"Arbeitet gut - oder wir kommen wieder!" Drucken

Thomas Schmid, WELTWOCHE, 12.10.2000*

Der Bürgermeister von Cacak, einer Stadt im Herzen Serbiens, will den Sturm auf das Belgrader Parlament organisiert haben. Jetzt lässt er sich als Volksheld feiern

Schritt für Schritt nähert sich der bullige Mann im Trainingsanzug ganz allein der Falange gut ausgerüsteter Polizisten, die Arme leicht angewinkelt, den Kopf zwischen die Schultern geklemmt, als ob er gleich wie ein Stier die uniformierte Reihe rammen wollte. Doch dann hebt er nur kurz den Kopf und sagt: „Würden Sie bitte die Barrikade aus dem Weg räumen.“

Keine Reaktion. „Noch haben Sie Zeit, die Seite zu wechseln“, mahnt der Mann und schaut den Polizisten in die Augen. Einem nach dem andern. Schweigen. „Räumen Sie die Barrikade weg“, wiederholt der Mann, „sonst machen wir es.“ Kurz danach stürmt ein Dutzend kräftiger Männer heran, von blosser Hand stoßen sie die beiden Lastwagen, die die Strasse versperrt haben, in den Straßengraben. Die Polizei schaut zu, die Karawane zieht weiter. Immer Richtung Belgrad. Zehntausend Menschen aus Cacak, in Autos, in Bussen, in Lastwagen und mit ihnen ein großer gelber Sattelschlepper, der einen Bagger befördert. Sie haben ihn mitgenommen, um Barrikaden aus Sandsäcken wegzuschaufeln. Doch die Polizei hat nur Lastwagen quergestellt, und die werden auch bei der zweiten Sperrre von Hand in den Graben befördert.

Wenn der kilometerlange Autokorso hupend durch Dörfer fährt, applaudieren die Menschen am Strassenrand. Schließlich der triumphale Einzug in Belgrad. Sie sind die ersten, die zur Grossdemonstration gegen den Wahlbetrug vor dem Gebäude des jugoslawischen Parlaments eintreffen. „Wir sind die Leute aus Cacak! Wir sind die Stärksten!“ schreien sie rhythmisch. Immer mehr Menschen drängen die Stufen empor. Aus dem Innern des Gebäudes kommen Polizisten heraus. Die Lage ist bedrohlich. Dann tritt wieder der bullige Mann auf, stellt sich in die vorderste Reihe vor die Polizisten und ruft seinen Anhängern zu: „Wir kehren nicht zurück, wenn wir nicht gewinnen!“ Ein Tohubawohu bricht aus. Tränengas vernebelt das Bild. Dragan Glisovic drückt auf den Knopf. Vorführung beendet. Der Direktor von „TV Cacak“ verstaut den Video-Film über die Revolution in Belgrad in der Schublade.

Der bullige Mann heisst Velimir Ilic, wird aber von allen nur „Velja“ genannt. Es ist der Bürgermeister von Cacak. Ein unerschrockener und mutiger Mann. Hat nie ein Blatt vor den Mund genommen. Verachtete Milosevic und zeigte es auch. Rief seine Bürger schon lange zum Widerstand auf, kritisierte während der Nato-Intervention die eigene Armee und entzog sich seiner Verhaftung durch Flucht. 43 Tage lang blieb er abgetaucht - oder war „in den Wäldern“, wie er selber es etwas pathetisch ausdrückt. Nun sitzt er in seinem Büro vor der serbischen Fahne. An der Wand hängt ein Bild des Heiligen Sava, und auf dem Tisch steht ein Foto von Draza Mihailovic, dem Führer der königstreuen Tschetniks im Zweiten Weltkrieg, der von Tito wegen Kollaboration mit der deutschen Besatzungsmacht hingerichtet wurde. Cacak, eine Stadt 150 Kilometer südlich von Belgrad, mitten in der Sumadija, dem Herzen Serbiens, war eine Hochburg der Tschetniks. Nach dem Krieg hat sich Tito hier nur zweimal blicken lassen. In Cacak ist man stolz darauf, und Milosevic kam sogar nur einmal, 1992, er erntete Eier und Steine. Bei den Kommunalwahlen vor drei Wochen hat die Opposition 67 der 70 Sitze erobert, die restlichen drei fielen an Unabhängige, die Parteien des Regimes gingen leer aus.

Velimir Ilic trägt eine Trainingshose und hustet. Er fühle sich noch immer sauschlecht, entschuldigt sich der Held vom vergangenen Donnerstag, „sie haben eine Gaspatrone gezündet und sie mir in die Jacke gesteckt.“ Und wieder prustet er los, als wolle er die Lunge aus dem Leib kotzen. „Es war kein Tränengas, es war Kampfgas“, behauptet der Bürgermeister schliesslich, „ein Gas, das nicht nur die Schleimhäute, sondern auch die Atemwege angreift, wir werden das untersuchen lassen.“ Er sieht sehr abgekämpft aus. Es ist schließlich alles erst drei Tage her, und er hat seither kaum geschlafen. Vor vier Tagen hatte er die Sitzung des Gemeinderats mit den Worten beschlossen: „Sieg oder Tod“.

