Nur ein grunzendes Schwein stört die Stille. Ansonsten scheint die glühende Hitze im Schwemmland des Bunes sämtliches Leben ausgelöscht zu haben. Wie ausgestorben liegen die wenigen Häuser von Trush, einem Dörfchen im Norden Albaniens, in der weiten Landschaft. Auch auf dem Hof des Ndrek Ded Malocaj rührt sich nichts. Doch. Endlich kommt ein Mädchen ans schwere Eisentor, um nachzuschauen, wer da gekommen ist. „Ndrek Pjetri“, meldet es nach innen. Eine Frau macht auf und bittet die Gäste in die Stube. Schwerer süßer Kaffee wird serviert und Raki, albanischer Weinbrand.
Schließlich tritt Ndrek Ded ein. Seinen schweren, alten Revolver wirft der 80jährige mit großem Gestus quer durch den dunklen Raum in die Ecke. Dann küßt er die Gäste, setzt sich an den Tisch, dreht sich aus den letzten Krümeln, die er in seiner Tabakdose zusammenkratzt, eine Zigarette und schweigt. Langsam füllt sich der Raum mit Männern, mit immer mehr Männern. Es sind die Söhne, Neffen und Enkel des Alten. Sie alle halten sich seit drei Monaten auf dem Hof versteckt. „Sollen die doch den Mörder anderswo suchen“, schreit der zahnlose Ndrek Ded mit sich überschlagender Stimme und steht auf, die Arme auf den schweren Tisch abgestützt. „Willst Du schwören oder nicht?“ fragt der 70jährige Gjon Zef Peraj, ein Bauer aus dem Dorf, „du weißt, der Kanun ..“. Zwölf unbeteiligte Männer müssen nach den Bestimmungen des Kanun, des Gewohnheitsrechts des albanischen Nordens, den Schwur abnehmen. Macht auch nur einer der zwölf nicht mit, so ist das Vehängnis nicht mehr aufzuhalten. Dann wird der Vater oder ein Bruder des getöteten Nachbarn einen der Familie Ded umbringen. So will es der Kanun.
Aus dem Kanun des Leke Dukagjin:
„Der Schutz ist das eigene Haus.“
„Das Haus des Albaners gehört Gott und dem Gast.„
„Das Blut des Vaters kann verziehen werden, nie verziehen aber werden kann das Blut des Gastes.„
„Das Blut der Frau hat nicht den gleichen Wert wie das Blut des Mannes.“
„Wenn sich die Herzen der Täter und Opfer versöhnen, trinken sie ein jeder des andern Blut. Sie werden neue Brüder desselben Vaters, derselben Mutter.“
„Der Wolf leckt das eigene Fleisch, das fremde aber frißt er.“
Geschlagene vier Stunden lang dauern die Verhandlungen darüber, ob der Schwur geleistet werden soll. Immer wenn sich Ndrek Ded in Rage redet und das Mundstück seiner Zigarette auf den Tisch knallt, versucht ihn Gjon Zef zu beruhigen. Die jüngeren Männer mischen sich nur selten ein, und noch seltener eine der vier Frauen, die das Gespräch aus dem Hintergrund verfolgen. Man kommt zu keiner Entscheidung. Schließlich ergreift Ndrek Pjetri das Wort. Er ist Präsident der „Mission zur nationalen Versöhnung“, die in den zahlreichen Fällen der Blutrache zu schlichten versucht. Mit sanfter pastoraler Stimme mahnt er zur Geduld. Es werde sich alles klären lassen. Alles brauche eben seine Zeit. Bis es so weit ist, werden die zwölf Männer der Familie den Hof nicht verlassen. In Haus und Hof darf nach den Regeln des Kanuns keine „Blut genommen“ werden. Außerhalb aber kann sie jederzeit eine Kugel der Nachbarsfamilie, die „Blut gegeben“ hat, niederstrecken.
Bei der Familie Nikoll werden Kaffe und Raki auf einem mit schwarzem Tuch bedeckten Tisch serviert, auf dem ein Bild des 35jährigen Nosh steht. Zwei Jahre lang hatte der sich im Haus versteckt, bis er es dann doch nicht mehr aushielt. Das tödliche Geschoß traf ihn am 4. Juli wenige Meter außerhalb des Grundstücks der Familie in Bushat, einem Dörfchen 20 Kilometer außerhalb von Shkodra, der größten Stadt Nordalbaniens. Der Mörder, der 70jährige Pal Doci, hält sich nun verborgen. Nosh Nikoll, so behauptet jedenfalls die Familie Doci, habe damals, vor zwei Jahren, Gjovalin, den Sohn Pals, umgebracht, und nun habe man Blut genommen, nachdem man Blut gegeben habe. Gion Nikoll hingegen bestreitet, daß sein Bruder Mörder sei. Gjovalin sei möglicherweise von einem Offizier umgebracht worden, auf dessen Frau er ein Auge geworfen habe. Aussage steht gegen Aussage. Während für die Docis nun die Rechnung beglichen ist, gehen die Nikolls davon aus, daß noch eine Rechnung offen ist. Der tödliche Zyklus kann also seinen Gang nehmen. Versöhnen könne er in diesem Fall erst mal kaum, sagt Ndrek Pjetri. Der Schmerz sei noch zu frisch. Gion Nikoll will seinen Bruder rächen. Das erwarten wohl auch seine Freunde von ihm. Er will ein Mann sein. Es geht schließlich um seine Ehre und die seiner Familie.
