Epochenwandel in der Türkei Drucken

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 03.08.2011

 

In der Türkei ist am Wochenende eine Ära zu Ende gegangen. Der kollektive Rücktritt der Armeeführung bedeutet faktisch die Kapitulation der Generäle vor Recep Tayyip Erdogan. Der Ministerpräsident und Parteichef der islamisch grundierten AKP wird eine ihm genehme Armeeführung berufen. Das ist neu. Bislang haben die Militärs die Besetzung ihrer Spitzenpositionen selbst geregelt oder dabei mindestens ein entscheidendendes Wörtchen mitgeredet.

 

 


88 Jahre lang, seit der Gründung der modernen Türkei durch Mustafa Kemal Atatürk, haben die Militärs die Politik diktiert, direkt beeinflusst oder überwacht. 1960, 1971 und 1980 putschten sie, 1997 drängten sie den Regierungschef auf kaltem Weg aus dem Amt. Und als Erdogan, seit 2003 Ministerpräsident, ihnen die Stirn bot, schmiedeten hohe Offiziere im Verein mit Geheimdienstlern und nationalistischen Hitzköpfen offenbar einen Plan zu seinem Sturz.

Wegen dieser Verschwörung müssen sich rund 250 Offiziere vor Gericht verantworten, 42 Generäle sitzen im Gefängnis. Erdogan widersetzte sich der Beförderung angeschuldigter Offiziere - für die Armeespitze ein Affront, den sie mit dem kollektiven Rücktritt quittierte. Es war ein letztes Zucken der Generäle vor ihrem Abschied von der politischen Bühne.

Damit geht ein jahrelanger Machtkampf zu Ende, den die Militärs der Öffentlichkeit gerne als Auseinandersetzung zwischen säkularer Republik und islamischer Theokratie verkauften. Es war jedoch ein Machtkampf zwischen der alten kemalistischen Elite, verwurzelt in der Armee, der Justiz und der heutigen Oppositionspartei CHP, und einer aufstrebenden anatolischen Bourgeoisie und konservativer Mittelschichten, die ihre politische Vertretung in der AKP gefunden haben.

Noch nie herrschte in der Türkei so viel Demokratie wie unter der angeblich islamistischen Regierung. Die Presse ist frei, die Kurden haben ihr eigenes Fernsehprogramm, gefoltert wird nicht mehr, und selbst das Tabu des Genozids an den Armeniern ist gebrochen - alles dank Erdogan. Seine gesellschaftliche Akzeptanz beruht wohl mehr auf seinen ökonomischen Erfolgen als auf seinem täglichen Gebet. Unter seinem Regime ist die Türkei zu einer boomenden Wirtschaftsmacht herangewachsen, die auch eine zunehmend selbstbewusste Außenpolitik betreibt.

Ermutigt von seinen Erfolgen hat Erdogan im vergangenen Jahr mit Hilfe eines Referendums die alte Verfassung, ein Produkt des Putsches von 1980, in einigen Punkten revidieren lassen. Seither können Militärs vor die zivile Justiz gestellt werden. Mit der gleichen Verfassungsreform gelang es dem Premier aber auch, die Justiz unter die Kontrolle der Exekutive zu bringen. Im Parlament verfügt Erdogan über eine bequeme absolute Mehrheit. Die Gewaltenteilung droht zur Farce zu werden. Die damit verbundenen Gefahren sind nicht mehr zu übersehen: Die Presse ist frei, aber 70 Journalisten sind zum Teil unter abenteuerlichen Anklagen in Haft. Endlich wird konspirativen Offizieren der Prozess gemacht - aber in einigen Fällen aufgrund offenkundig manipulierter Aktenlage. In der Kurdenpolitik vollführte Erdogan manchen Rückzieher. Die neue selbstbewusste Türkei hat einen selbstgefälligen Ministerpräsidenten, der immer deutlicher autoritäre Züge annimmt.

So droht die Türkei nach der Abschüttelung der militärischen Vormundschaft in einen neuen Autoritarismus abzugleiten. Noch gibt es keine zivile Kraft, die sich glaubhaft als Machtalternative präsentieren könnte. Andererseits hat die Türkei heute eine lebendigere Zivilgesellschaft denn je. Aus ihr könnte durchaus der politische Druck kommen, der eine weitere politische Öffnung erzwingt.

Um die demokratischen Errungenschaften abzusichern, braucht die Türkei eine neue Verfassung, die Erdogan auch schon angekündigt hat. Noch ist allerdings offen, ob der Premier sie in seinem eigenen politischen Lager ausarbeiten und danach plebiszitär verabschieden lässt oder ob er die politische Opposition und die Zivilgesellschaft einbindet, um einen neuen Gesellschaftsvertrag zu schaffen.

Eine demokratische Türkei müsste schließlich auch jene vor Gericht stellen, die für die Folterung von Hunderttausenden nach dem Putsch von 1980 verantwortlich sind. Vielleicht gelingt es dann auch, Atatürk, dessen Porträt in allen Kasernen, Schulen, Restaurants und Frisierstuben hängt, neu zu bewerten - den Mann, dessen unbestreitbar große Leistung in der Schaffung der modernen Türkei aus den Ruinen des Osmanischen Reiches bestand, der aber auch den Kemalismus mit seiner Armee als Staat im Staate begründet hat: den Kemalismus, der am Wochenende beerdigt wurde.

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