Die Wollust der Imagination

Das alte Kloster ist nicht leicht zu finden. Auf der Landstraße außerhalb von Montegiove, einem kleinen Dörfchen Umbriens, steht zwar ein Wegweiser. Doch die Witterung hat ihm arg zugesetzt, und seine Botschaft ist nicht mehr zu entziffern. Aber wer dort abzweigt und auf der holperigen, unbefestigten Straße an Höfen vorbei durch Wiesen und Wälder fährt, gelangt nach zwei oder drei Kilometern an einen traumhaften Ort. Hinter majestätischen Zypressen versteckt sich La Scarzuola, ein Kloster, das der heilige Franz von Assisi im Jahre 1218 gegründet hat. In einem flachen, langgestreckten Gebäude der Anlage tigert ein Mann in dickem Pullover auf und ab, greift da ein Papier heraus, legt dort einen Stapel zur Seite, runzelt die Stirn und rauft sich die Haare. Der Raum, ein enger Schlauch, vielleicht dreißig Meter lang und drei Meter breit, ist ungeheizt. Zu beiden Seiten sind auf der ganzen Länge mehrere Regale übereinander angebracht. Hier liegen Zehntausende loser Zettel, Tagebuchnotizen, Briefe, Skizzen und Zeichnungen von Stühlen, Vasen, Pforten, Hausfassaden, mit Kohlestift dahingekritzelt oder akribisch koloriert. Dazwischen Fotos, vergilbte Zeitschriften, Kladden, einige Dutzend Ölgemälde. Es ist die Hinterlassenschaft von Tomaso Buzzi, und Marco Solari – vermutlich sein Großneffe, so genau will er es nicht sagen – wühlt täglich in diesem unendlichen Wust von Papieren. Er will begreifen, was der Erblasser eigentlich wollte.

So leicht ist das nicht. Tomaso Buzzi muss ein verschrobener, schrulliger Mensch gewesen sein, auch ein tüchtiges Maß an Hybris war ihm sicher zueigen. Der 1900 geborene Mailänder Architekt hatte sich in Italien schon in den 20er Jahren einen Namen gemacht, war dem „Club der Urbanisten“ beigetreten, war Redakteur einer bekannten Architekturzeitschrift, renovierte die italienischen Botschaften in Berlin, Addis Abeba, Tel Aviv, Tokio und Bangkok, stattete das Interieur der Villen zahlreicher Adliger aus, entwarf Paläste, beschäftigte sich mit Gartenarchitektur und dozierte am Mailänder Polytechnikum. Dann zog er sich zurück, mied fortan jede Öffentlichkeit und kaufte 1957 das Kloster La Scarzuola, um seinen Lebenstraum zu verwirklichen. Bis zu seinem Tod 1981 arbeitete er daran.

„Als erstes“, sagt Solari, „montierte Buzzi den Altar der kleinen Klosterkirche ab und stellte ihn unter dem Eingangsportal wieder auf.“ Zwar hätten ihm die Franziskaner explizit untersagt, an der alten Kirche bauliche Veränderungen vorzunehmen. Doch den Architekten kümmerte das Verbot nicht. „Er hatte eben so seine Ideen“, entschuldigt ihn Solari. Ansonsten ließ Buzzi das Gotteshaus aber ziemlich in Ruhe. Es war für ihn die „città sacra“, der er nun seine „città ideale“ entgegenstellte. Diese ist der architektonische Ausdruck von Ideen, die ihn vermutlich seit den 20er Jahren umgetrieben hatten. Es ist ein phantastisches Ensemble von Tempeln, Toren und Türmen, Gärten, Figuren und insgesamt sieben Theaterbühnen – und all dies voll versteckter Symbolik, änigmatischer Andeutungen und kryptischer Bezüge.

