»Die Achse des Guten« Drucken
Thomas Schmid - DIE ZEIT 26.01.2006 Nr.5
Lateinamerika wählt links. Die neuen Führer wollen unabhängig von den USA sein

Der Affront war Kalkül. Kurz vor dem Jahreswechsel stattete Evo Morales, gerade zum Präsidenten Boliviens gewählt, seit vergangenen Sonntag nun im Amt, als erstes Fidel Castro einen Besuch ab. Der greise kubanische Diktator hatte ihm ein Flugzeug nach La Paz geschickt. Nächstes Ziel des Bolivianers war Venezuela, wo Präsident Hugo Chávez seine Revolution vorantreibt und sich dabei selbst zum Freiheitshelden, zum neuen Simon Bolivar hochstilisiert. Dann ging die Reise weiter nach Europa, China, Südafrika, Brasilien. Washington, wo sich einst jeder anständige, neu gewählte Präsident Lateinamerikas als Erstes vorstellte, stand nicht auf dem Programm. Für das Weiße Haus werde er zum Albtraum werden, kündigte der ehemalige Lamahirt, Bäcker, Musiker und Kokapflanzer an, der nach dem mexikanischen Präsidenten Benito Juárez (1858 bis 1872) nun das zweite indianische Staatsoberhaupt in der Geschichte Lateinamerikas ist.

In Lateinamerika weht ein neuer Wind. Von links. In Brasilien, dem größten und wirtschaftlich potentesten Land des Subkontinents, regiert seit 2003 Luiz Inácio Lula da Silva, ein ehemaliger Metallarbeiter, der unter der Militärdiktatur Massenstreiks organisiert hatte. In Argentinien hat im selben Jahr der Linksperonist Néstor Kirchner die Präsidentschaft übernommen. Innerhalb von wenigen Monaten wurden danach rund 2600 Verfahren gegen Offiziere und Soldaten wegen Menschenrechtsverletzungen während der Militärdiktatur (1976 bis 1983) eröffnet.
Das neoliberale Modell ist gründlich diskreditiert
In Uruguay, das 170 Jahre lang von den traditionellen Parteien der Colorados und Blancos dominiert war, gewann 2004 der Kandidat der linken Frente Amplio die Wahlen; er heißt Tabaré Vázquez. Zehn seiner Minister und Staatssekretäre haben eine Karriere als politischer Häftling hinter sich. Als erste Amtshandlung nahm Vázquez die vor Jahrzehnten abgebrochenen diplomatischen Beziehungen zur sozialistischen Insel Kuba wieder auf. In Chile, wo die Linke bereits 2000 mit Ricardo Lagos an die Staatsspitze gelangt war, wurde vor zehn Tagen die Sozialistin Michelle Bachelet, Tochter eines vom Pinochet-Regime zu Tode gefolterten Luftwaffengenerals und selbst Opfer von Folter, zur Präsidentin gewählt. Sie steht deutlich weiter links als ihr Vorgänger.
Der Trend könnte sich fortsetzen. Im April wählt Peru. In Meinungsumfragen liegt noch der ehemalige Hauptmann Ollanta Humala vorn, ein populärer und populistischer Kechua-Indianer, der sich als Antipolitiker geriert, von der Wiederherstellung des alten Inka-Reiches träumt und auf der rassistischen Klaviatur spielt. Chávez und Morales haben ihn in Venezuelas Hauptstadt Caracas jüngst öffentlich als potenziellen Amtskollegen vorgestellt.
Im Juli wählt Mexiko einen neuen Präsidenten. Die besten Chancen hat Andrés Manuel López Obrador, Bürgermeister der Hauptstadt und Kandidat der linken Partei der Demokratischen Revolution (PRD). Unter den größeren Staaten Lateinamerikas gilt nur noch Kolumbien, wo der konservative Präsident Álvaro Uribe im Mai wohl im Amt bestätigt wird, als sichere Bank für die USA.