Aber immerhin handelte man eine „Besa“ für einen Monat aus. Einen Monat lang sollte keine Rache vollzogen werden. Die Besa wurde eingehalten. Wäre sie gebrochen worden, hätten die vier an der Familienfehde unbeteiligten Männer, die sie vermittelt haben, ihre Ehre verloren und hätten ihrerseits Blut nehmen müssen. So will es der Kanun. Einen Monat lang also konnten die Docis, deren Grundstück nur eine Straße von jenem der Nikolls trennt, ruhig schlafen. Morgen läuft die Frist aus. „Von morgen an“, sagt Frrok Doci, der 84jährige Bruder von Pal, und reibt zwei Zeigefinger aneinander, was soviel wie Streit bedeutet, „von morgen an gehören wir zu den Eingeschlossenen“, zu denen also, die sich nicht mehr hinaus getrauen.
Der 70jährige Prec Noci wohnt in einer elenden Hütte. Das Dach ist notdüftig mit Pappe geflickt, und auf dem kahlen Steinboden tummeln sich Hunderte von Fliegen. Seit zwei Jahren nun schon ist sein Sohn Dashamir auf der Flucht, nachdem er seinen Bruder Ceajoan gerächt hat. „Besser sie erschießen mich als Dashamir“, sagt Prec Noci, „ich bin nun schon alt.“ Seine Frau, die nach der traditionellen Art der Bäuerinnen des albanischen Nordens einen weißen Rock über weiße Hosen trägt, pflichtet ihm bei. Auch sie scheint vom Leben nichts mehr zu erwarten. Prec Noci macht nur noch wenige Schritte vor die Tür.
Pavli Lodovik Gjergji lebt schon seit drei Jahren eingeschlossen. Sein Bruder wurde vor sieben Jahren als Mörder zu 25 Jahren Haft verurteilt, weil er, so die Aussage der Familie jedenfalls, als Wachsoldat jemanden erschossen hat, der ihm die Waffe abnehmen wollte. Damals war Pavli zwölf Jahre alt. Da der Kanun die Blutnahme an Priestern, Frauen und Personen unter 16 Jahren verbietet, lebt Pavli erst seit drei Jahren eingeschlossen. Ndrek Pjetri sieht gute Chancen, in diesem Fall eine Versöhnung zustande zu bringen. Die Familie des Opfers ist bereit, von einer Rache abzusehen. Vielleicht will sie noch etwas Geld oder ein Stück Land. Aber auch dann wird Pavli noch kein freier Mann sein. Sein Vater hat vor zwei Jahren jemanden erschossen – nach eigener Aussage im Ehrenduell. Sollte die Lodoviks mit der einen Familie Frieden schließen, muß sie noch immer die Rache der andern fürchten. So träumt denn der junge Pavli vor allem davon, sich irgendwie ins Ausland abzusetzen. Aber auch dort ist er vor der mörderischen Rache nicht sicher.
Seit dem Zusammenbruch des kommunistischen Systems vor fünf Jahren habe er in 248 Fällen von Blutrache eine Versöhnung herbeigeführt, sagt Ndrek Pjetri, 28 davon im Ausland – im Kosovo, im nahen Montenegro, in Makedonien, aber auch in der fernen Türkei. Wenn es so weit ist und die Familien nach vielen Besuchen und langen zähen Verhandlungen sich für die Aussöhnung entschließen, nimmt der Schlichter sein Arbeitsköfferchen mit auf die Reise. Es enthält eine Bibel und einen Koran. Die Oberhäupter der beiden zerstrittenen Familien schwören eine Besa auf die Heilige Schrift und unterschreiben, daß die Fehde beigelegt ist. Sie ritzen sich den Finger, lassen einige Tropfen Blut in ein Glas Wasser fließen und trinken dann das Blut des andern. Manchmal legen sie dem früheren Feind das eigene Kleinkind vor die Füße, damit der ihm die Haare schneide – was so viel bedeutet wie: Meine Kinder sollen von nun an auch deine sein, und deine Kinder will ich von nun an wie meine eigenen behandeln.
Doch neue Fehden wachsen wohl schneller nach als Pjetri alte erledigen kann. An die 800 Fälle von Blutrache sind nach vorsichtigen Schätzungen noch ungelöst. Geht man realistischerweise davon aus, daß von jedem Fall nicht nur zwei, sondern bis zu zehn Familien betroffen sind, weil ja immer auch Mitglieder der Familien der Geschwister, der Kinder oder der Eltern als Täter oder Opfer in Frage kommen, so kann man beim traditionellen Kinderreichtum albanischer Familien davon ausgehen, daß einige Zehntausend Menschen in die Blutrache verstrickt sind und wohl an die zehntausend Menschen als „Eingeschlossene“ leben.