Vor allem die „Hypnerotomachia Poliphili“ (Poliphilos Traumliebesstreit), ein berühmter, 1499 erschienener Roman der italienischen Renaissance, dessen Autor vermutlich der Dominikanerpater Francesco Colonna ist, vielleicht aber auch der Humanist Leon Battista Alberti, hat einem Teil von Buzzis Anlage Pate gestanden. Im schwer verständlichen Buch berichtet Polipholo, wie er im Traum den verschlungenen Weg zu seiner geliebten Polia findet. Er durchstreift eine utopische Landschaft voll geheimnisvoller Skulpturen, Bauten und Ruinen, wobei ihm Nymphen helfen, ans Ziel zu gelangen. Am Schluss muss er zwischen drei Toren wählen, die ihm himmlischen Ruhm, Liebe und irdische Ehre versprechen. Er entscheidet sich für das mittlere, für die Liebe, und begegnet einer verschleierten Frau, die sich ihm im Tempel der Venus als seine Geliebte offenbart.

In Buzzis „città ideale“ kann man sich den esoterischen Roman förmlich erwandern. Vorbei am Brunnen der Zeit, über dem das meterhohe Gerüst einer Sanduhr hängt, vorbei an Pegasus, dem geflügelten Pferd, das mit den Hufen scharrt, bis es auf Wasser stößt, den Quell allen Wissens, kommt man zu den Nymphen, wählt das richtige Tor und steht vor dem Venus-Tempel. Und dann – Szenenwechsel – hat man eine große Theaterbühne vor sich, an derem rechten Ende die Akropolis steht, ein Tempelberg, auf dem sich Parthenon, Kolosseum, Vesta-Tempel, ein Triumphbogen, das Pantheon, ein Glockenturm und weitere Gebäude verschiedener Kulturen zu einer Stadt vereinigen. Im Zentrum der Bühne steht ein großes steinernes Auge, das den Zuschauer anglotzt und so einen Rollentausch erzwingt. Er wird vom Beobachter zum Beobachteten, zum Schauspieler.

Das Ensemble lässt verschiedene Interpretationen zu, lässt Assoziationen Raum, beflügelt die Phantasie. „Er allein hat das alles verstanden“, sagt Solari, der immer nur „er“ sagt, wenn er von Buzzi spricht, „die Arbeiter, die hier gebaut haben, sollten nichts kapieren.“ Valentino Galli, der alte Schmied, der in seiner Werkstatt in Montegiove noch immer mit Hammer und Amboss umzugehen weiß und der über 24 Jahre hinweg für Buzzi in La Scarzuola gearbeitet hat, der die Sanduhr, den Pegasus und die Nymphen geschmiedet hat, ist da anderer Ansicht. „Buzzi hat uns Arbeitern immer alles lang und breit erklärt“, erinnert er sich, „bis wir es schließlich verstanden.“ Buzzi selbst schrieb 1966 auf einen der vielen Zettel, der in Solaris Archivbeständen liegt: „Das Symbolische von La Scarzuola amüsiert mich ein bisschen, ich nehme es nämlich nicht allzu ernst.“ Vier Jahre später notierte er auf einem andern Papier allerdings wieder mit einer gewissen elitären Attitüde: „Niemand oder nur sehr wenige werden meine Absichten verstehen.“

Hinter der ersten großen Bühne führt der Weg in ein steinernes Maul. Es gehört dem Wal, der einst Jonas verschluckt hat und Tod und Neugeburt symbolisiert. Doch um Mensch zu werden, muß der Mensch – so hatte schon ein Orakel in Delphi gefordert – sich selbst erkennen. Und deshalb steht der Besucher, kaum hat er den Walfischbauch verlassen, vor dem Turm der Meditation oder der Einsamkeit. Wie so vieles in Buzzis „città ideale“ ist er eine Bauruine, halbfertig und schon wieder im Verfall begriffen. „Er hat nie etwas zuende gebaut“, sagt Solari, „er hatte immer neue Ideen, er hatte nie für etwas Zeit, er war wie ein permanent aktiver Vulkan.“ Aber das Halbfertige ist bei Buzzi auch Prinzip. Auf einem Tagebuchzettel notierte er: „Ich sollte den Zauber des ‘Unfertigen’ herstellen, der jenem der Ruinen ähnelt. Beide geben der Architektur jene vierte Dimension, die die Zeit ist.“ Aus diesem Grund wohl verwendet Buzzi für seine Bauten mit Vorliebe Tuff, ein poröses, zerbrechliches Gestein, das ihm erlaubt,  den doppelten Effekt von Halbfertigem und Halbverfallenem zu erzielen. Ihn fasziniert, wie er schreibt, das Ephemere, das Vergängliche. Die Gegenwart interessiert ihn nur in dem Maß, wie sie Vergangenheit enthält und den Keim der Zukunft.

