Agim Musta erinnert sich, als ob es gestern gewesen wäre. Er schreitet den langen Korridor ab, wirft einen Blick in die kahlen Räume: „Hier war die Tuberkulose-Zelle, hier die Küche, hier hat man Koco Kota verhungern lassen.“ Dann betritt er eine Zelle, stellt sich an die Wand, nimmt militärische Haltung an und bittet um ein Foto: „Genau an dieser Stelle habe ich zwei Jahre meines Lebens verbracht.“ Es waren zwei von zwölf Jahren, die der Historiker insgesamt in den verschiedensten Gefängnissen des Landes gesessen hat. Anschließend musste er 18 Jahre Schwerstarbeit auf dem Bau verrichten. Sein Vergehen: In den 60-er Jahren wollte er im kommunistischen Albanien eine sozialdemokratische Partei gründen.
Nach 30 Jahren ist Musta nun zum erstenmal wieder nach Burrel gekommen. Am Rand der Kleinstadt im Norden Albaniens steht das berüchtigste aller Gefängnisse der Diktatur. Bis 1990 war es noch im Betrieb. Heute ist es eine Gedenkstätte. Es ist ein einfaches einstöckiges Geb‰ude aus Beton, mit Flachdach und Innenhof, zweckrational konstruiert. Keine Ecke, in der man sich verstecken könnte. Mit dem Bau wurde schon 1938 unter dem Regime von Zogu begonnen, der sich zehn Jahre vorher zum König der Albaner erklärt hatte. Doch im April 1939 kamen die italienischen Besatzer, nach dem Fall Mussolinis 1943 die Deutschen, und so wurde es erst von den neuen kommunistischen Machthabern seiner Bestimmung zugeführt. Enver Hodscha füllte es 1946, anderthalb Jahre nach dem Sieg seiner Partisanen mit seinen Gegnern oder solchen, die er für welche hielt. Und das waren vor allem Intellektuelle. „Hier wurde der Geist der albanischen Nation ausgelöscht“, schreibt denn auch Musta etwas schwülstig in seinem Buch „Die Mandelas Albaniens“, in dem er – pars pro toto – die Fälle von etwa zwei Dutzend Langzeitgefangenen schildert, die er alle persönlich kennengelernt hat. Burrel war bis zu seiner Schließung ausschließlich für die Politischen reserviert.
Die ersten Jahre waren wohl die allerschlimmsten. Zwischen 1946 und 1949 kamen an die 300 Gefangene in Burrel ums Leben. Sie starben an Misshandlungen und Auszehrung. Viele ließ man einfach verhungern wie 1951 auch Koca Kota, den Innenminister von Zogu, der nach vier Tagen ohne Wasser und Brot tot aus der Zelle geholt wurde. Die Verstorbenen hat man gleich hinter dem Gefängnis verscharrt. Einige Knochen hat man inzwischen ausgebuddelt.
Nur einmal gelang eine Flucht aus dem Gefängnis. Am 2. August 1967. Und zum Jahrestag dieses Ereignisses haben nun über 50 ehemalige Häftlinge und Angehörige von hier zu Tode gekommenen die doch recht anstrengende Reise nach Burrel auf sich genommen Auch Adem Allci ist unter ihnen, einer der drei, die damals getürmt sind. Einen Faustschlag habe er dem Wärter versetzt, erzählt er, die Schlüssel an sich gerissen, sich über eine vorstehendes Mauerstück aufs Flachdach geschwungen, den andern hoch geholfen und sei im Dunklen verschwunden. Der Mann ist groß, kräftig und auch heute noch von athletischer Statur. Und als ob man ihm nicht glauben würde, klettert der heute 57-jährige nochmal an der gleichen Stelle behende die Mauer hoch. Ein Schuss eines Wachsoldaten traf den Flüchtling damals ins Bein. Am Morgen nach der Flucht wurde er 500 Meter hinter der Mauer schwerverletzt aufgegriffen. Zazan Haderi, schlug sich bis Shkoder an der Nordgrenze Albaniens durch, wo er verhaftet wurde. Der dritte, Dhori Grenjoti, wurde beim Fluchtversuch erschossen. Seine Tochter ist mit einem Blumenstrauß angereist.
