Wie riesige verfaulte Zahnstummel ragen die Überreste der Lehmhäuser aus der Erde. In
Agios Sozomenos lebt kein Mensch mehr. Ein Schäfer zieht mit seiner kleinen Herde durch
die gespenstische Ruinenlandscha
ft. In der kleinen Felsengrotte, in der der heilige Sozomenos gewohnt haben soll, werfen Öllämpchen ein fahles Licht auf die von der Feuchtigkeit zerfressenen Fresken. Unten in Potamia, wo die alte Niki den Zucker für die Kunden noch mit der Schaufel abfüllt und auf Packpapier mit Bleistift die Zahlen zusammenrechnet, ist der Ablauf der Ereignisse in Agios Sozomenos nur schwer zu rekonstruieren. Jedenfalls erschossen türkische Zyprioten zwei Griechen aus dem Nachbardorf Pyrogi, die gekommen waren, um sich um die Wasserpumpe zu kümmern, worauf griechische Zyprioten Agios Sozomenos überfielen. Die Männer in der Bar am Dorfplatz von Potamia werden sich nicht einig, wie viele Tote es auf beiden Seiten gab.
Mein Haus oder sein Haus?
Die Türken von Agios Sozomenos, aus dem die Jahre zuvor fast sämtliche Griechen vertrieben worden waren, und beinahe alle Türken aus dem gemischt besiedelten Potamia flohen zu ihresgleichen ins Nachbardorf Louroukina. Das war im Februar 1964. In ganz Zypern herrschte Bürgerkrieg. Eine Friedenstruppe der Uno beendete ihn in demselben Jahr. Im Juli 1974 putschten auf der Insel griechische Terroristen, die mit der Militärjunta in Athen verbandelt waren. Die türkische Armee intervenierte. Der Putsch scheiterte, aber seither ist die Insel geteilt – in einen griechischen Süden, dessen Regierung international anerkannt und formal für das ganze Land zuständig ist, und in einen türkischen Norden, dessen Regierung allein von der Türkei anerkannt wird, die bis heute 30 000 Soldaten in dieser Gänsefüsschenrepublik stationiert hat. Um der ethnischen Reinheit willen wurde ein Drittel der Gesamtbevölkerung vertrieben oder zwangsausgetauscht. Die 1964 nach Louroukina geflüchteten türkischen Flüchtlinge aus Potamia verpflanzten die Behörden in das Dörfchen Argaki im türkischen Teil.
Argaki, früher zu 95 Prozent griechisch besiedelt, heisst heute Akcay. Am Dorfeingang stehen verrostete Skelette von Autos und Traktoren. Die orthodoxe Kirche der vertriebenen Einwohner ist zerfallen. Löchrige Strassen, schlecht verputzte Häuser, streunende räudige Hunde. Auf der staubigen Terrasse vor dem Lokal des Sportklubs ist ein Dutzend Männer zusammengekommen. Sie sind alle aus Potamia oder Nachkommen von Flüchtlingen aus Potamia. Auch hier kennt jeder die Geschichte von Agios Sozomenos. Allerdings wird sie etwas anders erzählt. «Die ersten Toten sind keine Griechen, sondern Türken gewesen, zwei von griechischen Terroristen verschleppte türkische Schäfer», sagt Tahir Mehmedemin, der damals Lastwagenfahrer war und heute als Rentner Kartoffeln pflanzt. Möchte er in sein Dorf zurückkehren? Nicht einmal besuchsweise. Er weiss nicht, wie die Griechen reagieren würden. Immerhin gehörte er damals dem bewaffneten türkischen Untergrund an. «Und wir waren ja auch nicht zimperlich.»
