„Wir werden auf kein einziges Sandkorn verzichten“

Es war ein genialer Streich. Und auch ein Bluff. Am 5. November 1975 strahlte der marokkanische Rundfunk eine Rede von König Hassan II. aus. «Geliebtes Volk! Morgen wirst du deinen Fuss auf ein Stück Boden deines Vaterlands setzen, morgen wirst du, inschallah, die Grenze überschreiten», sprach der Monarch mit majestätischer Stimme. «Der ‹Grüne Marsch› wird friedlich sein. Wenn du einem Spanier begegnest, sei er in Zivil oder in Uniform, grüss ihn und lad ihn ein, im Zelt das Essen mit dir zu teilen.»

Vom 6. bis 9. November marschierten rund 350 000 Marokkaner:innen, unter ihnen vielleicht zehn Prozent Frauen, zur Grenze im Süden des Landes – viele mit dem Koran in der einen Hand und einer roten Fahne mit grünem Stern, der Flagge Marokkos, in der anderen. Andere trugen ein Bild ihres Königs vor sich her. Zu Gebetszeiten rollten die Marschierenden ihre Teppiche aus, knieten sich hin, in Richtung Mekka. Es herrschte jeweils einige Minuten Stille, bis wieder patriotische Lieder aus den Lautsprechern plärrten. Viele riefen: «Allahu akbar!» Andere skandierten: «Die Sahara ist marokkanisch!» Es war ein Tohuwabohu.

Wenige Stunden nach der Rundfunkansprache des marokkanischen Königs hatte General Federico Gómez de Salazar, Generalgouverneur der Spanischen Sahara, bekräftigt, dass Spanien sein Territorium verteidigen würde. An der Grenze aber stand kein einziger Soldat, und so öffnete Ministerpräsident Ahmed Osman, der das vorderste Kontingent von etwa 50 000 Marschierenden anführte, den Schlagbaum. Die marokkanische Fahne wurde gehisst. Als die Marokkaner:innen auf eine erste Linie der spanischen Verteidiger stiessen, schlugen sie ihr Lager auf – in Sichtweite der spanischen Panzer und Kanonen, die jedoch nichts unternahmen.

Kalkül aufgegangen

Millionen von Marokkaner:innen erlebten das riesige Spektakel, das live ausgestrahlt wurde, zu Hause oder in Teestuben am Fernsehen. Und sie alle sahen, dass Spanien der friedlichen Invasion nichts entgegensetzte, dass ihr König einen Sieg über die Kolonialmacht errungen hatte. In den folgenden Tagen wurden Zehntausende weitere Marokkaner:innen direkt an die Grenze gebracht, überschritten diese, rückten vor. Spanien verlegte zusätzliche Artillerie und Eliteeinheiten ins Gebiet. Es wurde verhandelt. Am 9. November erklärte Hassan II. in einer Rundfunkansprache, man habe das Ziel erreicht, und liess zum Rückzug blasen.

Der «Grüne Marsch», grün wie die Farbe des Propheten, war akribisch vorbereitet worden. Hunderte Spezialzüge hatten die Menschen aus dem Norden und dem Zentrum des Landes nach Marrakesch gefahren. Mit Tausenden von Bussen und Lastwagen wurden sie über 800 Kilometer Landstrasse weiter in den Süden nach Tarfaya gebracht. Dort waren bereits 22 000 Zelte aufgestellt worden. Der eigentliche Marsch startete dann kurz vor der Grenze und endete schon zwölf Kilometer hinter ihr. Aber die Bilder von vorbeiziehenden Menschenmassen, wehenden Fahnen und riesigen Zeltlagern hinterliessen den Eindruck von einem langen Marsch durch die Wüste, der Marokko in ein Goldenes Zeitalter führen würde.

Westsahara Karte
Karte: WOZ

Das Kalkül des marokkanischen Königs war aufgegangen. Spaniens Diktator Francisco Franco lag bereits auf dem Sterbebett und hatte die Führung der Staatsgeschäfte am 31. Oktober an den künftigen König Juan Carlos übergeben. Und dieser dachte gar nicht daran, seine Regentschaft mit einem Massaker zu beginnen. Kurz vor dem Marsch hatten beide Seiten in Geheimverhandlungen vereinbart, den Konflikt nicht eskalieren zu lassen.

Spanien stand schon seit Jahren international unter starkem diplomatischem Druck, seine Kolonie aufzugeben. Bereits 1960, im «Afrikanischen Jahr», hatten die meisten Kolonien des Kontinents ihre Unabhängigkeit erreicht. Und nach der Nelkenrevolution im April 1974 in Lissabon schüttelten auch Angola, Moçambique und Guinea-Bissau 1975 die portugiesische Fremdherrschaft ab. Die Westsahara wurde zur letzten Kolonie Afrikas.

