Kolumbien ist der Horror. Das Land, doppelt so groß wie Deutschland, aber nur halb so viel Einwohner, gehört zu den gefährlichsten Staaten der Welt. Im viertgrößten Staat Südamerikas fallen jährlich zwischen 25.000 und 30.000 Menschen dem Terror von Militärs, Paramilitärs und Guerillas sowie privaten Abrechnungen zum Opfer. Zwei Millionen Menschen leben im eigenen Land als Vertriebene. Mit rund 3.000 Entführungen pro Jahr ist das Land weltweit einsamer Spitzenreiter. Nirgendwo sonst werden so viele Journalisten ermordet, in den letzten zehn Jahren waren es mindestens 40. Jahrelang haben die Präsidenten mit der Guerilla immer wieder verhandelt. Doch der Krieg ging weiter. Nun will Álvaro Uribe, der neue Präsident, der sein Amt am 6. August angetreten hat, das Land manu militari befrieden. Wenig spricht dafür, dass es ihm gelingt, den längsten Bürgerkrieg Lateinamerikas zu beenden. Vor 38 Jahren wurden die heute noch aktiven kommunistischen Guerillaformationen gegründet. Sie gingen aus Armeen liberaler Freischärler hervor. Und deren Entstehung hat mit einem Mord zu tun, der sich am 9. April 1948 in Bogotá ereignete.
Er geschah am helllichten Tag. Das Zentrum der Stadt wirkte wie immer um diese Zeit, etwas ausgestorben. Nur wenig Passanten schlenderten durch die Carrera Séptima, die Prachtstraße im Herzen der Hauptstadt Kolumbiens, die gemeinhin „Königstraße“ genannt wurde. Einige Losverkäufer und Schuhputzer warteten vergeblich auf Kunden. Es war kurz nach ein Uhr nachmittags. Die Chefs, die Angestellten und die Sekretärinnen waren über Mittag nach Hause gegangen, um zu essen und danach Siesta zu halten. Die Läden wurden geschlossen. Nur das Quietschen der Straßenbahn, die bei jedem Halt klingelte, störte die Ruhe.
Dann fielen die Schüsse. Jorge Eliécer Gaitán – zweimal in den Rücken und einmal in den Schädel getroffen – sackte sofort zusammen. Der Attentäter hatte den Chef der Liberalen Partei Kolumbiens an der Eingangstür des Gebäudes, in dem sich sein Anwaltsbüro befand, abgepasst. Gaitán war in Begleitung von vier Freunden auf die Straße getreten, als ihn die Schüsse aus drei Meter Distanz niederstreckten. Ein Polizeikorporal , der zufällig um die Ecke kam, entwaffnete den Mörder ohne größere Schwierigkeiten und schubste ihn in eine Drogerie, um ihn vor den Neugierigen, die nun herbeieilten, fernzuhalten. Der Drogist ließ zur Sicherheit das Ladengitter herunter. Doch nach wenigen Minuten schon hörte man durch die Straßen schreien: „Man hat Gaitán getötet“, und bald versuchte vor der Drogerie ein Pulk, sich mit Gewalt Zutritt zum Attentäter zu verschaffen. Der Drogist, der um seinen Laden bangte, zog das Gitter wieder hoch. Ein Schuhputzer machte den Anfang und schlug dem Mörder seine Holzkiste über den Schädel. Es hagelte Faustschläge und Fußtritte – erbarmungslos und brutal, bis der Mann nur noch ein blutendes Bündel war. Dann zog die grölende Meute den bewusstlosen Missetäter an den Beinen auf die Straße und schrie: „Zum Palast! Zum Palast!“ Der Präsidentenpalast war sieben Häuserblocks entfernt. Schon bei der zweiten Kreuzung war der Attentäter tot – gelyncht vom Mob, der die Leiche unter hysterischen Schreien weiter durch die Straßen schleifte. Als der Tote demonstrativ vor dem Hauptportal des Präsidentenpalastes deponiert wurde, trug er nur noch zwei Krawatten – eine hatte man ihm als Zugriemen umgebunden – und einen Fetzen Unterwäsche.