Auch Vera Dema ist nach Burrel gekommen, eine gespenstisch dürre Gestalt mit tief zerfurchter Haut. Vier Onkel und sechs Cousins von ihr waren in Burrel. Sie selbst hat 1946 bis 1949 in einem anderen Gefängnis gesessen und war anschließend 41 Jahre lang, bis zum Zusammenbruch der Diktatur 1990, deportiert. 45 Lebensjahre hat sie verloren – bloß weil ihr Vater unter König Zogu Polizeichef Albaniens war. Der hatte sich von 1945 bis 1947 in den Bergen versteckt und war dann nach Griechenland geflüchtet, wo er in den 50-er Jahren starb. Seine Tochter hat ihn 1945 zum letzten Mal gesehen. „Hodscha hat seinen eigenen Schwager ermordet, er ist Albaner und hat Albaner ermordet“, sagt die heute 75j‰hrige Frau, die unendlich verbittert ist, „das ist schlimmer als bei Hitler, der hat zwar die Juden ermordet, aber Hodscha hat seine eigenen Landsleute ermordet.“ Gegen die Erfahrung von 45 Jahren Gefängnis, Internierung und Verbannung kommt kein Argument an. Vera Dema lebt heute von monatlich 36 Dollars in einer der 94 Wohnungen, die eine britische Hilfsorganisation für Deportierte errichtet hat.
An die 100.000 Albaner wurden wie Vera Dema Opfer der Sippenhaft. Wer aus dem Land flüchtete oder auch nur den Versuch dazu wagte, wusste, dass seine nächsten Angehörigen ohne jedes Gerichtsurteil deportiert werden würden. Bis 1953 unterhielt die Diktatur mit Stacheldraht umzäunte Internierungslager, danach wurden die Familien in der Regel einfach in entlegene Bergdörfer verbannt, die sie nicht verlassen durften. Die einheimische Bevölkerung mied aus berechtigter Angst vor Repression den Kontakt zu den Deportierten. „Wir galten als Unberührbare“, sagt Vera Dema.
Zef Perolli, 73 Jahre alt, zittert heute noch, wenn er erzählt, was ihm in Burrel, wo er zwei Jahre gesessen hat, widerfahren ist. „Sämtliche Fingernägel haben sie mir ausgerissen, mir das Messer ins Bein gestochen und anschließend Salz in die Wunden gestreut“, berichtet er. Das Schlimmste aber seien die neun Monate gewesen, die er gefesselt auf dem Rücken im Wasser habe liegen müssen, Tag und Nacht, nur ab und zu habe man ihn aus dem Wasser, das gerade die Atmungsorgane noch freiließ, rausgeholt, zum Verhör oder zur Untersuchung. Weshalb er damals, 1946, verurteilt wurde, weiß er nicht mehr. Beim zweiten Prozess, 1954, als er nochmals zehn Jahre Gefängnis verpasst kriegte, bezichtigte man ihn jedenfalls der antikommunistischen Propaganda. Nein, geschrieben habe er nichts, beteuert er, aber er habe sich einmal unvorsichtig geäußert. Nach der Verbüßung der Gefängnisstrafe wurde Perolli noch drei Jahre in die Verbannung geschickt. Zusammen mit Agim Musta hat er 1991 die albanische „Vereinigung ehemaliger Häftlinge“ gegründet, um das Schicksal derer, von denen im ganzen Land kaum jemand etwas hören will, bekannt zu machen und von der Regierung Entschädigung zu fordern.
Osman Kazasi wurde im November 1944, wenige Tage nach dem Einmarsch der Partisanen in Tirana, verhaftet. Er war Jugendsekret‰r der Balli Kombetar, der nationalistischen Guerilla, die Anfang August 1943, ein Monat vor der Kapitulation Mussolinis und dem Einmarsch der deutschen Truppen in Albanien, mit den Kommunisten ein Bündnis gegen die ausländischen Besatzer eingegangen war, das diese dann aber auf Druck Titos einen Monat sp‰ter schon aufkündigten. Als die Kommunisten im von den Nazis besetzten Albanien auch gegen die Balli Kombetar kämpften, machten viele Nationalisten gemeinsame Sache mit den Deutschen, auch Osman Kazasi. Zur Feier in Burrel ist der heute 80j‰hrige im feinen grauen Anzug erschienen. Er hat Schwierigkeiten, sich die Jahreszahlen seiner Verhaftungen und Freilassungen zu merken. 1959 kam er jedenfalls frei, 1961 wurden ihm wieder zehn Jahre aufgebrummt und 1973 nach zwei Jahren Freiheit nochmal acht Jahre. Heute ist er Ehrenpräsident der „Vereinigung ehemaliger Häftlinge“.