1974 hatte der spanische Diktator schliesslich angekündigt, im Folgejahr die Sahrauis über eine Unabhängigkeit der Westsahara abstimmen zu lassen. Doch da stellte sich der König von Marokko quer. Hassan II. hatte schon lange Ansprüche auf das Gebiet gestellt und diese mit vorkolonialen Bindungen der Wüstenstämme an das Sultanat begründet. Der Internationale Gerichtshof in Den Haag wurde mit der Klärung des Streits beauftragt. Die Richter fällten ihr Urteil am 16. Oktober 1975, drei Wochen vor dem «Grünen Marsch». Zwar anerkannten sie, dass in vorkolonialer Zeit viele Scheichs von Wüstenstämmen der Sahara dem Sultan den traditionellen Treueeid geschworen hatten, befanden aber, dass dies keine Hoheitsansprüche Marokkos auf das Gebiet begründe. Die Sahrauis müssten selbst über ihre staatliche Zukunft entscheiden dürfen.

Hassan II. liess das Urteil allerdings kalt. Unter höchster Geheimhaltung drangen schon am 31. Oktober marokkanische Truppen unbemerkt von der Weltöffentlichkeit in den Norden der spanischen Kolonie ein, um den «Grünen Marsch» gegen allfällige Vorstösse algerischer Truppen oder Angriffe der sahrauischen Befreiungsbewegung Frente Polisario abzusichern. Dass sich die 1973 in Mauretanien gegründete Guerilla, die mit militärisch unbedeutenden Aktionen die Kolonialmacht provoziert hatte, gegen eine Invasion der marokkanischen Armee wehren würde, war abzusehen.

Schon eine Woche nach dem «Grünen Marsch» erklärte sich Spanien bereit, Marokko und Mauretanien, das ebenfalls Ansprüche angemeldet hatte, bis zum endgültigen Ende der spanischen Kolonialherrschaft an der Verwaltung der Westsahara zu beteiligen. Noch im November 1975 besetzte die marokkanische Armee grosse Teile des Nordens der Westsahara. Am 12. Januar 1976 verliess der letzte spanische Soldat die Kolonie.

Populärer denn je

Der «Grüne Marsch» hatte eine ungeheure Dynamik entfaltet. Er hatte nicht nur die spanische Kolonialmacht zum Rückzug gezwungen, sondern auch die marokkanische Monarchie stabilisiert. Im benachbarten Algerien lag die Macht seit der Unabhängigkeit 1962 faktisch in den Händen der Armee. In Libyen hatte Oberst Muammar al-Gaddafi 1970 erfolgreich gegen König Idris I. geputscht. Und auch in der marokkanischen Armee hatten viele Offiziere politische Ambitionen.

Einen ersten Putschversuch im Juli 1971 hatte Hassan II. nur äusserst knapp überlebt, eingeschlossen im Toilettentrakt seines Königspalasts in Skhirat. Über hundert Soldaten waren bei den Gefechten gestorben. Bei einem zweiten Putschversuch war im August 1972 die Boeing, in der der Monarch auf seinem Rückflug aus Frankreich sass, von sechs Kampfflugzeugen angegriffen worden. Sie hatte schwer beschädigt auf dem Flughafen von Rabat notlanden können. Der König war unerkannt im Auto entkommen.

Nach dem «Grünen Marsch» aber war Hassan II. populärer denn je. Und die Armee hatte eine neue Aufgabe: Sie durfte die Westsahara erobern und musste sie verteidigen. Zwar waren die grössten Städte im Norden, El Aaiún und Smara, schon im November 1975 unter marokkanischer Kontrolle. Ein erheblicher Teil der Bevölkerung – vor allem Alte, Frauen und Kinder – flüchtete nach Algerien, wo in grenznahen Lagern bei Tindouf zum Jahresende bereits 70 000 Menschen in schnell errichteten Camps unterkamen. Doch entspann sich nun ein zäher Guerillakrieg zwischen der marokkanischen Armee, die Waffenhilfe aus den USA, Frankreich und Südafrika erhielt, und dem Polisario, der vor allem von Algerien, aber auch von Libyen und Kuba ausgerüstet und ausgebildet wurde.

Schon im Januar 1976 kam es im Nordosten der Westsahara auch zu direkten Gefechten zwischen marokkanischen und algerischen Truppen. Der Polisario aber setzte seine beschränkten Kräfte zunächst vor allem gegen Mauretanien ein, das – wie vertraglich mit Marokko vereinbart – das südliche Drittel der ehemaligen Kolonie besetzt hatte. Als die Guerilla der Sahrauis 1977 die mauretanische Hauptstadt Nouakchott angriff, setzte Frankreich auf Bitten der mauretanischen Regierung Kampfbomber und Fallschirmjäger gegen den Polisario ein.

Doch die Anwesenheit französischer Soldaten führte zu Unmut im Land. Schliesslich putschte der Armeechef 1978 gegen die gewählte Regierung, schloss mit dem Polisario einen Waffenstillstand, und nach einem weiteren Putsch kam es am 5. August 1979 zum Friedensabkommen: Mauretanien versprach, das von ihm besetzte südliche Drittel der Westsahara dem Polisario abzutreten. Eine Woche später fiel die marokkanische Armee auch in diesen Landesteil ein, und König Hassan II., der 1976 schon die nördlichen zwei Drittel zu marokkanischem Territorium erklärt hatte, deklarierte nun auch die Annexion des südlichen Drittels.