Hüsseyn Selim erinnert sich noch gut, wie er nach Argaki umgesiedelt wurde. «Wir kamen an, zogen eine Nummer und wussten, in welches Haus wir einziehen sollten.» Es waren die Häuser der vertriebenen Griechen. Unter den britischen Kolonialherren, die Zypern bis 1960 regierten, war Hüsseyn Selim Polizist gewesen. Als die Insel unabhängig wurde, verlor er den Job. Sobald es eine «Lösung» des Zypern-Problems gibt, will der alte Mann zurück. Immerhin hat er dort ein Haus und Land zurückgelassen. Wie eine solche Lösung denn aussehen könnte, weiss er allerdings nicht. Wichtig ist vor allem, dass man wieder vom einen Teil in den andern reisen kann. Ob er dann gerne die alten griechischen Nachbarn wieder sehen möchte? Hüsseyn Selim schnalzt mit der Zunge und wirft den Kopf nach hinten, was hier so viel wie «nein» heisst. Im Übrigen hat er noch einen zweiten Grund zurückzukehren. Vor acht Jahren ist Kemal Hüsseyn, sein Sohn, illegal auf die andere Seite gegangen. Seither sieht er ihn jährlich zweimal in Pyla, einem gemischt besiedelten Dorf in der von der Uno kontrollierten Pufferzone, das von der griechischen Seite her frei zugänglich ist und Türken mit Erlaubnis ihrer Behörden betreten dürfen.
Viele der alten Männer, die sich vor dem Lokal des Sportklubs in Argaki eingefunden haben, möchten gerne nach Potamia fahren, einfach um den Dorfplatz, die Moschee, die Bar wiederzusehen. Doch für immer zurückkehren möchten nur wenige. Sie sind in den fremden Häusern in Argaki heimisch geworden, haben investiert, Kinder grossgezogen. Kaum einer kann sich vorstellen, das Haus seinem früheren Besitzer zurückzuerstatten.
Ahmed Münür ist eine Ausnahme. Als Einziger hat er ausfindig gemacht, wer in seinem Haus einst gewohnt hat: Vassili Karaola. Schon dreimal hat er den Griechen getroffen, jeweils am 23. Oktober, dem Tag der Vereinten Nationen, an dem die Uno ihren Tag der offenen Tür hat. Und wenn Vassili Karaola eines Tages sein Haus zurückhaben will? «Es ist sein Haus», antwortet Ahmed Münür, ohne auch nur einen einzigen Augenblick zu zögern.
Wunschtraum Ausreise
Unter den jüngeren Männern träumen viele davon, auf der andern Inselhälfte zu leben. Man verdient dort mehr, kann ins Ausland reisen, und das türkisch-zypriotische Regime, das Zehntausende anatolischer Siedler ins Land geholt hat, die inzwischen im Nordteil wohl die Mehrheit stellen, ist unter ihnen ohnehin nicht gerade beliebt. Auch Ali Ismail will hinüber, obwohl er hier im türkischen Teil geboren ist. Drüben bei den Griechen ist der Lebensstandard dreimal höher. Sein Vater ist vor zwei Monaten hinübergegangen, ganz legal. Er hatte noch den alten zypriotischen Pass, der vor der Teilung der Insel ausgestellt worden war. Mit dem neuen türkisch-zypriotischen Pass flog er in die Türkei, dann fuhr er mit dem Bus an die griechische Grenze, zeigte bei der Ausreise den neuen türkisch-zypriotischen und bei der Einreise den alten zypriotischen Pass und bestieg in Athen ein Flugzeug nach Larnaka, wo der Flughafen des griechischen Südteils der Insel liegt. Jeder Türkisch-Zypriote, der selbst oder dessen Eltern auf der Insel geboren sind, hat Anrecht auf einen Pass der Republik Zypern. Bloss wo soll ihn Ali Ismail sich besorgen? Die türkisch-zypriotischen Behörden lassen ihn nur in die Türkei ausreisen, und dort gibt es keine zypriotische Botschaft, die ihm einen Pass ausstellen könnte, und wo es eine gibt, da kommt er ohne den Pass nicht hin.
Ismail Hilmi ist einer der wenigen jungen Männer, die hier bleiben wollen. Sein Vater ist vor neun Jahren schon zurückgegangen – illegal, weil ihm der Umweg über die Türkei und Griechenland zu umständlich und wohl auch zu teuer war. Und sein Onkel Hassan hat als einer der ganz wenigen Türken Potamia überhaupt nie verlassen. Ismail Hilmi hat in Argaki Freunde gefunden. Ausserdem hat seine Frau vor einer Woche Zwillinge geboren. Ein Foto mit den beiden Säuglingen ist sogar in der Zeitung erschienen. «Die ersten Zwillinge, die in diesem Jahrtausend in Argaki geboren wurden», heisst der Titel zum Artikel. «Bringen Sie doch bitte den Zeitungsausschnitt meinem Vater in Potamia mit», sagt Ismail Hilmi zum Abschied, «er wird sich freuen.»
