Das war schlicht gelogen. Erst vor vier Monaten gaben die Franzosen zum ersten Mal zu, dass auf Solenzara bis nach Mitternacht Betrieb herrschte.

1999 veröffentlichte der römische Staatsanwalt Rosario Priore seinen Ermittlungsbericht. Er kam zum Schluss: "Der Absturz der DC-9 erfolgte nach einer militärischen Abfangaktion, die DC-9 wurde abgeschossen." Noch deutlicher wurde Francesco Cossiga, der zur Zeit der Katastrophe als Ministerpräsident mehr zur Vertuschung als zur Aufklärung beigetragen hatte und später Staatspräsident wurde. Im Jahr 2007 erklärte er im Fernsehen: "Die Franzosen wussten, dass das Flugzeug von Gaddafi vorbeifliegen würde (...) Die Franzosen haben ein Flugzeug bemerkt, das sich hinter die DC-9 gesetzt hatte, in der Hoffnung, vom Radar nicht erfasst zu werden. Es waren die Franzosen, die dann von einem Flugzeug aus eine Rakete abgefeuert haben." Ein Jahr später bezeugte Cossiga: "Es waren unsere Geheimdienste, die Amato (Staatssekretär Giuliano Amato, A.d.R.) und mich informierten, dass es die Franzosen gewesen waren." Gaddafi sei allerdings, kurz nachdem seine Maschine abgehoben habe, vom Sismi, dem militärischen Geheimdienst Italiens, über die französischen Absichten informierten worden und sei wieder zurückgeflogen.

Zwei libysche MiGs befanden sich über dem Tyrrhenischen Meer. Möglicherweise waren sie auf dem Rückflug von einer Wartung in Jugoslawien über italienischem Gebiet entdeckt wurden. Eine davon könnte versucht haben, im Radarschatten des Passagierflugzeuges den Verfolgern zu entkommen. Aus Versehen wurde dann die DC-9 von einer Luft-Luft-Rakete getroffen. Eine MiG wurde wahrscheinlich verfolgt und über Kalabrien abgeschossen.

Nach Cossigas überraschenden Stellungnahmen wurden die Ermittlungen im Fall Ustica wieder aufgenommen. Noch sind viele Fragen offen. Fest steht inzwischen jedoch, dass im Raum über dem Tyrrhenischen Meer in der Region nördlich von Ustica zur fraglichen Zeit elf Militärflugzeuge im Einsatz waren. Wahrscheinlich ist es zu einem veritablen Luftkampf zwischen Flugzeugen der französischen und italienischen Luftwaffe einerseits und zwei libyschen MiGs andererseits gekommen. Im Raum über Elba war zudem eine der beiden in Europa stationierten amerikanischen Awacs im Einsatz.

Höchst unwahrscheinlich also, dass die Amerikaner nicht wissen, was sich damals ereignet hat. Der neue forsche italienische Ministerpräsident Matteo Renzi hat jüngst versprochen, die Archive zu öffnen und die Dokumente, die zur Erhellung der Tragödie beitragen könnten, zu deklassifizieren. Aus Frankreich wird nun Kooperationsbereitschaft signalisiert. Jedenfalls durfte ein italienischer Staatsanwalt jüngst ehemalige französische Militärs vernehmen, die damals auf der Luftwaffenbasis von Solenzara stationiert waren.

So könnten die neuen Ermittlungen doch noch zu einem Prozess führen. Die Angehörigen der Opfer haben ein Recht darauf, die Wahrheit zu erfahren. Immerhin haben sie inzwischen eine Entschädigung von 110 Millionen Euro erhalten. Das höchste Gericht Italiens, der Kassationshof in Rom, hielt es im vergangenen Jahr für erwiesen, dass sich am 27. Juni 1980 in den Himmeln über Ustica eine Luftschlacht ereignete. Der italienische Staat sei seiner Pflicht nicht nachgekommen, die Sicherheit der Passagiere zu gewährleisten


© Berliner Zeitung