RADOVAN KARADZIC - Der schreckliche Poet Drucken

Thomas Schmid, BERLINER ZEITUNG, 23.07.2008


Radovan Karadzic - sein Hass auf die Vielvölkerstadt Sarajevo kostete Hunderttausende Menschen das Leben


Das Gespräch mit Radovan Karadzic dauerte nur wenige Minuten. Es war im Oktober 1991. Serbische Paramilitärs hatten unter dem Schutz der jugoslawischen Armee fast ein Drittel Kroatiens erobert. In Bosnien-Herzegowina herrschte noch kein Krieg. Aber es gab bereits "Serbische Autonome Regionen", die der Regierungsgewalt in Sarajevo entzogen waren. Die Menschen in der Hauptstadt hatten Angst, dass der Krieg auf Bosnien übergreifen werde. So gut wie jeder Taxi-Chauffeur hatte eine Pistole oder einen Revolver im Handschuhfach liegen. Niemand schien zu wissen, wie man das Unheil denn noch abwenden könnte.


"Sie müssen unbedingt Radovan Karadzic treffen", hatte die Frau im Informationsministerium in Sarajevo empfohlen, "er ist der wichtigste Serbe in Bosnien-Herzegowina." Jugoslawien war bereits im Zerfall begriffen, aber es herrschten noch kommunistische Sitten, und die Regierung kümmerte sich darum, den Journalisten Kontakte zu vermitteln. Karadzic hatte sein Büro im Parlament, einem hässlichen Betongebäude außerhalb der Altstadt. In der Ecke des kahlen Raums stand eine serbische Fahne und auf dem Tisch neben dem Telefon eine Flasche Sljivovica, serbischer Pflaumenschnaps. An der Wand hing eine "Etnicka karta", eine "ethnische Karte", die vorwiegend serbisch besiedelten Gebiete Bosnien-Herzegowinas waren rot, die kroatischen blau und die muslimischen grün eingezeichnet.

Dann kam er herein, mit damals noch dunklem Wuschelkopf. Eine imposante Erscheinung. Noch vor der Begrüßung donnerte er: "Ihr Deutschen versteht nichts von Krieg." Einigermaßen verdutzt gab ich mich als Schweizer zu erkennen. "Gut, sehr gut", gab er schlagfertig zurück, "auch wir wollen Kantone haben: serbische, kroatische und muslimische." Dass die Kantonsgrenzen der Eidgenossenschaft weder ethnische noch religiöse Grenzen sind, wollte er nicht glauben. Nach der zweiten Frage über die Rechte der Kosovo-Albaner stand Radovan Karadzic auf. Er verließ sein Büro ohne jeden Gruß und kam nicht wieder.

Ein halbes Jahr nach diesem Treffen, Anfang April 1992, fielen aus dem Büro von Karadzics Partei, das sich im fünften Stock des Hotels Holiday Inn befand, Schüsse auf eine hunderttausendköpfige Menge. Es gab Tote und Verletzte. Es sollte die letzte große multiethnische Demonstration in der Hauptstadt sein, eigentlich eine Kundgebung für den Frieden. Doch der Krieg hatte begonnen und Karadzic setzte sich mit seinen Getreuen nach Pale ab, ein Dörfchen wenige Kilometer außerhalb von Sarajevo, das während der Kriegsjahre Hauptstadt der Republika Srpska, der Serbischen Republik in Bosnien, wurde.

"Nicht einmal muslimische und serbische Katzen können zusammenleben", hat Karadzic einmal behauptet, geschweige denn Menschen. Und als Kriegsherr hat er alles getan, um seine furchtbare Behauptung Wahrheit werden zu lassen. Nach der Vertreibung von mehr als zwei Millionen Menschen, beschönigend als "ethnische Säuberung" bezeichnet, nach dem Tod von über Hunderttausend Bosniern, nach der Zerstörung von fast tausend Moscheen, nach der Schändung von zahlreichen muslimischen Friedhöfen schien ein Zusammenleben von Serben, Kroaten und Muslimen nicht mehr möglich.

Self-fulfilling prophecy heißt der Fachausdruck dafür, eine sich selbst erfüllende Prophezeiung. Über ein Jahrtausend lang hatten Kroaten und Serben friedlich zusammengelebt. Die ersten belegten Konflikte zwischen ihnen gab es erst im 20. Jahrhundert. Zwischen Serben und Muslimen kam es zwar immer wieder zum Krieg, aber in der Regel herrschte Frieden. "Wenn es Krieg geben wird", hatte Karadzic noch vor dessen Ausbruch gesagt, "werden alle Städte zerstört und mindestens 200 000 Personen sterben." Auch diese Prophezeiung hat sich mit seiner tatkräftigen Hilfe weitgehend selbst erfüllt.

Schon 1986 hatte die Serbische Akademie der Wissenschaften die "Homogenisierung" Jugoslawiens gefordert, die Schaffung ethnisch homogener Territorien. Karadzic, geboren 1945, gehörte zu den radikalsten Vertretern der "ethnischen Säuberung".

