Politik als Rettungsanker Drucken
Thomas Schmid, Berliner Zeitung 09.10.2009

Stellen wir uns vor: Angela Merkel tätschelt vor laufender Kamera einem jungen Schauspieler den Po, reißt öffentlich schlüpfrige Witze, lässt sich einen Callboy ins Bett bringen, mokiert sich über Obamas Hautfarbe, lästert, sie interessiere nicht, was Horst Köhler von sich gebe, und schreit dann: "Lang lebe Deutschland! Lang lebe Angela Merkel!" Wir hielten sie für übergeschnappt, einen Fall für die Psychiatrie. Jedenfalls verlöre sie die Unterstützung ihrer Partei und wäre ihren Job los.

Oder versetzen wir uns ins Jahr 2005 zurück: Oppositionsführerin Angela Merkel besitzt RTL, Sat.1, ProSieben und Vox. Den Verlag Gruner und Jahr, der den "Stern" herausgibt, konnte sie sich nur unter den Nagel reißen, weil drei ihrer engsten Mitarbeiter einen Richter bestachen. Außerdem war oder ist sie in ein Dutzend Strafprozesse verwickelt. So eine wäre in Deutschland nie Kanzlerin geworden.

Es geht um Italien. Berlusconi wurde - mutatis mutandis - unter den genannten Bedingungen Premierminister. Und bislang hat ihn keiner der diversen Sex-Skandale aus dem Amt hebeln können. Erst recht nicht die Strafverfahren. Vor solchen schützte ihn zuletzt die Immunität - bis vorgestern, bis das Verfassungsgericht sie aufhob. Nicht, weil es eine Immunität generell ablehnt. Schon vor fünf Jahren haben Italiens Verfassungshüter explizit festgehalten, dass ein Regierungschef vor juristischen Schritten gegen seine Amtshandlungen geschützt werden muss. Bestechung, Bilanzfälschung, Steuerbetrug und Meineid - alles Straftatbestände, deretwegen Berlusconi sich vor der Justiz verantworten musste - hätten sie damals wohl nicht als Amtshandlungen taxiert.

Konkret warfen die Verfassungsrichter dem Ministerpräsidenten nun vor, dass er sich die Immunität über ein verfassungswidriges Gesetz statt über eine hierzu notwendige Verfassungsänderung gesichert habe. Doch für eine solche reichte im vergangenen Jahr offenbar die Zeit nicht mehr. Berlusconi hatte gerade sein Amt angetreten, als es für ihn wirklich brenzlig wurde und er wegen Bestechung eines Zeugen eine Gefängnisstrafe riskierte. So hatte er kurzerhand ein Gesetz verabschieden lassen, das dem Ministerpräsidenten, also ihm, Immunität zusicherte.

Bis 1993 galt auch in Italien die Immunität für Parlamentarier und Minister. Doch sie ging mit der sogenannten ersten Republik unter. Damals ermittelte die Mailänder Staatsanwaltschaft wegen Korruption in den Steuerbehörden und wegen illegaler Parteienfinanzierung. Tausende von Haftbefehlen gegen Lokalpolitiker und Minister, Steuerprüfer, Bankiers und Industriemanager wurden ausgestellt. Der Skandal war so groß, dass die Immunität unter dem Druck der Öffentlichkeit vom Parlament selbst aufgehoben wurde. Die Christdemokratische Partei, die das Land über vier Jahrzehnte lang regiert hatte, löste sich in Luft auf.

Aus den Trümmern der ersten Republik tauchte wie ein Phönix aus der Asche Silvio Berlusconi auf. Damals schon wurde gegen Topmanager seiner Firma wegen Bestechung ermittelt. Er selbst geriet immer mehr ins Visier der Staatsanwälte. "Ich bin gezwungen, in die Politik zu gehen", sagte Berlusconi in jenen Tagen zu Indro Montanelli, dem Doyen des italienischen Journalismus, "denn andernfalls werden sie mich ins Gefängnis werfen." Wahrscheinlich war es die nackte Wahrheit. Im Januar 1994 gründete er seine Partei "Forza Italia". Zwei Monate später gewann er die Wahlen, wurde Premier und missbrauchte schon bald das Amt, um sich aus den Fängen der Justiz zu befreien. Bilanzfälschung wurde zum Delikt herabgestuft, Verjährungsfristen wurden verkürzt.

Seit jener Zeit steht Berlusconi mit der Justiz auf Kriegsfuß. Die Richter schimpfte er immer wieder rote Roben. Und gestern kündigte er an, er werde Italien und die Italiener vor dieser Linken retten, "die sich des Verfassungsgerichts bemächtigt hat". Dieses hat ihm nun einen Strich durch die Rechnung gemacht. Berlusconi wird sich wegen Steuerbetrug und Zeugenkauf wieder vor den Schranken der Justiz verantworten müssen. Er wird - wie immer - auf Zeit spielen und auf Verjährung setzen. Das Kalkül könnte aufgehen, zumal der brisanteste Prozess, vor dem er sich im vergangenen Jahr nur mit dem verfassungswidrigen Gesetz rettete, aus verfahrenstechnischen Gründen völlig neu aufgerollt werden muss.

In jedem anderen Land der Europäischen Union hätte der Premierminister bei einer solchen Faktenlage den Hut genommen. Doch Berlusconi wird nicht aufgeben, jedenfalls so lange nicht, wie ihn seine Koalitionspartner aus eigenem strategischen Kalkül stützen. Von der parlamentarischen Linken hat er nichts zu befürchten. Sie ist in einem desolaten Zustand. So könnte sich die Auseinandersetzung um Berlusconi schon bald auf die Straßen und Plätze Italiens verlagern. "Ich werde den Italienern zeigen, aus welchem Holz ich geschnitzt bin", kündigte der Ministerpräsident gestern an. Beruhigend für die einen - eine Drohung für die anderen.

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