GUATEMALA-STADT. Niemand würde in diesem Mann einen verurteilten Mörder vermuten. Gut gelaunt tritt er in T-Shirt und Trainingshosen aus dem Nationalpalast, dem Regierungsgebäude im Zentrum der Hauptstadt von Guatemala. Die eine Hand hält das Handy am Ohr, die andere erteilt letzte Anweisungen. Gustavo Cifuentes ist ein Energiebündel, packt gern mehrere Sachen gleichzeitig an, und doch überfallen ihn oft Zweifel, ob seine Arbeit Sinn macht. „Wir sind nur vier Leute, und es gibt übers Land verteilt 72 Gefängnisse mit insgesamt 10.700 Häftlingen“, sagt er achselzuckend und breitet seine leeren Hände aus, „was können wir da erreichen?“ Cifuentes ist Leiter des Programms für die Reintegration straffälliger Jugendlicher. Tagsüber fährt er oft zu irgendeiner Haftanstalt. Am Abend sucht er dann in der Stadt das Gespräch mit Straßenkindern und Ganoven. Und er weiß: Prävention ist noch wichtiger als Reintegration. Und deshalb tritt er immer wieder auch in Schulen auf, um die heranwachsende Generation vor einem Leben zu warnen, wie er eines geführt hat.
Gustavo Cifuentes, heute 38 Jahre alt, war Marero. Er gehörte der Mara 18 an. Die Maras sind Banden krimineller Jugendlicher, die sich um Territorien streiten, rauben, erpressen, morden. Die beiden größten und gewalttätigsten Maras, die Mara 18 und die Mara Salvatrucha (auch Mara 13 genannt), entstanden in der 18. und der 13. Straße des Stadtteils Rampart von Los Angeles. Weit über eine Million Salvadorianer und Guatemalteken waren in den 80er Jahren vor dem Bürgerkrieg in ihren Ländern in die USA geflohen. Jugendliche Flüchtlinge organisierten sich in Banden, um sich gegen Gangs der Afroamerikaner und der Hispanics zu wehren. Nach Kriegsende schoben die USA Hunderttausende Latinos in ihre Länder ab. In Mittelamerika breiteten sich nun unter den entwurzelten, in der Regel arbeitslosen Jugendlichen die Maras rasant aus. Allein in Guatemala, dem am stärksten betroffenen Staat, gibt es heute zwischen 100.000 und 200.000 Mareros.
Bevor Gustavo Cifuentes Marero wurde, gehörte er zu den rund 10.000 Straßenkindern von Guatemala-Stadt. Aber dass er sein Leben schon als Neunjähriger in Lumpen auf der Straße fristete, war untypisch für das Milieu, aus dem er stammt. Sein Vater war Oberst der Armee, seine Mutter hat drei Universitätsdiplome in Psychologie, Pädagogik und Musikwissenschaft. Die Familie wohnte in Momostenango, im Westen des Landes. „Eines Tages“, erzählt Gustavo, „sprachen meine Eltern von Scheidung und fragten mich, bei wem von beiden ich dann lieber bleiben würde. Ich war neun Jahre alt, die Frage stürzte mich in ein schreckliches Dilemma. Ich haute ab, stieg in einen Bus und kam nach fünf Stunden in Guatemala-Stadt an. Dort stromerte ich ziellos durch die Straßen, bis mir eine Gruppe von Straßenkindern Hilfe anbot, dann aber die Klamotten vom Leib zog. Aber schon bald kamen andere Kinder, schenkten mir eine Hose und ließen mich Schuhleim schnüffeln. Das war gut gegen Angst, Kälte und Hunger.“
Kaum zehn Jahre alt geworden, trat Gustavo der Mara 18 bei und begann eine kriminelle Laufbahn, die ihn in zehn Jahren 72 mal ins Gefängnis brachte, meistens nur wenige Wochen, die längste Zeit waren drei Monate. Dann aber entriss er einem amerikanischen Touristen einen Fotoapparat. „Der Gringo war Diabetiker, was ich ja nicht wissen konnte, er starb unter dem Schock an Herzversagen“, berichtet Gustavo Cifuentes, „und ich wurde wegen Mords zu 30 Jahren Gefängnis verurteilt.“ Es dauerte lange, bis er sich im Knast von der eigenen Mara abzusetzen begann und beschloss, ein anderes Leben zu führen. Nach sieben Jahren durfte er völlig überraschend das Gefängnis verlassen. Doch der Knast, so meint er heute, rettete ihm vielleicht das Leben. Viele seiner Freunde starben bei Auseinandersetzungen mit Mitgliedern verfeindeter Maras und noch mehr wurden von der Polizei erschossen. Dann zeigt er die Narbe über seinem rechten Auge, wo man ihm eine Kugel entfernt hat. „Es war eine P 38“, sagt er knapp. Das Kürzel, das für eine Pistole der Marke Walther steht, kennt hier jedes Schulkind.
