EVO MORALES - Verwurzelt in zwei Welten Drucken


Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 12.08.2008

Evo Morales

Die einen sehen in ihm einen ungebildeten Kommunisten, der das Land in den Abgrund führt, für die andern ist er ein Nachkomme von Túpac Katari, dem Führer der Aymara-Indianer, der im 18. Jahrhundert mit seinen 40 000 Rebellen den spanischen Kolonialherren zusetzte. Evo Morales, Präsident Boliviens, hat das Land gespalten. Das reiche Tiefland des Ostens befindet sich seit Monaten im Aufstand gegen das arme Hochland des Westens, wo die Regierung ihren Sitz hat. In dieser angespannten Situation hat Morales mitten in seiner Amtszeit das Volk befragen lassen, ob es ihn als Präsidenten noch will. Es will. 63 Prozent haben dem früheren Lamahirten, Bäcker, Trompeter und Kokapflanzer ihre Stimme gegeben, mehr als bei seiner sensationellen Wahl im Jahr 2005.



Morales, Abkömmling von Aymara-Indianern, wurde 1959 in ärmsten Verhältnissen im Hochland geboren. Vier seiner sechs Geschwister starben früh. In den 70er-Jahren zog seine Familie - wie viele aus der Region - in den Dschungel, wo sie Koka anbauten. 1991 wurde Morales zum Gewerkschaftsführer der Kokapflanzer gewählt, ein Amt, das er auch heute als Präsident noch innehat.

Nach Benito Juarez, der 1861 bis 1872 Mexiko regierte, gilt Morales als der zweite indianische Präsident Lateinamerikas. In ethnischer Hinsicht ist er ein Aymara-Indianer - oder ein Indio, wie die Weißen abschätzig sagen. In kultureller Hinsicht ist er ein Mestize, verwurzelt in zwei Welten. Den wichtigsten Teil seines Lebens hat er nicht in einer geschlossenen Aymara-Gemeinschaft verbracht, sondern unter Kokapflanzern verschiedenster Herkunft. Nicht zufällig trägt er bis heute nicht den Poncho des Indianers und nicht die Krawatte des Weißen, sondern den Strickpullover oder die Lederjacke des Gewerkschaftsführers.

Trotzdem: Morales hat die jahrzehntelange politische Herrschaft der Weißen gebrochen. Die indianischen Bauern, stets vernachlässigt und verachtet, erfahren nun eine gesellschaftliche Aufwertung. Aymara und Quechua, die wichtigsten indianischen Sprachen des Hochlandes, wurden neben dem Spanischen zu Amtssprachen erklärt. Nur der Webmaster des Präsidenten scheint dies noch nicht so recht bemerkt zu haben. Die Homepage von Evo Morales ist in zwölf Sprachen zu lesen, unter anderem in Dänisch, Schwedisch, Russisch, Arabisch und Bahasa Melayu, der Amtssprache Malaysias, aber weder auf Aymara noch auf Quechua.

© Berliner Zeitung