«Wir wollen ein Beispiel sein»
Zurück in Potamia. Der alte Hilmi Karabardak freut sich tatsächlich über den Nachwuchs. Vor neun Jahren hat ihn das Heimweh gepackt. In einem Dörfchen unweit der Demarkationslinie überliess ihm ein befreundeter Schäfer seine Tiere, und so streunte er mit einer Schafherde durchs Grenzgebiet. Irgendwo liess er die Schafe stehen und kam herüber. Man hat den alten Nachbarn, der Griechisch genauso gut wie Türkisch spricht, in der Dorfgemeinschaft gut aufgenommen. Der Rentner kellnert in der Bar am Dorfplatz. Viele nennen ihn respektvoll «Onkel». Über seine Familie, die er zurückgelassen hat, redet er nicht gern. Sein Sohn Ogün kam zwar vor zwei Jahren nach. Er kam zum Treffen mit ihm nach Pyla und fuhr einfach auf die griechische Seite weiter. Doch Hilmi Karabardaks Frau ist drüben geblieben. Zwei- bis dreimal darf sie ihn jährlich für einige Tage besuchen.
Ein anderer Türke ist quasi aus Versehen nach Potamia zurückgekehrt: Kemal Hüsseyn, dessen Vater unter britischer Herrschaft Polizist war. Er sprang von der dicken Festungsmauer, die die geteilte Altstadt Nikosias ringförmig umgibt, aus dem Norden in den Süden. Im Grunde wollte er damals gar nicht abhauen, sondern bloss andern einen Freundesdienst erweisen. Doch da tauchten unverhofft türkische Soldaten auf. Er hatte nur die Alternative, ihnen in die Hände zu fallen, was Gefängnis bedeutet hätte, oder eben auch zu türmen.
So sprang auch er. Es war neun Uhr abends. Zu Fuss schlug er sich nach Potamia durch, das er um vier Uhr früh erreichte. Heute lebt Kemal
Hüsseyn mit seiner rumänischen Frau Ramona und der Tochter Loredana in einem hübschen Häuschen am Dorfrand von Potamia. «Viele Freunde
haben wir hier nicht», sagt seine Frau. «Griechen und Türken können nicht zusammenleben», meint der Mauerspringer auf die Frage, ob bei den Zypern-Verhandlungen in diesem Jahr ein Durchbruch erzielt werde. Auf den Einwurf, er aber lebe doch mitten unter Griechen, sagt er nur: «Potamia ist eben anders.»
Potamia ist das einzige gemischt besiedelte Dorf auf Zypern, wenn man von Pyla, das allerdings in der Uno-Pufferzone liegt, absieht. Es sind nur wenige zurückgekommen. «Wenn auch dieses Jahr wieder alle Verhandlungen in einer Sackgasse enden», sagt Panikos Yiatrou, «werden immer mehr Türken illegal kommen.» Der Gemeindeammann von Potamia, ein griechischer Flüchtling aus dem Norden, macht sich fürs Zusammenleben stark. «Beide Seiten haben Fehler gemacht. Beide Seiten haben getötet. Alle sollen das Recht auf Rückkehr in ihre Dörfer haben. Alle munkeln doch schon von Rückgabe oder Austausch von Haus und Land. Es muss jetzt
alles auf den Tisch.» Dass die Griechen dabei mehr zu gewinnen haben als die Türken, verschweigt er nicht. Schliesslich haben sie bei der Teilung auch mehr verloren. «Wir wollen hier ein Beispiel sein», sagt Yiatrou zum Abschied, «die Alternative liegt dort oben.» Er zeigt auf Agios Sozomenos, wo die Lehmruinen wie faule Zähne in den Himmel ragen.
Thomas Schmid, 17.01.2002