Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.06.2013
Nach dem Ausbruch des arabischen Frühlings sprachen
die tunesischen und ägyptischen Islamisten, Trittbrettfahrer
der Revolution, gern vom türkischen Modell. Die Türkei stand für den
geglückten Versuch, die Religion und ein modernes Staatswesen zu
vereinen. Die AKP, die Partei des Ministerpräsidenten Recep Tayyip
Erdogan, schien eine Art türkischer CSU, eine demokratische Partei mit
religiöser Grundierung.
Nun aber wollen offenbar immer mehr Türken
vom türkischen Modell nichts mehr wissen. Ein kleiner Protest gegen das
Fällen einiger Bäume ist innerhalb weniger Tage zu einer
Massenbewegung gegen das Regime angewachsen. Und in Dutzenden
türkischen Städten hört man die Parole, die an die Jasmin-Revolution von
Tunesien erinnert: "Tayyip, hau ab!" Ist der arabische Frühling
nun auch in der Türkei angekommen?
Nein, so einfach ist es nicht.
Anders als Ben Ali oder Mubarak übt Erdogan demokratisch legitimiert
seine Macht aus. Und anders als unter den vertriebenen Despoten
Nordafrikas gibt es in der Türkei eine demokratische Öffentlichkeit, die
sich artikulieren kann, auch wenn die Presse immer wieder kujoniert
wird. Man kann demonstrieren, auch wenn man den Einsatz von
Gummiknüppel und Tränengas riskiert. In Tunis und Kairo wurde
geschossen. Das ist schon ein Unterschied.
Und doch haben die
Demonstrationen von Tunis, Kairo und Istanbul etwas gemeinsam: Es ist
ein Protest gegen staatliche Gängelei, gegen Machtanmaßung,
gegen Eingriffe des Staates in die Privatsphäre. Dafür stehen als
Beispiele die Einschränkung des Verkaufs alkoholischer Getränke oder
die Aufforderung des Bürgermeisters von Ankara an seine Untertanen,
sich gefälligst wieder einer Haltung zu befleißigen, die moralischen
Werten entspricht.
Erdogan, seit zehn Jahren an der Macht, ist
dabei, sein politisches Kapital zu verspielen. Unbestreitbar hat er
viele Meriten. Er hat die putschlüsternen Militärs in ihre Schranken
gewiesen, er hat den Kurden mehr Rechte zugestanden als jeder seiner
Vorgänger. Er hat eine Politik der Aussöhnung mit Griechenland,
Armenien und Syrien in die Wege geleitet. Und vor allem hat sich
während seiner Amtszeit das Bruttoinlandsprodukt
verdreifacht.
Der Erfolg ist Erdogan, der eine fulminante
Karriere vom Wasserverkäufer zum Buchhalter einer Wurstfabrik und zum
Spitzenpolitiker hinter sich hat, offensichtlich zu Kopf gestiegen.
Spätestens seit seinem dritten Wahlsieg vor zwei Jahren, als seine AKP
mit 49,8 Prozent der Stimmen 59 Prozent der Parlamentssitze gewann, hat
seine Politik zunehmend autoritäre Züge angenommen. Musste er
sich lange Zeit gegen die Attacken der Armee und der Justiz wehren,
hat er sich diese inzwischen weitgehend gefügig gemacht.
Mit
der Machtfülle des Ministerpräsidenten ging ein Verlust des Systems
von Checks and Balances einher. Dutzende von Journalisten wurden in den
vergangenen Jahren wegen Terrorismusverdachts ins Gefängnis geworfen,
und vor zwei Wochen wurde ein armenischer Türke wegen Beleidigung des
Propheten Mohammed zu 13 Jahren Haft verurteilt.
Auch die
Außenpolitik liegt in Scherben. Die "Politik der null Probleme", die
sich vor allem an die arabischen Nachbarstaaten richtete und mit der die
Türkei zu einer Regionalmacht avancieren wollte, ist gescheitert.
Hatten Assad und Erdogan samt ihren Familien vor fünf Jahren noch
zusammen Urlaub gemacht, so unterstützt Erdogan jetzt die syrische
Opposition in einem Krieg, der immer mehr religiöse Züge annimmt:
Sunniten gegen Schiiten. Und so greift unter der Minderheit der
türkischen Aleviten, die traditionell laizistisch orientiert
sind, zunehmend Angst um sich, weil sie wie die syrischen Alawiten,
denen Assad und sein Machtklüngel angehören, als Schiiten gelten.
Diese Gemengelage von autoritärer Verhärtung des Regimes, zunehmendem
Einfluss der Religion und Angst vor den Folgen des syrischen
Bürgerkriegs erklärt, weshalb ein Protest gegen das Fällen
einiger Bäume zur Massenbewegung wurde.
Erdogan hat am Wochenende
ein Stück weit nachgegeben und den harten Einsatz der Polizei
kritisiert. Doch drohte er andererseits, er könne gegen die 200 000
Demonstranten auch eine Million mobilisieren. Vermutlich hat er damit
recht. Für die Türkei wäre es fatal. Es würde die Spaltung der
türkischen Gesellschaft vertiefen. Aber immerhin könnte Erdogan,
das Alphatier, das sich zum Sultan gewandelt hat, dann seine
Ambitionen, sich nach einer Verfassungsänderung im nächsten Jahr zum
mit neuen Vollmachten ausgestatteten Präsidenten wählen zu lassen,
wohl endgültig begraben.
©Berliner Zeitung
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