Deren Generalsekretär ist der 54j‰hrige Mehill Gjinaj. Auch er ist nach Burrel gekommen. Zwei Jahre hat er hier gesessen, weil er zu früh, 1959 schon, zwei Jahre bevor Hodscha die Beziehungen zur Sowjetunion abbrach, als 17-jähriger einen Aufruf gegen die sowjetischen Basen in Albanien und gegen Albaniens Mitgliedschaft im Warschauer Pakt geschrieben hat. 1964 schrieb er ein Programm für eine oppositionelle Partei, die es noch gar nicht gab, was ihm weitere zehn Jahre einbrachte. Noch mal drei Jahre kostete ihn die Flucht aus dem Gefängnis. Gijnai ist Frührentner. Wer über zehn Jahre Gefängnis hinter sich hat, kann mit 50 Jahren in Pension gehen. Doch als Rente erhält auch er nur umgerechnet 36 Dollar im Monat.
Die „Vereinigung ehemaliger Häftlinge“ hat ihren Sitz in einem Gebäude, das einst Mussolinis Statthalter in Albanien als Residenz diente und bis zur Wende das „Haus der Veteranen des antifaschistischen Kampfes“ war. Im obersten Stockwerk hat Kurt Kola sein Büro. Er ist Präsident der Organisation. Als Achtjähriger wurde er im April 1945 interniert, als 54j‰hriger kam er im Januar 1991 frei. Verbannung und Gefängnis und wieder Verbannung und wieder Gefängnis haben sich fast 46 Jahre lang nahtlos abgelöst. Immer kurz bevor eine Strafe abgesessen hatte, war das nächste Urteil, das ihm die Freiheit verweigerte, schon gefällt. Wenn er erzählt, lächelt er, als ob er seine eigene unglaubliche Geschichte nicht glauben könnte. Von der Bitterkeit, die ein solches Leben hinterlassen haben muss, zeigt er dem Besucher keine Spur.
Die ehemaligen Häftlinge und Deportierte, sagt Kola, hätten vor allem eine Forderung. Sie wollen für die Zwangsarbeit, die sie in all den Jahren verrichten mussten, wengistens zu den normalen elenden albanischen Löhnen entschädigt werden. Auf dem Weg nach Burrel hatte Agim Musta immer wieder Brücken und Fabriken fotografiert. „Wenn jemand hier in Albanien den Sozialismus aufgebaut hat“, erklärt er, „dann waren es wir Häftlinge und Deportierte, wir haben in Jahrzehnten Zwangsarbeit Eisenbahnlinien, Straflen, Brücken, Tunnels, Fabriken und Staudämme gebaut, all die schönen Errungenschaft des Sozialismus.“ Als vor zwei Jahren 2.500 ehemalige Häftlinge in den Hungerstreik traten, um ihre Forderung nach Entschädigung durchzusetzen, wusste sich die neue, demokratische Regierung nicht anders zu behelfen, als den Präsidenten der Organisation, der ein halbes Jahrhundert gefangen, interniert, deportiert oder verbannt war, für drei Monate unter Hausarrest zu stellen. Schließlich erhielten die ehemaligen Gefangenen als Entschädigung Anteilscheine am Staatseigentum, das zur Veräußerung ansteht, in der Höhe von hundert Dollar pro gesessenen Monat. Die Scheine werden auf dem Straßenmarkt zur Zeit zu zwölf Prozent ihres Nominalwerts gehandelt.
Thomas Schmid, 15.08.1996 (unveröffentlichter Artikel)
Albaniens Häftlinge, Deportierte und Verbannte
Nach Angaben der albanischen Vereinigung der ehemaligen Gefangenen waren zwischen 1944 und 1990 in Albanien
– 34.135 Personen im Gefängnis, von denen dort 995 starben.
– 59.009 Personen waren interniert oder (vorwiegend ab 1953) in entlegene Dörfer verbannt, von denen 7.022 während der Internierung oder der Verbannung starben.
– 5487 Personen wurden im Gefängnis, auf der Flucht oder an der Grenze erschossen.
– 308 Personen verloren im Gefängnis den Verstand.