Aufgewachsen ist der Sohn eines Schusters und einer Bäuerin in der heilen Welt von Petnijca, einem kleinen Dorf in den Bergen Montenegros. Als seine Familie nach Sarajevo umsiedelte, war er fünfzehn Jahre alt. Schon damals habe er die Hauptstadt als "melting pot in kommunistischer Sauce" empfunden, gestand Karadzic später. Die Stadt, in der ein Drittel der Ehepaare über Konfessions- und ethnische Grenzen hinweg heiratete, in der man zu Fuß in fünf Minuten von der orthodoxen zur katholischen Kathedrale geht oder von der prächtigen Gazi-Husrevbeg-Moschee zur alten sephardischen Synagoge, war ihm schlicht ein Gräuel.

"Karadzic kam nach Sarajevo mit allen Komplexen eines Jungen vom Land", behauptet der serbisch-bosnische Schriftsteller Milos Vasic. Die alteingesessenen Hauptstädter, die "Raja", vermischten sich - unabhängig von ihrer ethnischen Zugehörigkeit - ungern mit den "Papa", den Neuankömmlingen aus der Provinz. Karadzic fühlte sich zurückgesetzt, verstoßen und entwickelte offenbar einen pathologischen Hass auf die Stadt, die er später fast vier Jahre lang von den umliegenden Bergen mit Mörsern und Granatwerfern beschießen ließ.

In einem "Sarajevo" betitelten Gedicht stellte er sich schon 1969 vor, wie die Stadt brennt und stirbt. 25 Jahre später zeigt ihn ein bekanntes Foto zusammen mit dem russischen Dichter Eduard Limonow, einem Parteigänger des rechtsradikalen Schirinowski, in einer Artilleriestellung oberhalb von Sarajevo. Soldaten feuern Granaten in die Stadt, und Karadzic spielt auf der Guzla, der einsaitigen serbischen Fiedel. Vielleicht ist es das Lied der schönen Muslimin, "die unsere Mönche bald taufen werden". Refrain: "Sarajevo, im Tal, die Serben haben dich umzingelt".

Von Beruf ist Karadzic Psychiater. In der Freizeit schrieb er schnulzige Gedichte über den Kampfgeist der Serben und Kinderbücher. Ismet Ceric, der mit ihm zwanzig Jahre lang in der psychiatrischen Klinik von Sarajevo zusammengearbeitet hat, attestierte ihm später deutliche Symptome von Neurose und Hypochondrie. Der montenegrinische Literaturwissenschaftler Marko Veskovic nannte Karadzic eine gescheiterte Existenz: "Er wollte Schriftsteller werden und wurde als Poet vom Schriftstellerverband nie ernst genommen. Er wollte reich werden und kam wegen unsauberer Geldgeschäfte für elf Monate ins Gefängnis. Er mochte schöne Frauen und musste die hässliche Liljana heiraten, weil er sie geschwängert hatte."

Späte Erkenntnisse des einen, billiger Spott des andern? Jedenfalls stieg der lange Zeit kaum ernst genommene, zurückgewiesene Arzt zum Präsidenten der Republika Srpska auf, die siebzig Prozent des Territoriums von Bosnien-Herzegowina ausmachte. Über drei Jahre lang dauerte sein Kriegsregime, unter dem Hunderttausende Muslime und Kroaten vertrieben, Hunderte von Blauhelmsoldaten der Uno als Geiseln genommen - und in Srebrenica schließlich mehr als 8 000 Muslime ermordet wurden. Erst ein halbes Jahr nach dem Friedensschluss von Dayton musste Karadzic unter dem Druck parteiinterner Kreise, die sich vor allem an der grassierenden Korruption stießen, von der sie selbst nicht profitierten, im Juni 1996 zurücktreten. Zwei Wochen später erließ das UN-Kriegsverbrechertribunal in Den Haag den Haftbefehl.

Gesucht wurde Karadzic jahrelang nur halbherzig. Das gab vielerlei Gerüchten Nahrung. Hatte man Angst, er könnte die angebliche Zusammenarbeit zwischen dem Westen und dem später gestürzten, festgenommenen und nach Den Haag überstellten jugoslawischen Potentaten Slobodan Milosevic auspacken? Wollten die französischen Militärs nicht zugreifen, weil ihr damaliger Präsident Jacques Chirac mit dem Flüchtigen einen Deal geschlossen hatte, um zwei entführte Piloten freizubekommen? Jahrelang wurde gemutmaßt, der Ex-Präsident, der die Waffen seiner Soldaten segnen ließ, lebe in einem Kloster im montenegrinisch-bosnischen Grenzgebiet oder unter Putins Protektion in Moskau.

Der gesuchte Psychiater und Poet sagte einst, er wolle nach einem Friedensschluss "die spezifische Pathologie, die dieser Krieg hervorgebracht hat, erforschen". So weit ist es nicht gekommen. Radovan Karadzic wurde in einem Vorort von Belgrad festgenommen - als Arzt für Alternativmedizin.