Lateinamerika färbt sich rot. Schon einmal in der jüngsten Geschichte war der Subkontinent ziemlich einfarbig – damals allerdings tiefschwarz. In den siebziger Jahren putschten sich in zahlreichen Staaten Generäle an die Macht, mit denen die USA einen ausgesprochen herzlichen Umgang pflegten. In Washington fürchtete man den kubanischen Bazillus und die Destabilisierung der Region durch Guerillabewegungen. In den achtziger Jahren mussten die Militärs überall abdanken und zivilen Regierungen Platz machen. Doch auf wirtschaftlichem Gebiet änderte sich kaum etwas, und so ging die Dekade als »verlorenes Jahrzehnt« in die Annalen Lateinamerikas ein.
Die neuen Demokratien ächzten schon bald unter einer gewaltigen Schuldenkrise und einer galoppierenden Inflation. Sie saßen alle in der Schuldenfalle und wurden vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erbarmungslos genötigt, den »Konsens von Washington« umzusetzen: Rückzug des Staates aus der Wirtschaft, Öffnung der Märkte, Reduzierung der öffentlichen Ausgaben auch und gerade für teure Sozialprogramme. Die Finanzkrisen ließen sich trotzdem nicht aufhalten. Sie haben in Lateinamerika das neoliberale Modell gründlich diskreditiert – und mit ihm auch jene, die es vor Ort umsetzten: konservative Parteien und konservative Populisten wie den Argentinier Carlos Menem und den Peruaner Alberto Fujimori. Der Zahlungsausfall Argentiniens, der buchstäbliche Bankrott des IWF-Musterknaben im Jahr 2001 wurde zum Menetekel. Die Finanzexperten des IWF waren mit ihrem Wirtschaftslatein am Ende. Nun kamen auf dem Subkontinent nach und nach pragmatische Reformparteien und linke Populisten zum Zug, die sich vornahmen, die schlimmsten Auswirkungen der neoliberalen »Strukturanpassungspolitik« zu korrigieren.
So weit das gemeinsame Schicksal fast aller lateinamerikanischen Staaten, so weit der Grund für die aktuelle Linksentwicklung. Doch die Politiker, die sich nun in den einzelnen Ländern an die Reparatur machen, sind sehr verschieden. Grob vereinfacht, kann man von zwei Lagern sprechen: einer pragmatisch-sozialdemokratischen Linken auf der einen Seite und einer populistischen Linken mit revolutionärer Rhetorik auf der andern. Für die erste mag prototypisch der Brasilianer Lula stehen, für die zweite der Venezuelaner Chávez. Chile und Uruguay und gewissermaßen auch Argentinien, dessen Präsident allerdings oft die populistische Trommel rührt, gehören zum ersten Lager, Bolivien dagegen wird sich stärker an Venezuela und Kuba orientieren.
In der globalisierungskritischen Linken, die sich in diesen Tagen in Caracas zum Weltsozialforum versammelt, ist Chávez der neue Hoffnungsträger. Lula hingegen ist out. Als Führer der brasilianischen Arbeiterpartei hatte er lange gegen den IWF gewettert. Im Wahlkampf aber beruhigte er dann die internationale Finanzwelt, sein Land werde die Schulden weiter tilgen. Als Präsident hielt er sein Versprechen. Heute ist er gern gesehener Gast beim Davoser Weltwirtschaftsforum.
Vor zehn Monaten gab Lula bekannt, dass Brasilien den Kreditvertrag mit dem IWF nicht erneuern, sondern seinen Finanzbedarf fortan auf dem internationalen Kapitalmarkt decken werde. Brasiliens Wirtschaft boomt. Das Land ist nach den USA und der EU die drittgrößte Agrarmacht der Welt. An der Kluft zwischen Arm und Reich aber hat sich nichts geändert. Zwar hat die Regierung unter dem Slogan »Fome Zero« (»Null Hunger«) und »Bolsa Família« (»Familiengeld«) Programme gestartet, die Millionen von Menschen etwas Geld bringen. Doch sind es letztlich Almosen – willkommen, wenn man am Hungertuch nagt, aber eine nachhaltige Entwicklung, die aus der Misere heraushelfen könnte, haben sie nicht in Gang gesetzt.
