Natürlich sind andere Flüchtlinge in einer weit erbärmlicheren Lage als Sadou Djallo. Aber man muss auch die Fallhöhe in Betracht ziehen. Djallo ist Bürgermeister von Gao und besitzt dort fünf Hotels. Gao ist die größte Stadt im von Islamisten besetzten Norden Malis, und Djallo ist wie Zehntausende nach Bamako geflohen. Auch hier, in einem Außenviertel der Hauptstadt des Landes, besitzt er zwei kleine Hotels. Da sind zur Zeit vor allem Flüchtlinge untergekommen. Der Bürgermeister blinzelt durch seine randlose Brille, zupft sich am Schnäuzer und streicht das weiße Gewand glatt. Er hadert mit seinem Schicksal.
„Alles haben sie aus meinen Hotels mitgenommen“, sagt Djallo, „Betten, Lampen, Fernseher, Klimaanlagen, alles, was nicht niet- und nagelfest war.“ Auch das Bürgermeisteramt haben sie geplündert. Computer, Dienstwagen – alles gestohlen. Am 31. März dieses Jahres fiel die Tuareg-Miliz MNLA in Goa ein. Am 6. April erklärte sie den Ort zur Hauptstadt des neuen, unabhängigen Staates Azawad. Am 7. April floh Djallo.
Viele Tuareg, Angehörige eines Nomadenvolkes der Sahara, das heute in fünf Staaten beheimatet ist, hatten sich von Gaddafi als Söldner anwerben lassen und waren nach dessen Sturz schwer bewaffnet über Niger nach Mali eingesickert. Ende März kontrollierten die MNLA die nördlichen zwei Drittel des malischen Territoriums, vor allem Wüstengebiet. Doch schon längst ist sie aus allen größeren Orten vertrieben – von Islamisten. In Gao dauerten die Kämpfe zwei Tage. Seit dem 28. Juni hat die Mujao die Kontrolle über die Stadt, das Kürzel steht für „Bewegung für die Einzigkeit und den Dschihad in Westafrika“. Seither gilt in Gao die Scharia, das islamische Gesetz, jedenfall so wie es die Islamisten verstehen.
„Allein in Goa weiß ich von fünf Männern, denen wegen Diebstahls die Hand abgehackt wurde“, sagt Djallo und zeigt auf seinem Handy einen Video-Film: Ein Mann wird ausgepeitscht, ein schwarzer Jeep mit der Aufschrift „Islamische Polizei“ (auf französisch und arabisch) fährt vorbei, hellhäutige Männer schwenken ihre Kalaschnikows. „Alles Ausländer“, wettert Djallo, „Araber aus Mauretanien, Algerien.“ Doch dann tauchen auf dem Filmchen auch einige Männer auf, deren Haut so dunkel ist wie jene der Songhai, der Peul und der Bambara, die Gao bevölkern. „Es gibt bei uns viele Jugendliche, die sich kaufen lassen“, gesteht der Bürgermeister. Die Mujao zahlt ihnen 75.000 Francs, umgerechnet 115 Euro im Monat.
An Geld scheint es der Mujao nicht zu mangeln. Es stammt aus dem Geschäft mit entführten Europäern und dem Drogenhandel. Der Erste, der die Öffentlichkeit über die Existenz der islamistischen Miliz informierte, war Serge Daniel, Korrespondent von Radio France Internationale in Bamako. „Mir wurde im vergangenen Dezember eine Erklärung zugespielt“, erzählt er im Café du Fleuve, einem Treffpunkt von Intellektuellen und Künstlern, „in der eine Organisation mit dem mir bis dahin unbekannten Namen Mujao die Verantwortung für die Entführung von drei Europäern übernahm.“ Es ging um zwei Spanier und eine Italienerin, die zwei Monate zuvor in der westalgerischen Wüste verschleppt worden waren.
