Das Wasser ist tiefblau, der Horizont verliert sich im Dunst. „Es ist als ob ein Stück Meer dem Ozean entrissen und zwischen unzugängliche Berge geworfen worden wäre“, meinte einst der Belgrader Biologe Sinisa Stankovic. Der Ohrid-See, der zu zwei Dritteln in Makedonien und zu einem Drittel in Albanien liegt, war über ein halbes Jahrhundert des Professors bevorzugter Forschungsgegenstand. Dies hat seinen besonderen Grund. Neben dem Tanganjika-See in Afrika und dem Titicaca-See in Südamerika gehört er zu den ältesten Seen der Welt gehört. Hier haben sich Pflanzen und Tiere gehalten, die sonst überall ausgestorben sind. Das hat auch für den Touristen Folgen, höchstpraktische und angenehme. Nirgendwo anders auf der ganzen Welt wird er die Letnica oder die Belvica (Salmothymus ohridanus) serviert bekommen. Die beiden Arten von Lachsforellen gibt es nur hier – und sie schmecken köstlich.
An den Ohrid-See fährt man von Skopje aus in drei Stunden. Wer es eilig hat, kann in der Hauptstadt Makedoniens auch den Flieger besteigen. Doch lohnt sich die Anfahrt durch die makedonischen Berge allemal – sei es nun die Ostroute durch das Vardar-Tal oder eine der beiden Westrouten durch die albanisch besiedelten Gebiete. Wo man auch herkommt, plötzlich tut sich die Sicht auf den ovalförmigen 30 Kilometer langen und 15 Kilometer breiten See auf, der mitten in einer phantastischen Bergwelt in einer Höhe von 695 Meter über dem Meeresspiegel liegt.
Bereits vor 8.000 Jahren müssen Menschen der Schönheit dieser Landschaft erlegen sein. Archäologische Funde weisen darauf hin, daß schon im Neolithikum Leute da siedelten, wo später die antike Stadt Lychnidos lag und wo heute Ohrid liegt, die Stadt, die dem See den Namen gegeben hat. Lychnidos war für die alten Römer von strategischer Bedeutung. Hier führte die Via Egnata durch, die Handelsstraße, die Durres (Albanien) und Saloniki verband und nach Konstantinopel (Istanbul) weiterführte. Von der militärischen Bedeutung des Ortes zeugt auch die mächtige Festung von Samuil, die über der Stadt thront. Es sind zwar nur noch ein großes Tor und die Reste dicker Mauern übrig geblieben. Doch wer den Aufstieg hinter sich hat, wird mit einem einzigartigen Panorama über Stadt, Land und See belohnt. Samuil hatte sich im Jahr 976 gegen die Herrschaft Byzanz’ aufgelehnt und zum Zaren ausgerufen. Sein Reich erstreckte sich zeitweilig von der Donau bis zur Adria und bis zum Golf von Korinth. Er herrschte 38 Jahre, bis Basileios II., Kaiser von Byzanz, gegen ihn zu Felde zog und seine Truppen auf dem Schlachtfeld besiegte. Basileios II. war ein grausamer Mann. Er ließ die 14.000 gefangengenommenen Soldaten Samuils alle blenden. Nur jedem hundertsten beließ er ein Auge, damit die Einäugigen die Blinden nach Hause führen konnten. Als Samuil die jämmerlichen Kolonnen seiner geschlagenen und geblendeten Soldaten sah, traf ihn der Schlag. Vier Jahre später war das mittelalterliche makedonische Reich erobert. Oder war es ein bulgarisches Reich gewesen? Immerhin ging Basileios II. als der „Bulgarentöter“ in die Annalen ein. Es ist schwer zu entscheiden. Den Begriff der Nation im heutigen Sinn kannte man damals nicht. Samuil selbst soll übrigens armenischer Abstammung gewesen sein.
Doch bedeutungsvoller als die militärische Niederlage ist der zivilisatorische Impuls, der von Ohrid ausging. Unterhalb der Festung, gleich neben dem Oberen Tor der antiken Stadtmauer, steht eine kleine Kirche mit wunderschönen Fresken in leuchtenden Farben. Es ist die alte Kirche der Muttergottes Peribleptos, die auch Kirche des heiligen Klement heißt, dessen Gebeine hier begraben wurden, nachdem die Türken weiter oben die alte Klement-Kirche abgerissen hatten. Eine Ikone zeigt den Gottesmann mit wallendem Bart, fragend-eindringlichem Blick und einer fast zur Karikatur verzerrten hohen Stirn. Klement, ein Schüler von Kyrill und Method, kam am Ende des 9. Jahrhunderts nach Ohrid, gründete hier ein Priesterseminar, die „Ohrider Schule“, an der die heute im orthodox-slawischen Raum von Montenegro bis Rußland gebräuchliche kyrillische Schrift entstand, benannt nach dem „Slawenapostel“ Kyrill, der kein Slawe, sondern Grieche war und nicht die kyrillische, sondern die glagolitische Schrift erfunden hatte. Die „Ohrider Schule“ wurde zu einem Zentrum der Schriftkunde, der Ikonen- und Freskenmalerei, der Literatur und Kultur und strahlte weit in den slawischen Raum aus. Klement selbst wurde der erste slawische Bischof der Ostkirche, deren Hierarchie traditionell griechisch war. Das Bistum von Ohrid wurde in den Rang eines Patriarchats erhoben, bis der bereits erwähnte Kaiser Basileios II. dieses auf ein Erzbischoftum zurückstufte.
