Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 17.12.2012
Am Schluss ging alles ganz
schnell. Am 30. November peitschten die Islamisten im Eilverfahren ihren
Entwurf einer neuen Verfassung durch. Am 1. Dezember erklärte Präsident
Mohammed Mursi, in zwei Wochen werde über diese abgestimmt. Gestern
strömten die Ägypter zu den Urnen. Die Islamisten marschieren durch.
Weshalb diese Eile? Eine Verfassung ist doch ein
Gesellschaftsvertrag, in dem sich die Bürger auf die Regeln einigen,
unter denen sie zusammen leben wollen. Sie bedarf einer öffentlichen
Debatte. Aber in Ägypten stimmt nun ein Volk, das fast zur Hälfte aus
Analphabeten besteht, über eine Verfassung ab, die eine übergroße
Mehrheit der Bürger gar nicht kennt. Doch Mursi weiß, dass er jetzt
auf mehr Zustimmung hoffen darf als in einem Jahr, wenn die Ägypter
merken, dass es ihnen wirtschaftlich noch schlechter gehen wird als
heute - und noch viel schlechter als vor der Revolution, vor dem
Sturz Mubaraks.
Sinnvollerweise beschränkt sich eine Verfassung
bei der Festlegung der Regeln und der Formulierung von Zielen
darauf, worauf sich eine übergroße Mehrheit der Bevölkerung
einigen kann. Eine Verfassung ist kein Parteiprogramm. Das scheinen die
Muslimbrüder zu verkennen. Auch der Präsident. Bei Amtsantritt hat er
zwar den Vorsitz der Freiheits- und Gerechtigkeitspartei, der Partei
der Muslimbrüder, abgegeben, aber er begreift sich offenbar
weiterhin als deren Präsident und nicht als Präsident der Ägypter.
Wie anders ist zu erklären, dass er vor seinen Anhängern die
Opposition als "schädliches Gewürm" bezeichnet? Das erinnert an
Gaddafi, der von Ratten sprach. Was man mit Gewürm, Ratten und
anderem Ungeziefer macht, ist bekannt.
Mubarak hat sein Volk in der
Opposition geeint. Mursi spaltet es. Und die Revolutionäre vom
Tahrir-Platz fühlen sich um ihre Revolution betrogen. Ihre
Rebellion, die sie über 800 Todesopfer kostete, war ein Aufstand
für ein Leben in Würde und Freiheit. Jetzt setzen ihnen die Islamisten,
Trittbrettfahrer der Revolution, eine Verfassung vor, die den
Ungeist des Islamismus und des überkommenen Autoritarismus
verbindet. Das islamische Recht, die Scharia, ist - wie schon unter
Mubarak - die wichtigste Quelle der Gesetzgebung, was so
interpretationsbedürftig ist wie vorher auch. Nur heißt es jetzt in
der Verfassung: "Die hohen Gelehrten der Azhar müssen in Fragen der
islamischen Rechtssprechung konsultiert werden." Die
al-Azhar-Universität ist der Sitz höchster sunnitischer Gelehrsamkeit.
In laizistischen Kreisen geht die Angst vor einer Theokratie um.
Doch davon ist Ägypten noch weit entfernt. Anders als die Schiiten
im Iran kennen die Sunniten keinen eigentlichen Klerus, der Träger
politscher Macht sein könnte. Und gegen eine Herrschaft der
Salafisten, die in Ägypten immerhin 25 Prozent der
Wählerstimmen eingeheimst haben, würden sich auch die Muslimbrüder
wehren, die ihren alten Radikalismus abgelegt haben und sich in einem
Prozess der Entideologisierung befinden. Ihre Partei ist
heute trotz ihres religiösen Diskurses weitgehend pragmatisch
orientiert, konservativ sowieso.
Viel größer als die Gefahr
einer Theokratie ist jene eines neuen Autoritarismus. Die ägyptische
Gesellschaft ist weit konservativer als uns die Fernsehbilder in der
Regel weismachten. Wir sahen im arabischen Frühling Hunderttausende
Jugendliche, die auf dem Tahrir-Platz Kopf und Kragen riskierten. Die
Millionen Ägypter, die in den riesigen Schlafstädten Kairos und auf dem
Land leben, blieben im Schatten. Auf ihr Bedürfnis nach Ruhe
spekuliert Mursi. Wenn die Verfassung plebiszitär durchkommt, soll
es Wahlen geben, dann endlich Normalität herrschen.
Die Opposition
stellt die Grundlage dieser angestrebten Normalität infrage.
Sollte sie nach der gestohlenen Revolution aber eine zweite versuchen,
werden die Muslimbrüder ihre Anhänger mobilisieren - zum Schutz der
Verfassung. Und im Notfall könnte die Armee eingreifen. Nicht, um die
Macht zu übernehmen. Die Generäle wissen, dass sie kein Rezept für die
Überwindung der sich verschärfenden Krise haben. Und sie
wissen auch, dass sie von einer Demokratie, von der die Revolutionäre
träumen, mehr zu befürchten haben als von den Muslimbrüdern.
Schließlich wird in der neuen Verfassung die Machtposition der
Armee, die ungefähr ein Drittel der ägyptischen Wirtschaft kontrolliert,
nicht angetastet. Oberkommandierender der Streitkräfte ist
weiterhin der Verteidigungsminister, der aus den Reihen der
Offiziere ernannt wird. Und das Budget der Armee entzieht sich jeder
parlamentarischen Kontrolle. Es scheint ein uneingestandenes Bündnis
zwischen Militärs und Muslimbrüdern zu geben. Schlechte Zeiten für
Revolutionäre.
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