Festung Schweiz Drucken

Thomas Schmid, Frankfurter Rundschau, 10.02.2014


Es ist ein Resultat von nicht absehbarer Tragweite. Eine knappe Mehrheit der Schweizer Stimmbürger hat sich dafür ausgesprochen, die Zuwanderung von Ausländern zu beschränken. Die rechtspopulistische Schweizerische Volkspartei (SVP) hat sich damit gegen das gesamte politische Establishment durchgesetzt. Regierung und Parlament, sämtliche anderen großen Parteien wie auch Gewerkschaften und Arbeitgeberverbände hatten sich für ein Nein zur SVP-Initiative ausgesprochen.



Anders als bei früheren Volksabstimmungen hat die größte Partei der Schweiz diesmal keine aggressive, offen xenophobe Kampagne geführt. Hatte sie einst das Land mit Plakaten zugekleistert, auf denen sich schwarze Schafe unter die weißen helvetischen Schafe mischen oder schwarze Stiefel über die rot-weiße Schweizer Flagge marschieren, gab sie sich diesmal gesitteter.

Als wichtigste Argumente gegen eine „Masseneinwanderung“ führte die SVP nun überfüllte Züge, verstopfte Straßen und steigende Mieten ins Feld. Davon ist anders als von Ausländerkriminalität und Asylmissbrauch, den bisherigen Keulen der Rechtspopulisten, so gut wie jeder Eidgenosse betroffen. Dass auch immer mehr Schweizer im Zug zwischen Zürich und Bern pendeln, mehr Schweizer Auto fahren, mehr Schweizer mehr Wohnraum wollen, davon war in der Kampagne nicht die Rede. Die SVP machte ein anderes Kalkül auf: Im vergangenen Jahr ist die ausländische Wohnbevölkerung der Schweiz um 83.000 angestiegen. Das ist so viel, wie die Stadt Luzern Einwohner hat, und Luzern gehört zu den schönsten Städten des Landes. Noch! Wenn es so weiter geht, so plakatierten die Rechtspopulisten landauf landab, werden in der kleinen Schweiz 2060 über 16 Millionen Menschen leben, doppelt so viel wie heute, und in ihrer Mehrheit – horribile dictu – Ausländer.

Das Volk hat gesprochen. Es verlangt Höchstzahlen und Kontingente für Zuwanderer. Und nun muss die Regierung – innerhalb von drei Jahren – ausführende Gesetze ausarbeiten, die geltenden Verträgen widersprechen werden.

In den bilateralen Abkommen zwischen der Schweiz und der Europäischen Union haben beide Seiten eine Personenfreizügigkeit vereinbart. Seit 2002 dürfen die Bürger der „alten“ 15 EU-Staaten in der Schweiz arbeiten und Wohnsitz nehmen. Vom kommenden Juni an – so war vereinbart – auch die Bürger von acht osteuropäischen Staaten, die später zur EU gestoßen sind, und 2019 schließlich auch Rumänen und Bulgaren.

Drei Jahre lang auch hat nun die Schweizer Regierung Zeit, mit der EU ein neues Abkommen auszuhandeln. Dass die EU von ihrer Forderung nach Personenfreizügigkeit abrückt, scheint allerdings wenig wahrscheinlich. Wenn aber das geltende bilaterale Abkommen gekündigt wird, werden sechs Monate später automatisch fünf weitere Abkommen außer Kraft gesetzt. Die EU hatte damals auf dieser sogenannten „Guillotine-Klausel“ bestanden. Man wollte verhindern, dass die Schweizer nur die Rosinen picken, sich den Zugang zum europäischen Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Kunden sichern, ohne relevante Gegenleistungen zu erbringen. Auch die anstehende Erneuerung laufender Abkommen und die Aushandlung neuer wird nun sicher nicht leichter. Es droht eine Eiszeit im Verhältnis zwischen der EU und der Schweiz.

Die EU sitzt – das haben zuletzt die Verhandlungen über den Luftverkehr klar gezeigt – letztlich am längeren Hebel. Die Schweiz ist auf die EU mehr angewiesen, als diese auf jene. 60 Prozent ihrer Exporte wickelt sie mit der EU ab. Ihren wirtschaftlichen Erfolg hat sie auch der Verzahnung mit der EU zu verdanken. Aber viele Eidgenossen, mehr in der deutsch- und italienischsprachigen Schweiz als in der französischsprachigen, mehr auf dem Land als in den Städten, haben mehr Angst vor Überfremdung und Fremdbestimmung als vor einer unsicheren wirtschaftlichen Zukunft.

Wer sich hierzulande über die Angst vor Überfremdung mokiert, sollte zumindest bedenken, dass in der Schweiz der Ausländeranteil an der gesamten Wohnbevölkerung mit 23 Prozent fast dreimal höher ist als in Deutschland. Und was die Fremdbestimmung betrifft, machen sich die Schweizer zu Recht sorgen. Immer mehr Verordnungen und Gesetze, die in Brüssel beschlossen werden, müssen sie schlicht übernehmen.

Dieses Verfahren heißt in der Eidgenossenschaft ganz offiziell „autonomer Nachvollzug“. Es ist ein Euphemismus, weil der Nachvollzug nur dem Schein nach autonom ist. Mitzubestimmen hat zudem die Schweiz in Brüssel gar nichts, weil sie der EU nicht beitreten wollte.


Und heute erst recht nicht will. In Zeiten der Euro-Krise würden Beitrittsgegner jede Volksabstimmung glatt gewinnen. Im EU-Apparat gibt es ein evidentes Defizit an demokratischer Kontrolle. Den Schweizern aber ist ihre direkte Demokratie heilig. Das Parlament kontrolliert die Regierung, und die Bürger kontrollieren notfalls beide. Ob sie am Sonntag gut entschieden haben, steht auf einem andern Blatt. Die Schweizer stehen früh auf, heißt, und sie erwachen spät. Im vorliegenden Fall könnte es ein böses Erwachen werden.


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