Für die meisten Zeugen des Geschehens gab es keinen Zweifel: Die Verantwortung für den Mord an Gaitán trug der Präsident Kolumbiens, Mariano Ospina Pérez. Der Kandidat der Konservativen hatte 1946 die Präsidentschaftswahlen gewonnen, weil die Liberalen, die andere große Partei des Landes, mit zwei Kandidaten – Turbay und Gaitán – angetreten waren. Gaitán war nur Drittplatzierter gewesen, aber in vielen Großstädten hatte er die Mehrheit der Stimmen erhalten, in Bogotá rund 60 Prozent. Als sich Turbay nach der Wahlniederlage aus der Politik zurückzog, übernahm Gaitán die Führung der Liberalen Partei. Zwar war Ospina klug genug, sein Kabinett zur Hälfte mit Liberalen zu besetzen, auch hielt er eine sehr versöhnliche Rede zum Amtsantritt, doch seine siegestrunkenen Anhänger provozierten vielerorts Zusammenstöße. Es kam zu zahlreichen Toten. Viele liberal gesinnte Bauern flohen unter Aufgabe von Hab und Gut, nachdem ihre Ernte verbrannt und ihr Vieh abgeschlachtet war. In einigen Provinzen wurden an die Mitglieder der Konservativen Partei Waffen ausgegeben. Ende März 1948 – zwei Wochen vor dem Attentat – zogen die Liberalen aus Protest ihre Minister aus dem Kabinett zurück.
Unermüdlich prangerte Gaitán den Terror im Land an, für den er zurecht die Regierung verantwortlich machte, auch wenn es immer wieder auch zu Übergriffen seiner eigenen Anhänger kam. Seine flammenden Reden peitschten die Massen auf. Der Sohn einer Lehrerin und eines Buchhändlers war ein begnadeter Volkstribun, ein wortmächtiger Caudillo, ein Populist. Seine tief liegenden dunklen Augen strahlten etwas Messianisches aus, sein glattes, rebellisches Haar, die vorspringenden Backenknochen und das feste Kinn signalisierten Tatkraft und Entschlossenheit. Politisch stand Gaitán eindeutig auf Seiten der Linken. Er hetzte gegen „die ausbeuterischen Oligarchien“ und forderte eine Agrarreform, Chancengleichheit in der Ausbildung und mehr soziale Gerechtigkeit.
Bei aller populistischen Rhetorik, bei allem Gespött über die verfaulte politische Klasse pochte Gaitán, von Beruf Rechtsanwalt, doch immer auf die Einhaltung der Gesetze. Er wollte die Macht auf demokratischem Weg erringen, und dass er 1950 die Präsidentschaftswahlen gewinnen würde, stand außer Frage. Vor allem die städtischen Unterschichten setzten ihre Hoffnungen auf „el negro“, wie der Caudillo in der vornehmlich weißen Oberschicht abschätzig genannt wurde, weil er Mestize war – wie die meisten seiner Landsleute. Leibwächter lehnte Gaitán ab: „Mich schützt das Volk.“ Er liebte den direkten Kontakt zu den einfachen Leuten, die ihn verehrten. Schuhputzer und Lottoverkäufer begrüßten ihn, wenn er aus dem Büro kam, und in den Restaurants stritten sich die Kellnerinnen darum, ihm den Tisch zu decken. Natürlich war Gaitán hochgefährdet. Doch er sagte nur: „Wenn sie mich hier töten, bleibt kein Stein auf dem andern.“
Damit sollte Gaitán recht behalten. Ungefähr zur gleichen Zeit, als er in der Klinik verstirbt, ohne das Bewusstsein wieder erlangt zu haben, trifft der Mob mit der Leiche des gelynchten Attentäters vor dem Tor des Präsidentenpalastes ein. Und just zu diesem Zeitpunkt auch fährt Präsident Ospina, der in einem Außenviertel der Hauptstadt eine internationale Agrarmesse eröffnet hat, vor seinem Amtssitz vor. Kaum ist der Chauffeur mit dem Politiker durchs Tor gefahren, schließt die Präsidialgarde die gusseisernen Gitter. Der Menge versucht, sich mit Gewalt Zutritt zu verschaffen. Ein Polizist, offensichtlich auf Seiten der Demonstranten, schießt vom Bürgersteig her auf ein Fenster des Palastes. Er wird von der Präsidialgarde erschossen. Schließlich tritt Armeeleutnant Silvio Carvajal mit einer Kompanie Soldaten auf und drängt die Demonstranten zurück in die Séptima Carrera, bis zum Kapitol, dem Sitz des Parlaments an der zentralen Plaza de Bolívar. Aus dem Gebäude, wo seit einer Woche die IX. Panamerikanische Konferenz tagt, auf der die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) gegründet werden soll, fliegen Möbel, Schreibmaschinen und Akten. Auf der Straße brennen Barrikaden. Die Delegierten flüchten in die Kaserne der Präsidialgarde. Carvajal gibt Schießbefehl. Etwa 40 Menschen sterben.