Vor dem Nationalpalast ist auch Hugo, ein Mitarbeiter von Cifuentes, mit einem Dutzend weißer Bälle eingetroffen. Sie sind für eine Schule in Villa Nueva, einem Vorort der Hauptstadt, bestimmt. Die trostlose Schlafstadt mit einer halben Million Einwohnern, von denen viele in Wellblechhütten und halbfertigen Betonbauten leben, gilt als Brutstätte der Gewalt. Bewaffnete Mareros streiten sich um Straßenzüge, fordern von Bus-Chauffeuren, Ladenbesitzern, von Fabrikarbeitern und oft auch von Schulkindern den täglichen Obolus ein. Die Leute haben Angst. Die Schule ist hinter einem hohen, verriegelten und mit Stacheldraht bewehrten Stahltor versteckt.
An den Wänden der Turnhalle hängen Plakate, die die Schüler gezeichnet haben. „Sag nein zum Alkohol!“, verkündet eines, „Das einzige Mittel gegen Aids ist der Verzicht auf sexuelle Beziehungen“, doziert ein anderes. Und auf einem dritten stehen die zehn Regeln der Maras: „Um einer Mara beitreten zu können, muss man eine Untat begehen. Um dem eigenen Tod zu entgehen, muss man einen Verräter töten…“ Die Schüler, zehn bis 16 Jahre alt, erklären die Plakate, berichten über Drogen und Prostitution, über an Aids gestorbene Verwandte und ermordete Geschwister. Werden sie dem Teufelskreis der Gewalt entrinnen? Hugo steigt auf die Bühne und hält eine Rede: „Ich sage euch, der Alkohol hat mein Leben ruiniert, ich verlor meine Freunde, trat einer Mara bei, hatte ständig Ärger mit der Polizei und habe sechs Jahre Gefängnis hinter mir. Es waren sechs beschissene Jahre.“ Dann verteilt er die weißen Fußbälle. Werden Aufklärung und Predigten nützen oder wird auch in dieser Generation die Gewalt obsiegen?
Im vergangenen Jahr wurden in Guatemala 6.500 Personen Opfer von Gewaltverbrechen. Damit ist die Mordrate des mittelamerikanischen Landes fast viermal höher als jene Mexikos, wo ein Krieg der Drogenkartelle wütet. Doch Experten schätzen, dass nur etwa 20 Prozent der Morde aufs Konto der Mareros gehen. Sandino Asturias, der 22 Jahre lang in einer von seinem Vater gegründeten Guerilla kämpfte und heute ein Forschungszentrum leitet, das sich mit Frieden, Sicherheit und Gerechtigkeit befasst, geht davon aus, dass die sogenannte „soziale Säuberung“ mehr Todesopfer kostet als die Gewaltkriminalität der Maras. Immer häufiger haben gerade Bewohner der ärmeren Viertel die tägliche Erpressung durch Straßengangs satt und beauftragen private Sicherheitsfirmen damit, für Ordnung zu sorgen. Deren Agenten tauchen in der Regel in Jeeps mit abgedunkelten Scheiben auf, entführen Mareros, töten sie und lassen sie auf einer Überlandstraße außerhalb der Stadt liegen.