Der Prozeß, das Werden, der Aufstieg vom Materiellen zum Spirituellen, die Sublimation, das sind die Parameter, an denen sich Buzzis Architektur orientiert. Und deshalb findet sich immer wieder die Spirale, die Wiederkehr und gleichzeitig Fortbewegung symbolisiert: die spiralenförmig angelegten Wege, der spiralenförmige Turm von Babel und die Wendeltreppe in der gläsernen Pyramide, die „Treppe der sieben Oktaven“, die beim Aufstieg auf jeder Stufe einen neuen höheren Ton erzeugen sollte (funktioniert hat das ausgetüftelte System allerdings nie). Alles führt nach oben. Und im Innenhof des Jupiter-Tempels ragt eine tote Zypresse in den Himmel, irgendwann mal von einem Blitz getroffen. Buzzi wollte den dürren Baum, der vom göttlichen Feuer heimgesucht wurde, vergolden, hat es dann aber – wie so vieles andere auch – sein lassen. Ganz oben, im wirklichen wie übertragenen Sinn, oberhalb der „città ideale“, am Ende des Rundgangs, steht schließlich die kleine alte Kirche des Klosters von La Scarzuola, die „città sacra“.

Als Marco Solari 1985, vier Jahre nach dem Tod Tomaso Buzzis dessen Erbe, das von drei Personen ausgeschlagen worden war, antrat, wusste er noch nicht, was dies für ihn bedeuten würde. Die ganze Anlage war ziemlich heruntergekommen. Ohne jede staatliche Unterstützung versuchte er, als erstes den Verfall zu stoppen. Schließlich renovierte er Gärten und Gebäude, oft mit schlechtem Gewissen. „Ich wusste ja nie, ob ich in seinem Sinn handle oder vielleicht gegen  seine Intentionen“, meint er heute, „ich bin nicht Architekt, ich bin nur der Kustode der Hinterlassenschaft eines Genies.“ Der diplomierte Betriebswirtschaftler hat – wie einst Tomaso Buzzi – von seinem früheren Leben Abschied genommen. Er wohnt nun im Kloster, beschäftigt sich ausschließlich mit dem „Porträt in Stein“, dem „architektonischen Testament“, dem „Museum der abgelehnten Ideen“, der „den Wellen der Zeit anvertrauten Flaschenpost“, wie Tomaso Buzzi sein großes Freilicht-Oeuvre genannt hat, das auch in Italien so gut wie unbekannt geblieben ist.

Solari sucht im Nachlass Tomaso Buzzis Hinweise für das Verständnis des eigen- und einzigartigen Kunstwerks zu finden. Doch wie soll sich einer in diesem Durcheinander von Stapeln von zehntausenden Zetteln und Blättern zurechtfinden. „Die Ordnung ist das Vergnügen der Vernunft, die Unordnung aber die Wollust der Imagination“, hatte der Architekt geschrieben, „ich bin natürlich auf der Seite der Wollust und Imagination.“ Manchmal hilft der Verstorbene dem Erben über ein Medium. Es kommt in dieser Einsamkeit vorbei, diktiert Solari einige Sätze, die der heilige Franz von Assisi oder eben auch Tomaso Buzzi zu ihm sprechen. „Ich habe ihm mein ganzes Leben gewidmet“, sagt Marco Solari, „aber er ist mir immer wieder ein Rätsel.“ Wer war Tomaso Buzzi? Wenn er das Epitaph auf seinem eigenen Grabstein schreiben müsste, hatte der Architekt auf einen seiner zahlreichen Zettel gekritzelt, dann hieße er: „Mailänder, er lebte, er zeichnete, er liebte. Dieser Mann verachtete den Teufel, Mussolini und den Knoblauch.“

Thomas Schmid, 26.05.2003 (gekürzt erschienen in der „Frankfurter Rundschau“)