Von der religiösen und kulturellen Blüte Ohrids zeugen etwa drei Dutzend Kirchen in der Stadt und näheren Umgebung. Die größte ist die Kathedrale Hagia Sophia, eine dreischiffige Basilika, mit den ältesten Fresken im Raum des früheren Jugoslawiens, die nur deshalb so gut erhalten sind, weil die Türken, unter deren Herrschaft die Stadt ein halbes Jahrtausend war, sie mit Kalk übermalt hatten, als sie aus der Kirche eine Moschee machten. Die Fresken wurden erst 1955 freigelegt. Nicht so sehr wegen ihrer künstlischen Ausstattung, sondern vor allem wegen ihrer einmaligen Lage ist eine andere Kirche einen Besuch wert. Die Kirche Johannes des Theologen von Kaneo, liegt etwas außerhalb der Altstadt auf einer felsigen Halbinsel hoch über dem See. Wie Wachsoldaten stehen einige Zypressen vor dem Gotteshaus. Durch die alten Gassen gelangt man schließlich zum Korso zurück, der Fußgängerzone mit ihrem Trubel, der in krassem Kontrast zur gerade erlebten andächtigen Stille steht. Es ist ein kurzer Weg von der Vergangenheit in die Gegenwart.
Die Gegenwart, das sind vor allem die Tausende von Touristen, die aus Skopje, Bitola, Prilep und andern Städten Makedoniens, aber auch aus Serbien und Albanien, am Wochenende an den Ohrid-See fahren. Dann wird es schwierig, überhaupt noch eine Unterkunft zu finden. Doch werktags ist es leicht. Wer die Anonymität der Hotels nicht mag, findet leicht ein Privatzimmer in einer Familie, in Ohrid oder Pestani, einem Fischerdorf am östlichen Ufer des Sees. Wer noch weiter gegen Süden fährt, stößt just an der Grenze zu Albanien auf ein letztes Hotel. Es ist in einem Teil des Klosters des heiligen Naum, eines Mitstreiters von Klement, untergebracht. Bis in die 20er Jahre stand das Kloster in Albanien, doch dann schenkte es der albanische König Jugoslawien. In der dunklen, weihrauchgeschwängerten Kirche hört man den Chorgesang der Mönche, die dem Besucher durch die Ikonostase verborgen bleiben. Oben auf dem Dach stolzieren zwei Pfauen. Es herrscht eine paradiesische Stille. Unten plätschert ein nur zehn Meter langer, aber vier Meter breiter Fluß, der Schwarze Drim. Er fließt von einem kleinen See, der von 15 überirdischen und 30 Unterwasserquellen gespeist wird, mit in den Ohrid-See. Frischwasserzufuhr für die Letnica und Belvica, die schmackhaften Forellen.
Die albanische Seite des Ohrid-Sees bietet weniger als die makedonische. Schon wenige Kilometer nach dem Kloster des heiligen Naum gelangt man nach Pogradec, eine albanische Stadt ohne jeden Reiz, heruntergekommen und etwas verdreckt wie die meisten Städte Albaniens. Aber immerhin gibt es dort ein Hotel und ein Restaurant am See, allerdings versperren einige Bunker den Aussicht auf denselben. Auf der Westseite des Sees führt die Straße durch eine einsame Gegend, immer mit Blick auf See, und kurz bevor man die makedonische Grenze erreicht, gelangt man zur archäologisch interessanten Halbinsel Lin. Hier wurden Überreste frühchristlicher Basiliken mit Mosaiken und Grabkammern ausgegraben.
Wer die absolute Einöde liebt, biegt vor dem Kloster des heiligen Naum (kurz nach dem Dörfchen Trpejca) in die Berge ab und gelangt nach einer halben Stunde zum Prespa-See, der etwa gleich groß wie der Ohrid-See ist und den sich Makedonien, Albanien und Griechenland teilen. Der See liegt in einer phantastischen Bergwelt, nur wenige Häuser säumen seine Gestade. Auf einer kleinen Insel auf dem See trifft man auf die Ruinen einer Residenz von Zar Samuil – der mit den geblendeten Soldaten.
Thomas Schmid, in: Die Tageszeitung (taz), 29.07.2000