Nach dem Friedensschluss von 1996, mit dem in Guatemala ein 36-jähriger Bürgerkrieg zu Ende ging, wurde die Armee drastisch reduziert. Zehntausende Soldaten wurden entlassen. Arbeitslose Offiziere gründeten Hunderte von Sicherheitsfirmen und stellten dort ihre Soldaten ein, die außer dem Handwerk des Tötens in ihrem Leben nichts gelernt hatten. Und so gibt es heute in Guatemala 12.000 staatliche und 160.000 private Polizisten. Für die Kontrolle der Sicherheitsfirmen, von denen nur ein Viertel überhaupt registriert ist, seien genau vier Beamte zuständig, sagt Asturias. Aber immerhin einen kleinen Fortschritt sieht auch der Ex-Guerillero: Nach einem neuen Gesetz darf jeder Guatemalteke nur noch drei Feuerwaffen besitzen und für jede monatlich nur noch 250 Patronen kaufen. Früher gab es keine Grenzen.
Ganze Viertel von Guatemala-Stadt sind nachts fest in Mara-Hand. In der Zona 3, dem 3. Stadtbezirk, da wo die Leute am Rande der riesigen offenen Abfallhalde leben, wird täglich geschossen. Es ist eine no-go-area – nicht aber für einen wie Gustavo Cifuentes. In zahlreichen Ecken schnüffeln Gruppen von Kindern an Plastiksäckchen. Halbwüchsige lungern herum, stehen auf, wanken dem Eindringlich entgegen – Crack ist hier weit verbreitet. Cifuentes geht auf sie zu, beschwichtigt sie mit Scherzen. Man kennt und respektiert ihn. Marta, eine elegante Frau eilt herbei, erzählt von ihren beiden toten Söhnen, die doch Engel gewesen seien, nichts Böses getan hätten. Cifuentes tröstet sie. Kaum ist sie weg, sagt er: „Den einen Sohn hat die Polizei erschossen, der andere wurde von der eigenen Mara hingerichtet. Seither verdient sie ihr Geld als Prostituierte.“
Ganze Straßenzüge liegen hier im Dunkeln. Die Hütten sind an kein Elektrizitätsnetz angeschlossen. Alfredo, ein Mittfünziger, arbeitet im Schein einer Handlaterne. Er repariert vor seiner Hütte Fernseher, die er auf der Müllhalde, wo über tausend Menschen ihr Geld verdienen, gekauft hat. Im hinteren der beiden Zimmer stillt ein elfjähriges Mädchen bei Kerzenlicht sein Kind. Dessen Vater, ein 19jähriger Honduraner, Wirtschaftsflüchtling auf der Durchreise in die USA, wurde von einem Marero erschossen. Weshalb, weiß hier niemand. Cifuentes hört sich die Geschichte an, verspricht, wieder vorbeizukommen. Aber helfen kann auch er nicht. Trotzdem, das Mädchen dankt. Wenigstens hat sich einer für seine Geschichte interessiert. Und Alfredo, der Urgroßvater des Säuglings, klopft dem Mann aus dem Ministerium für Kultur und Sport wortlos auf die Schulter.
Es ist kurz vor Mitternacht. Der nächste Tag, ein Sonntag, beginnt mit einem Besuch im Gefängnis um neun Uhr früh. Der Ex-Marero, der verheiratet ist und drei Töchter hat, sagt: „Ich weiß nicht, was ich erreichen kann, aber ich habe eine Botschaft der Hoffnung zu vermitteln. Dann verabschiedet er sich.“
Thomas Schmid
Der Artikel eschien in gekürzter Fassung in der „Berliner Zeitung“, 9./10. Oktober 2010
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