Schon wenige Minuten nach den Schüssen auf Gaitán hatten die Radiostationen das Attentat gemeldet. Nach kurzer Zeit sind fast alle Rundfunksender der Hauptstadt in den Händen der wütenden Massen. Und sie fordern dazu auf, die Waffengeschäfte und Eisenwarenhandlungen zu plündern. Ein Radio gibt pausenlos Anweisungen zur Herstellung von Molotow-Cocktails. Auf der Station der Fünften Polizeidivision, die sich komplett auf die Seite der Aufständischen stellt, werden Feuerwaffen verteilt. Das Theater, das Luxus-Hotel Regina und das Erziehungsministerium stehen bereits in Flammen. Kurze Zeit danach brennen auch der Justizpalast, das Innenministerium, der Palast des Erzbischofs, die Apostolische Nuntiatur, das Redaktionsgebäude von „El Siglo“, der Zeitung der Konservativen. Die von der Armee zurückgedrängten Demonstranten kehren zum Präsidentenpalast zurück – diesmal bewaffnet mit Pistolen, Flinten und Macheten. Doch gegen die Waffen der Soldaten haben sie keine Chance. Bald liegen überall auf den Straßen Tote.
Sechs Stunden nach dem Attentat ist das alte koloniale Zentrum der Hauptstadt komplett zerstört. Vergeblich mahnen einige Radios, von Plünderungen abzusehen. In der Innenstadt gehen überall Läden in Feuer auf, Juweliergeschäfte werden ausgeraubt, Champagner-Flaschen mit der Machete geköpft, Kühlschränke auf dem Buckel abgeschleppt. Die Furie des Mobs scheint keine Grenzen zu kennen. Jeder nutzt die Gunst der Stunde, und sei es auch nur, um sich gratis und sinnlos zu betrinken.
Als die einzigen drei Panzer, über die die Armee in Bogotá verfügt, die Séptima Carrera Richtung Palast rollen, ist der Taumel unbeschreiblich, haben doch die Radios gemeldet, die Armee sei übergelaufen und stehe nun auf Seiten der Rebellion. Jugendliche stürmen auf die Panzer, schwenken Fahnen, sind überzeugt, dass jetzt die Tore des Palastes aufgebrochen werden. Doch vor dem Amtssitz des Präsidenten werden die Demonstranten, die sich auf die Panzer geschwungen haben, wie Hasen abgeschossen. Die Armee beschützt den Palast.
Schon am frühen Abend gewinnt Präsident Ospina die Initiative zurück. Auf dem Platz bei der Stierkampfarena ernennt zwar eine vom früheren Arbeitsminister Adán Arriaga Andrade gebildete Revolutionäre Junta ein Oberkommando der Revolutionären Offiziere der Nationalen Polizei. Sie hat sich zusammen mit der Fünften Polizeidivision verbarrikadiert. Es sind einige hundert Bewaffnete, die auf das nahe Kriegsministerium schießen, wo Laureano Gómez, Chef der Konservativen Partei und Außenminister, Asyl gefunden hat. Doch im Palast sind längst Führer der Liberalen Partei eingetroffen, um zu verhandeln. Sie fordern den Rücktritt des konservativen Präsidenten. Als der sich dem Ansinnen verweigert, wollen die Liberalen den Palast verlassen, können aber nicht mehr ins Freie, weil überall geschossen wird. Inzwischen ist eine von Gómez abgesandte Delegation von Generälen im Palast aufgetaucht, die dem Präsidenten vorschlägt, seinen Stuhl einer Militärjunta zu räumen. Doch der lehnt auch dies ab und bietet an, ein Kabinett einzusetzen, das ausschließlich aus Militärs besteht. Die Delegation der Generäle weist dieses Angebot zurück. Die ganze Nacht wird debattiert und verhandelt. Am Morgen kündet der Präsident sein neues Kabinett an: Die Hälfte der Minister stellt die Liberale Partei. Die Revolutionäre Junta, die anfänglich glaubte, die Liberalen würden in ihrem Namen verhandeln, erfährt es aus dem Radio und spricht empört von Verrat. Doch das interessiert schon niemanden mehr. Die Armee hat die Rundfunkstationen eine nach der andern zurückerobert. Es herrscht Belagerungszustand und Ausgangssperre. Auf Kirchtürmen und in Bauruinen verschanzen sich einige Tage lang noch Gruppen von Partisanen. Sie werden erbarmungslos niedergemacht. Der Aufstand ist zu Ende. Zurück bleiben über dreitausend Tote – unter ihnen 20 Soldaten.