Der 47-jährige Journalist Daniel, geboren im westafrikanischen Benin, hat sich mit seinen Recherchen über die Islamisten in der Sahara einen Namen gemacht. Vor wenigen Wochen ist in einem französischen Verlag sein Buch mit dem Titel „Aqmi, die Industrie der Entführung“ erschienen. Aqmi ist das Kürzel für „Al Kaida im islamischen Maghreb“, eine islamistische Miliz, die in weiten Teilen des Maghreb und der Sahel-Zone agiert. Von ihr hat sich die Mujao abgespalten. „Im Jahr 23 wurden für 15 von Islamisten aus Algerien nach Mali verschleppte Europäer insgesamt fünf Millionen Euro bezahlt“, sagt Daniel, „2011 bezahlte man für drei Europäer schon 13 Millionen.“ Das Geschäft boomt. Zehn Geiseln warten in der Wüste Malis noch auf ihre Freilassung, sieben unter ihnen sind Franzosen.
Aber längst nicht jede Entführung lässt sich gütlich regeln. Etwa jeder fünfte Fall endet mit dem Tod des Opfers. Als der Franzose Michel Germaneau im April 2010 in Niger entführt und nach Mali verschleppt wurde, versuchten die französische und die mauretanische Armee in einer gemeinsamen Militäroperation, ihn auf malischem Boden zu befreien, ohne die Regierung in Bamako überhaupt zu informieren. Sie töteten dabei mindestens sieben Aqmi-Terroristen, aber fanden im überfallenen Camp das gesuchte Opfer nicht. Wenige Stunden später gab Aqmi die „Hinrichtung“ Germaneaus bekannt. Der Franzose war 78 Jahre alt, herzkrank und hatte sich in jahrelanger Arbeit für die Wüstenbewohner humanitär engagiert.
Daniel hat den Fall akribisch recherchiert. Der umtriebige Journalist war es auch, dem das einzige Foto eines seltsamen Flugzeugwracks im Norden Malis zu verdanken ist. Als im November 2009 erste Informationen über ein abgestürztes Flugzeug durchsickerten, machte sich Daniel im Geländewagen über Wüstenpisten zum Unglücksort auf – 1.300 Kilometer nördlich von Bamako. Es traf am Rand einer Sandpiste auf das Wrack eines ausgebrannten Frachtflugzeugs vom Typ Boeing 727, das aus Venezuela gekommen war. Registriert war es, wie spätere Recherchen ergaben in Guinea-Bissau, die Besatzung waren vier Kolumbianer und die Fracht bestand aus Kokain, maximal zehn Tonnen – im Wert von 300 Millionen Euro. Das Flugzeug war nicht abgestürzt, sondern gelandet und konnte aus irgendeinem Grund nicht mehr starten und wurde verbrannt. Offensichtlich war die Piste in der Wüste auch der Umschlagplatz von Kokain, das von dort auf Geländewagen gepackt durch die algerische Wüste gefahren und nach Europa gebracht wurde.
Ein Großteil des in Europa konsumierten Kokains findet den Weg von den südamerikanischen Plantagen über Afrika zu den Endabnehmern. Wichtigste Transitstation ist Guinea-Bissau, wo hochkorrupte Militärs an der Macht sind. Von dort gelangt die Droge zum Teil über Wasser, zum Teil über Land nach Europa. Eine wichtige Route führt über Mali und Algerien. Die Islamisten der Aqmi selbst sind wohl keine Drogenhändler, aber sie kassieren kräftig Wegzoll ab, weil sie die Pisten kontrollieren. „In der Regel entführen sie auch die Ausländer nicht selbst“, sagt Daniel, „es sind kriminelle Banden, die sie verschleppen und dann an die Islamisten verkaufen.“
Mit 3.300 Soldaten wollen westafrikanische Staaten die malische Armee bei der Rückeroberung des Nordens unterstützen. Die Franzosen wollen logistische Hilfe leisten, die Deutschen Soldaten ausbilden. Der UN-Sicherheitsrat wird wohl noch in diesem Jahr eine militärische Intervention autorisieren. Die Befreiung der von den Islamisten gehaltenen Städte dürfte das kleinere Problem sein. Djallo wird eines nicht so fernen Tages wohl wieder Bürgermeister sein. Man wird in Gao wieder rauchen, trinken und Musik hören dürfen. Die Islamisten aber werden sich wieder dahin zurückziehen, wo sie hergekommen sind: in die Weite der Wüste, dahin, wo die Geschäfte weiter blühen werden.
Thomas Schmid, „Berliner Zeitung“, 18.12.2012
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