Revolutionärer scheint die Situtation in Venezuela, wo Hugo Chávez den »Sozialismus des 21. Jahrhunderts« ausgerufen hat. Wie ein Phönix aus der Asche hatte der gescheiterte Putschist nach dem Zusammenbruch des traditionellen Machtsystems, in dem sich die sozialdemokratische AP und die christdemokratische Copei 40 Jahre lang die Pfründen geteilt hatten, die politische Bühne betreten. 1998 gewann er mit sensationellen 58Prozent die Präsidentschaftswahlen. In atemberaubendem Tempo peitschte er eine neue Verfassung durch, die seine Machtbefugnisse ausweitete. Das Parlament degradierte er zur Akklamationsinstanz, die Justiz unterwarf er sich verfassungswidrig, indem er missliebige Richter abberief.
Geschenke für die Armen statt Politik gegen Armut
Noch deutlicher als Lula hat Chávez das Thema Armut ins Zentrum seiner Politik gestellt. In den ausufernden Elendsvierteln bieten staatliche Supermärkte Lebensmittel zu subventionierten Preisen an. Und Millionen von Menschen haben wohl zum ersten Mal Zugang zu medizinischer Versorgung, und dies umsonst – dank 20000 aus Kuba entsandter Ärzte. Venezuela ist der fünftgrößte Erdölproduzent der Welt, und der Preis des schwarzen Goldes ist von 18Dollar pro Fass bei Chávez’ Amtsantritt auf inzwischen fast 70 Dollar gestiegen. Die Korruption ist heute mindestens so verbreitet wie früher, auch wenn Nutznießer nun nicht mehr die traditionelle Oligarchie, sondern eine neue Militärkaste ist. Aber es bleibt genug übrig, um auch die Armen zu beglücken. Eine nachhaltige Entwicklung hat Chávez damit nicht eingeleitet.
Der Demokrat Lula sucht den Ausgleich mit der Opposition, auf deren Stimmen im Parlament er angewiesen ist. Der Populist Chávez verteufelt die Opposition, verschreckt die Mittelschichten und polarisiert die Gesellschaft. Außenpolitisch führt Brasilien zusammen mit den regionalen Wirtschaftsmächten Indien, China und Südafrika die G-20 an, eine Gruppe von 20 Staaten, die vor drei Jahren die Konferenz der Welthandelsorganisation (WTO) platzen ließ, weil sie auf dem Abbau von Agrarsubventionen der reichen Länder des Nordens bestand. Venezuela schmiedet vor allem an einem engen Bündnis mit dem verarmten Kuba und dessen in Lateinamerika immer noch populären Fidel Castro.
In einem Punkt aber sind sich Lula und Chávez einig. Beiden ist daran gelegen, die Länder Lateinamerikas zusammenzuführen – und nicht zu spalten. Lula sprach bereits von einer »strategischen Achse« zwischen Venezuela und Brasilien, und Chávez verkündete – den Großen Bruder im Weißen Haus konterkarierend – die Geburt der »Achse des Guten«. All das waren keine leeren Worte. Venezuela hat in Brasilien 36 Kampfflugzeuge geordert, auf dem Energiesektor wurde eine enge Zusammenarbeit vereinbart. Mit der Linkswende Lateinamerikas erhält die wirtschaftliche Integration des Subkontinents nun einen neuen Schub.
In der vergangenen Woche beschlossen Chávez, Lula und Argentiniens Präsident Kirchner, eine rund 7000 Kilometer lange Erdölpipeline von Venezuela über Brasilien nach Argentinien zu bauen. Kostenpunkt: 20 Milliarden Euro. Venezuela kaufte im vergangenen Jahr argentinische Staatsanleihen in Höhe von fast anderthalb Milliarden Dollar auf, was Argentinien erlaubte, zu Jahresbeginn dem IWF sämtliche Schulden zurückzubezahlen. Finanziell hat Argentinien dabei nichts gewonnen, es ist nun gegenüber Venezuela verschuldet, aber die lästige Einmischung des IWF los. Vermutlich wird Venezuela, dessen Devisenreserven über 30 Milliarden Dollar betragen, bald auch Bolivien von den IWF-Kontrolleuren befreien.