Zu jenen, die im Getümmel Bogotás am längsten durchhielten, gehörte Fidel Castro. Er war als 21jähriger Jura-Student nach Kolumbien gekommen. Parallel zur Panamerikanischen Konferenz, auf der US-Außenminister George Marshall die Länder des Subkontinents auf eine antikommunistische Linie – der Kalte Krieg hatte gerade begonnen – verpflichten wollte, sollte ein lateinamerikanischer Studentenkongress stattfinden, um Strategien gegen den „US-Imperialismus“ zu diskutieren. Am 7. April sprach Castro bei Gaitán vor, der ihm zusagte, bei der Schlusskundgebung eine Rede zu halten. Ein zweites Treffen zwischen dem kubanischen Studenten und dem kolumbianischen Caudillo war für den 9. April, 14 Uhr angesetzt. Um 13 Uhr schoss der Attentäter Gaitán nieder. Castro, der während seines Aufenthaltes vom kolumbianischen Geheimdienst von Anfang an beschattet wurde, zögerte nicht, in die Auseinandersetzungen einzugreifen. Er war entsetzt über den Mangel an Organisation auf Seiten der Rebellen, wie er Jahre später dem kolumbianischen Schriftsteller Arturo Alape berichtete. Als er bewaffnet – ein Polizeioffizier hatte ihm ein Gewehr und 14 Schuss ausgehändigt – vor dem Kapitol auf eine Sitzbank stieg, um den Soldaten eine Rede zu halten, musste er feststellen, dass ihm niemand zuhörte. Daraufhin wollte der Kubaner mit einigen Gleichgesinnten eine Polizeistation einnehmen. Doch die war bereits in den Händen der Aufständischen. Am 11. April gab Castro sein Gewehr und die unverbrauchten neun Patronen ab. Einen Tag später flüchtete er – der Präsident hatte inzwischen in einer öffentlichen Rundfunkansprache Kommunisten und Ausländer bezichtigt, einen bewaffneten Aufstand angezettelt zu haben – im Auto eines argentinischen Diplomaten in die kubanische Botschaft, mit deren Hilfe er auf seine Insel zurückflog.
Dass Kommunisten den Aufstand von Bogotá provoziert hätten, gehört zu den vielen Legenden, die sich um die Ermordung Gaitáns ranken. Doch der „Bogotazo“, wie die Revolte heute in den Geschichtsbüchern heißt, war ganz offensichtlich eine spontane Reaktion auf ein Attentat, das die überspannten Hoffnungen breiter Massen auf einen Schlag zerstörte. Trotzdem stellte sich schon damals die Frage, ob Juan Roa Sierra aus eigenem Antrieb oder im Auftrag von Hintermännern handelte. „Wer hat sie geschickt, zu töten?“ fragte denn auch der Drogist Elías Quesada, in dessen Laden der Attentäter wenige Minuten, bevor er gelyncht wurde, Schutz fand. „Es gibt mächtige Sachen, die man nicht sagen kann“, antwortete Roa Sierra, „Heilige Jungfrau, rette mich.“
Roa Sierra, 26 Jahre alt, keine Ausbildung, ohne Vorstrafe, war laut Gutachten des Gerichtspsychiaters „schizoid, , paranoid, introvertiert, kommunikationsarm, und willensschwach“. Das Geld für den Revolver bettelte sich der Habenichts zwei Tage vor dem Mord bei Freunden zusammen. Er gehörte einer obskurantischen Sekte an, die ihr Zentrum in Kalifornien hatte. Oft unternahm er Reisen in die Provinz, um nach verborgenen Schätzen zu suchen. Seine Mutter, bei der er wohnte, hielt ihn für einen Taugenichts. Seine Geliebte gab dem Ermittlungsrichter zu Protokoll, Roa Sierra habe ihr immer gesagt, er sei für „etwas ganz Großes“ ausersehen. Beauftragt man einen solchen Mann mit einem Mord? Und wenn schon, besorgt man ihm dann nicht wenigstens die Schusswaffe? Und wenn es ein Auftragsmord gewesen wäre, hätte Roa Sierra den Caudillo doch mit viel weniger Risiko spätabends töten können, als dieser in der Regel ohne jeden Begleitschutz allein nach Hause fuhr.