Was sich in Belgrad vor einer Woche abspielte, war kein spontaner Volksaufstand. Die Erstürmung des Parlaments, die schliesslich in einen Machtwechsel mündete, war nicht der Europhie des Moments geschuldet. „Es gab einen Plan“, erklärt Ilic, „und den kannten in allen Details nur fünf Leute zwei Polizisten aus Cacak, zwei Polizisten einer Elite-Einheit in Belgrad und ich.“ Etwa weitere hundert Personen hätten gewusst, dass es einen Plan gibt und ihren eigenen Part in etwa gekannt. Zum Sturm auf das Parlament habe er in Cacak eine Gruppe von Profis rekrutiert: sechs Fallschirmspringer, einige Angehörige einer Eliteeinheit der Polizei des Innenministeriums, Karate- und Judokämpfer - insgesamt eine Gruppe von etwa 20 Personen. Sie standen in der vordersten Reihe, es war die Speerspitze der Revolution.

Seit einem Jahr etwa wurde in Gesprächen mit Leuten an Schlüsselstellen ausgelotet, ob und wie man das Regime stürzen könne, so Ilic weiter, seit vier Monaten haben wir vertrauenswürdige Leute in der Polizei und bei der Armee kontaktiert. Kärrnerarbeit weitab der öffentlichen Wahrnehmung. Aber sie hat Früchte getragen: „Hohe Polizeioffiziere stellten uns am Donnerstag Walkie-Talkies zur Verfügung, damit wir den Polizeifunk mithören konnten. Ja, sie nannten uns sogar den günstigsten Zeitpunkt, an dem wir einen Teil der vielhunderttausendköpfigen Demonstration zum Gebäude des Staatsfernsehens lenken sollten.“ Sie hätten alle Befehle des Innenministeriums gekannt und auch gewusst, ob die Polizei Schiessbefehl hatte oder nicht, behauptet der Bürgermeister. Schon Tage vor dem grossen Ereignis postierte sich die Staatssicherheit vor seinem Haus und durchsuchte die Autos seiner Besucher. Zuletzt verbrachte er der hochgefährdete Mann jede Nacht woanders. „Die Zeit drängte, wir mussten handeln“, resümiert Ilic, „wir waren bereit, für die Sache zu sterben. Aber wir verlangen deswegen nun keine Ministerposten. Unsere Botschaft an die neue Regierung lautet: Macht eure Arbeit gut, sonst ziehen wir Leute aus Cacak morgen gegen euch nach Belgrad.“

In Miokovci, einem kleinen Dörfchen zehn Kilometer ausserhalb von Cacak, wird die Machtübernahme gefeiert. Das Festzelt steht, Spanferkel mit kross gebratener Schwarte wird serviert, und der Slibovic, der serbische Pflaumenschnaps, fliesst reichlich - pur oder mit heissem Wasser und Zucker zum Punsch aufbereitet. Draußen auf dem Vorplatz tanzen Alt und Jung einen Kola, den traditionellen Reigentanz. Ein Bauer mit Militärmütze schwenkt eine riesige Nationalfahne. Leute liegen sich in den Armen. „Schiveli“ - „Prost auf den Sieg.“ Radojica Sretenovic, Vorsitzender der „Neuen Demokratie“, einer der vielen oppositionellen Parteien, hat sich in den Sonntagsstaat geworfen. Als Kleinunternehmer gehört er immerhin zu den Dorfnotabeln. „Wenn die Nato nicht angegriffen hätte“, behauptet er, „wäre Milosevic schon im Mai des vergangenen Jahres erledigt gewesen.“ Objektiv habe der Westen dem Diktator geholfen, die Opposition gesellschaftlich zu isolieren. Mag sein. Aber was hat diese serbische Opposition denn gemacht, als acht Monate vor dem Nato-Angriff 300.000 ihrer albanischen Mitbürger aus ihren Dörfern vertrieben wurden? Nichts. Ein schwieriges Problem, meint Sretenevic, das sich nun, wo die Demokratie einkehrt, schon lösen lassen werde. Übers Kosovo reden die Leute hier nicht gerne. Ausserdem herrscht heute Feststimmung.