Jahrhundertelang war das nur schwer zugängliche Gebirgsland im Norden Albaniens von den Verwaltungszentren in Shkodra und Tirana und Durres weitgehend abgeschnitten. So regelten die Bergbewohner ihre Angelegenheiten nach ihren eigenen ungeschriebenen Gesetzen. Der Franziskanermönch Shtiefen Gjecov sammelte auf ausgedehnten Reisen durch Nordalbanien 1913 zahlreiche mündlich überlieferte Sprichwörter, in denen gewohnheitsrechliche Regeln zum Ausdruck kommen, die dann 1933 in Form eines Gesetzesbuches als „Kanun des Leke Dukagjin“ veröffentlicht wurden, benannt nach einem Fürsten des 15. Jahrhunderts, der über weite Teile Nordalbaniens herrschte. Im Kanun finden sich Regeln für alles auf, was den Bewohnern des Hochlandes wichtig schien: Heirat, Gastfreundschaft und eben auch die Sühnung schwerer Ehrverletzungen und von Mord. Die Blutrache, über die die verlorene Ehre wiederhergestellt wird, ist also nur ein Teil eines größeren Regelwerkes, das im übrigen Rache wie Versöhnung gleichermaßen vorsieht und die Rituale für beides bis ins Detail festlegt.
Zur Ausrottung der Blutrache, die ja das staatliche Gewaltmonopol in Frage stellte, scheute Enver Hodscha, der nach dem Sieg seiner kommunistischen Partisanen am Ende des Zweiten Weltkriegs in Albanien die Macht übernahm, auch vor den rabiatesten Mitteln nicht zurück. In Blutfehde verstrickte Familien wurden an getrennte und weit entfernte Orte in den Süden des Landes deportiert – mit Erfolg. So weit bekannt, soll es in den vergangenen Jahrzehnten nur noch sehr selten zu Blutrache gekommen sein. Doch die „Maschinerie des Todes“, wie sie der bekannte albanische Schriftsteller nennt, ist nach dem Zusammenbruch der Diktatur wieder zurückgekehrt. Daran sind die Kommunisten, so sagt die Berliner Sozialanthropologin Stephanie Schwandner-Sievers, die sich jahrelang mit der Blutrache im Norden Albaniens beschäftigte und Feldforschung betrieb, nicht unschuldig: Sie haben es nicht geschafft, ein Vertrauen zu schaffen, das über verwandtschaftliche und persönliche Beziehungen hinausreichte und vor allem haben sie über ihr manichäisches Weltbild und die Sippenhaft die alten Strukturen gerade reproduziert.
„Oft werden jetzt alte Fehden, die unter der kommunistischen Herrschaft eingefroren waren, wieder ausgetragen, und es gibt sogar Fälle, die in die vorkommunistische Zeit zurückreichen“, sagt Ndrek Pjetri, „doch die häufigste Ursache für Blutrache sind heute Landkonflikte.“ Als 1991 das unter kommunistischer Herrschaft vollständig kollektivierte Land privatisiert wurde, meldeten sich alte Eigentümer zurück. Es kam zu vielen ungeklärten Besitzverhältnissen, zumal die Kommunisten die Unterlagen der Katasterämter überall öffentlich verbrannt hatten. Da es an Vertrauen in Polizei und Justiz aus verständlichen Gründen weithin fehlt und eine öffentliche Verwaltung oft nur rudimentär funktioniert, greift man auf das alte Gewohnheitsrecht zurück. Es ist ein Zeichen der Verunsicherung. Und sicher kamoufliert sich heute vor allem in Shkodra und seinen Vororten, wo der dörfliche Zusammenhalt nicht mehr gegeben ist, mitunter auch schlichte mafiöse Kriminalität, gewöhnliches Verbrechen und simple Selbstjustiz als vom Kanun gedeckte Blutrache. „Früher hat man sich an die Regeln des Kanun gehalten“, klagt denn auch Dionis Makaj, der 86jährige Prinzipal des Franziskanerordens in Shkodra, der als junger Priester schon in den 30er Jahren Familien ausgesöhnt hat, „aber heute wissen die Mörder ja oft nicht mehr, was erlaubt ist und was nicht.“
Thomas Schmid, „Wochenpost“, 07.09.1996
Ndrek Pjetri, der den Autor zu den verfeindeten Familien geführt hat, ist Präsident der „Kommission zur nationalen Aussöhnung“, die in den letzten fünf Jahren 248 Blutfehden geschlichtet hat. Da er den antikommunistischen Partisanen als Melder diente, wurde er im Mai 1945 verhaftet. Drei Jahre lang verbrachte er in einem Kellergefängnis der Sigurimi, der gefürchteten Geheimpolizei der kommunistischen Diktatur. 1953 konnte er das Gefängnis verlassen. Bis 1990 verrichtete er anschließend Zwangsarbeit auf dem Bau. Nach der Wende wurde er Präsident der „Vereinigung ehemaliger Gefangener“ von Shkodra.