Ricardo Jordán Jiménez, der ermittelnde Staatsanwalt, kam denn auch schon nach weniger als drei Monaten zum Schluss, dass es sich bei Roa Sierra um einen Einzeltäter handele und eine Verschwörung auszuschließen sei. Der Attentäter kannte Gaitán. Er hatte bei ihm wenige Wochen vor der Tat um Arbeit nachgefragt. Doch der sagte dem Bittsteller nur, er könne ihm nichts anbieten. Beim zweiten Versuch wies ihn schon die Sekretärin des Politikers ab. Roa Sierra habe möglicherweise daraus geschlossen, so der Gerichtspsychiater, dass Gaitán seiner Karriere im Wege stehe, und er habe den imaginären Feind, der der Verwirklichung seiner ambitiösen Vorhaben zu behindern schien, erschossen, um sich Gerechtigkeit zu verschaffen.
Mit dieser Erklärung war Verschwörungstheorien allerdings kein Riegel vorgeschoben. Nun tauchten Zeugen auf, die angaben, den Attentäter zwei Stunden vor der Tat im Café beim Gespräch mit Polizisten gesehen zu haben. Ein zweiter Mann, der am Tag des Mordes tatsächlich mit Roa Sierra – nach Angaben des ermittelnden Staatsanwalts allerdings rein zufällig – im Vorzimmer von Gaitáns Büro gestanden hatte, geriet in den Verdacht der Mittäterschaft. Und verkehrte der Attentäter, der nach Ansicht seiner Mutter und seiner Geliebten völlig unpolitisch war, nicht doch in Kreisen der Konservativen? Wurde er in der Drogerie zusammengeschlagen, um ihn am Sprechen zu hindern? Und waren die Polizisten aus Santander, die zwei Tage vor Gaitáns Ermordung in Bogotá eintrafen, vielleicht als Verstärkung in die Stadt beordert worden, um im Fall der zu erwartenden Unruhen einzugreifen? Viele Fragen blieben tatsächlich ohne befriedigende Antwort. Trotzdem bestätigte am 27. März 1978 – 30 Jahre nach dem Attentat – das Obergericht von Bogotá in letzter Instanz das alte Urteil und erklärte, außer Roa Sierra sei niemand am Attentat beteiligt gewesen.
Unter dem Druck der spontanen Revolte, die auf den Mord an Gaitán folgte, bildete der Präsident ein Kabinett der Nationalen Einheit. Doch die Koalition der beiden großen traditionellen Parteien Kolumbiens hielt gerade ein Jahr. Bereits im April 1949 hatte der konservative Präsident sämtliche liberalen Gouverneure abgesetzt. Und nachdem die Liberalen drei Monate später die Parlamentswahlen gewannen, löste Ospina schon bald den Kongress auf und verhängte den Belagerungszustand. Die Wahl seines konservativen Nachfolgers Laureano Gómez war nur noch eine Farce, der die liberale Stammwählerschaft zum großen Teil fernblieb. Die Liberalen begannen nun Guerilla-Armeen zu organisieren. Es folgte das Jahrzehnt der „Violencia“, bei der nach den vorsichtigsten Schätzungen mindestens 80.000 Menschen umkamen. Erst 1957 fanden die Parteien wieder zu einem Pakt zusammen. Aber inzwischen waren viele liberale Guerillatruppen unter kommunistischen Einfluss geraten. Der längste Bürgerkrieg Lateinamerikas dauert noch immer an.
Thomas Schmid, „Die Zeit“, 07.11.2002 (unredigierte Fassung)
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