Ljubodrag Grbic, der dem Slibovic nur mässig zuspricht, hat noch einen klaren Kopf. „Velja“ sei ein mutiger Mann, ein ganzer Kerl, sagt er. Der Bürgermeister habe die Aufgabe übernommen, den Sturm aufs Parlament im fernen Belgrad zu organisieren. Und er habe die Aktion sorgfältig vorbereitet und umsichtig durchgeführt. Alle Achtung! Aber die Sache sei ihm nun in den Kopf gestiegen, fürchtet Grbic, der ebenfalls der „Neuen Demokratie“ angehört. In Wirklichkeit habe ein fünfköpfiges Gremium des Oppositionsbündnisses DOS die Revolution geplant und Ilic den zentralen Part zugewiesen. „Der will jetzt wohl Präsident Serbiens werden“, vermutet der Lokalpolitiker, „doch wir brauchen keinen neuen Milosevic.“

Dragan Kovacevic ist Koordinator der DOS in Cacak. „Der Aufstand in Belgrad war nicht spontan“, bestätigt er, „das war alles geplant.“ Am Donnerstagmorgen noch wurde die Relais-Station des staatlichen Fernsehens RTS auf dem Ovcar-Berg bei Cacak von der Opposition übernommen. So konnte der lokale Fernsehsender „TV Cacak“ seinen Film vom Marsch der Zehntausend in die Hauptstadt über 40 Prozent des serbischen Territoriums ausstrahlen. Kovacevic selber gehörte zur Gruppe, die kurz nach dem Sturm auf das Parlament das Fernsehgebäude der RTS in der Hauptstadt eroberte. „Wir haben innerhalb einer Stunde ein Dutzend mal angegriffen, bis die Polizei sich schliesslich unter dem Steinhagel ins Gebäude zurückzog.“ Drei Lastwagen voll Steine hatten die Demonstranten aus Cacak in ihrer Karawane mitgebracht. „Fünf Demonstranten haben Schussverletzungen davongetragen, drinnen haben wir dann 30 Polizisten entwaffnet“, berichtet der DOS-Koordinator weiter und zeigt eine Gewehrpatrone, „Dragoljub Milanovic, den Direktor des Fernsehens, rettete ich persönlich, als ihn die nachrückende Menge zum Fenster hinauswerfen wollte, Milorad Komrakov, der Chefredakteur, wurde festgenommen und ins Stadtparlament gebracht.“ Eine Gruppe von Demonstranten drang in die Redaktion von „Politika“ ein, der auflagestärksten Zeitung des Regimes, und eine Stunde später kam schon eine Extra-Ausgabe heraus, in der dieselbe Redaktion die Machtübernahme der Opposition begrüsste.

Es gibt viele Wendehälse in diesen Zeiten. Viele haben mitgemacht oder geschwiegen, nun versuchen sie, sich irgendwie an die neuen Verhältnisse anzupassen. Das ist normal und wohl auf der ganzen Welt so. Die Helden sind überall dünn gesät. Zu ihnen zählen die Jugendlichen von „Otpor“ (Widerstand). Ihr Symbol ist die geballte Faust. Im Zentrum von Cacak findet man die Fäuste mannshoch an die Kamine der Häuser gepinselt, wo sie nicht heimlich, sondern nur in aller Öffentlichkeit übermalt werden können. Die Aktivisten von „Otpor“ wurden in den vergangenen Monaten in ganz Jugoslawien zu Tausenden zu Verhören geladen. Sie wurden in derselben Presse, die nun die Opposition hochjubelt, noch vor wenigen Tagen als faschistische Terroristen beschimpft. Zu einer Zeit, in der ganz Serbien gelähmt schien und die oppositionellen Parteien zerstritten waren, zeigten sie, dass Widerstand möglich ist.

„Natürlich gehörte etwas Mut dazu“, sagt Djordje Talovic, der mit seinen vier Ringen an der linken Hand und den zwei gepiercten Ohrläppchen in einer kleinen serbischen Stadt wie Cacak sofort auffällt. Wer getraute sich schon, wie er am helllichten Tag vor allen Leuten die Wahlplakate Milosevics mit Fäusten zu überkleben, eins nach dem andern. Als der
Student der Elektrotechnik wieder einmal von der Polizei gesucht war, liess er sich von einem Freund zum Marktplatz fahren und hielt dort eine öffentliche Rede, bis ihn Polizisten in zivil unter dem Protest der Passanten abführten. „Das serbische Volk mag eben Rebellen“, meint Talovic. Natürlich ist auch er im Tross nach Belgrad mitgefahren. Ob er vor dem Parlament Angst gehabt habe? - „Ja schon“, sagt er und schlürft seinen Kaffee aus, „wir rechneten mit Schiessereien, aber noch mehr Angst hatte ich, es könnte wieder eine von diesen Grossdemonstrationen werden, bei denen am Schluss doch nichts passiert.“

Draussen auf dem Hauptplatz vor dem Cafe dreht derweil der grosse gelbe Sattelschlepper mit dem gelben Bulldozer auf der Ladefläche wieder seine Runden. An der Antenne hängt eine grosse serbische Fahne. Im ganzen Land kennt man das Fahrzeug, mit dem die Leute von Cacak nach Belgrad gefahren sind und das vor dem Parlament in Belgrad gestanden hat, das Symbol der serbischen Revolution. „Wenn ihr Schweizer einmal einen neuen Präsidenten braucht“, hatte Velimir Ilic, der Bürgermeister zum Abschied gescherzt, dann ruft uns, „dann kommen wir - wir, die Leute von Cacak.“

*Da dies die unredigierte Fassung ist, sind geringfügige Unterschiede zum publizierten Text nicht auszuschließen