Natürlich zeichnen sich im »roten« Lateinamerika auch Interessenkonflikte ab. Aber vorerst hat die Linkswende auf dem Subkontinent das US-amerikanische Projekt einer Freihandelszone von Alaska bis Feuerland (in der spanischen Abkürzung: Alca) gestoppt. Vor allem Brasilien und Argentinien wollen ihre Märkte nicht weiter öffnen, solange die USA – einem Urteil eines Schiedsgerichts der WTO zum Trotz – ihre Farmer mit Milliarden von Dollar subventionieren, um auf dem Weltmarkt die südliche Konkurrenz zu schlagen.
Chávez’ Alternative zu Alca heißt Alba (auf Deutsch: Morgenröte). Es ist die Abkürzung für Bolivarianische Allianz für Amerika. Der Revolutionär von Caracas redet von einer künftigen Wirtschaftsgemeinschaft, die auf Solidarität und nicht auf Konkurrenz beruhe. Mit der wirtschaftlichen Realität hat Chávez’ Pathos wenig zu tun. Doch egal, was aus seiner »Morgenröte« wird: Eine Öffnung der lateinamerikanischen Märkte zu US-Konditionen wäre fatal. Die asiatischen Tiger-Staaten und auch China haben ihre Marktposition nur deshalb errungen, weil sie einen protektionistischen Kurs fuhren, bis sie gefestigte Wirtschaften hatten, die sie dann der internationalen Konkurrenz mit kalkulierbarem Risiko aussetzten.
Die USA haben das Projekt Alca abgeschrieben. Sie setzen – auch unter dem Druck ihrer Farmer – auf bilaterale Abkommen. Wirtschaftlich hat Lateinamerika für die USA an Bedeutung ohnehin eingebüßt. Für die amerikanischen Multis ist der ostasiatische Markt mit seiner gestiegenen Kaufkraft und dem enormen Finanzbedarf allemal interessanter als der lateinamerikanische. Zudem: Brasilien zahlt seine Schulden, und Venezuela liefert nach wie vor 70 Prozent seines Erdöls in die USA, die damit 15 Prozent ihres Bedarfs decken. Es drohen weder die Enteignung von US-Kapital noch die Verstaatlichung ausländischer Konzerne.
Auch sicherheitspolitisch bedeutet die Linkswende Lateinamerikas für die USA keine Gefahr: Die Zeiten, in denen eine feindliche Supermacht 90 Meilen vor den Küsten Floridas einen Satellitenstaat alimentierte und im Hinterhof der USA Guerillas bewaffnete, sind vorbei. Die Sowjetunion gibt es nicht mehr, und in Kuba, einst Leuchtfeuer der Revolution, gehen wegen Energiemangels regelmäßig die Lichter aus. Zudem sind für die neuen Protagonisten Lateinamerikas – Brasilien und Venezuela – die USA noch immer der wichtigste Handelspartner. Und erst recht gilt dies für Mexiko, wo der Volksmund klagt: »So fern von Gott und so nah den Vereinigten Staaten.«
Aber der Linksruck Lateinamerikas zeigt doch das Bestreben, sich wirtschaftlich und politisch von den Vereinigten Staaten zu emanzipieren. Kuba, jahrzehntelang Schmuddelkind, wird wieder in die lateinamerikanische Familie aufgenommen. In der WTO bietet Brasilien den USA Paroli. All dies zeugt vom neuen Selbstbewusstsein des Subkontinents. Venezuela wird zwischen Karibik und Anden an Einfluss gewinnen. Brasilien wird aber schon allein aufgrund seiner Größe und Wirtschaftskraft eine politische Führungsrolle zukommen.
»Amerika den Amerikanern!«, verkündete US-Präsident James Monroe vor 183 Jahren. Er warnte damit das konservative Europa vor einer Einmischung in die lateinamerikanischen Unabhängigkeitskriege zugunsten Spaniens, und er gab ihnen zu verstehen: Lateinamerika den USA. Es sieht ganz danach aus, dass die Monroe-Doktrin, Inbegriff der Arroganz der Macht des Nordens gegenüber dem Süden, bald der Geschichte angehört.