Die heftigen Kämpfe zwischen dem Polisario und der marokkanischen Armee setzten sich fort. Aber die Guerilla wurde immer stärker ins Landesinnere verdrängt. Militärisch beruhigte sich die Lage erst, nachdem Marokko nach sieben Jahren Bauzeit 1987 einen drei Meter hohen Sandwall fertiggestellt hatte, der vom äussersten Nordosten der Westsahara bis in den äussersten Südwesten verläuft. Er ist mit Stacheldraht, Millionen von Antipersonen- und Antipanzerminen bewehrt. Über 300 befestigte Stützpunkte erschweren zusätzlich die Überwindung der «Mauer» in der Wüste.

Seither kontrolliert Marokko das Territorium westlich des Sandwalls mit sämtlichen Städten, den reichen Fischgründen und der ergiebigen Phosphatmine bei Bou Craa, insgesamt etwa achtzig Prozent der Westsahara. Die übrigen zwanzig – wirtschaftlich uninteressantes Gebiet mit einigen Oasen – kontrolliert der Polisario. Dieser hatte schon 1976 die Demokratische Arabische Republik Sahara (DARS) ausgerufen. Der Schattenstaat mit Staatspartei (Polisario), eigener Verfassung, Währung und Flagge gebietet über die 170 000 Geflüchteten in den Lagern bei Tindouf in Algerien und über etwa 30 000 Menschen, die in der Wüste zwischen dem Sandwall und der algerischen Grenze leben. Faktisch steht die DARS, deren Regierungssitz auf algerischem Boden liegt, vollständig unter der Kuratel Algeriens, das ursprünglich wohl hoffte, über einen Vasallenstaat einen Zugang zum Atlantik zu erhalten.

Längst Fakten geschaffen

1991 wurde schliesslich ein Waffenstillstand vereinbart – der Krieg hatte inzwischen über 10 000 Menschen das Leben gekostet. Im selben Jahr nahm die Uno-Mission Minurso ihre Arbeit auf. Das Mandat bestand im Wesentlichen darin, mit ungefähr 200 Militärbeobachter:innen am etwa 2000 Kilometer langen Sandwall den Waffenstillstand zu überwachen. Und ein Referendum zu organisieren, bei dem die Bevölkerung entscheiden soll, ob sie in einem eigenen unabhängigen Staat oder unter marokkanischer Herrschaft leben will. Zu einem solchen Referendum kam es bis heute allerdings nicht.

Marokko und der Polisario konnten sich nie darauf einigen, wer zur abstimmungsberechtigten Bevölkerung gehört, ob nur die alteingesessenen Sahrauis oder auch Sahrauis, die aus dem Süden Marokkos zugezogen waren, oder gar alle Bewohner:innen des umkämpften Gebiets. 1996 sistierte die Minurso schliesslich die Registrierung potenzieller Wähler:innen. Und 2001 sprach der Uno-Sicherheitsrat, der sich jährlich mit der Lage in der Westsahara beschäftigt, das letzte Mal von einem Referendum, bestätigte aber seither in jährlichen Resolutionen das Recht der Bevölkerung der Westsahara auf Selbstbestimmung.

Der Polisario besteht weiterhin auf diesem völkerrechtlich verbrieften Recht. Marokko hingegen lehnt jede Volksbefragung kategorisch ab und präsentierte 2007 einen Vorschlag: Der Westsahara wird eine Autonomie innerhalb Marokkos zugestanden, ein eigenes Parlament, zuständig für Kultur, Bildung, Infrastruktur und Umwelt. Verteidigungs-, Aussen- sowie Währungspolitik bleiben Aufgabe des Zentralstaats. «Wir werden auf kein einziges Sandkorn unseres Territoriums verzichten», bekräftigte Mohammed VI., der seinem Vater Hassan II. 1999 auf den Thron gefolgt war.

Auf dem Boden hat Marokko ohnehin längst neue Fakten geschaffen. Vor dem «Grünen Marsch» bestand die Bevölkerung der Westsahara aus 75 000 Sahrauis und 30 000 spanischen Soldaten und Verwaltungsbeamt:innen. Heute leben über 600 000 Personen in der Westsahara, davon 180 000 marokkanische Soldaten und – beidseits des Walls – etwa 120 000 Sahrauis. Die übrigen rund 300 000 sind Zuwander:innen aus dem Norden. Marokko hat die völkerrechtswidrig annektierte Sahara völkerrechtswidrig besiedelt, sodass die Bevölkerung der Sahrauis nur noch etwa zwanzig Prozent der Bevölkerung ausmacht. In der Westsahara wächst eine Generation heran, deren Grosseltern einst aus Marokko einwanderten.

Auf welcher Seite im Konflikt das Völkerrecht bislang stand, war klar. Vor einem Jahr hat der Europäische Gerichtshof erneut bestätigt, dass das Handelsabkommen zwischen Marokko und der EU über Fischerei und Landwirtschaft rechtswidrig ist, weil keine Zustimmung der Bevölkerung der Westsahara vorliege. Diese Zustimmungspflicht ergebe sich aus dem Recht auf Selbstbestimmung. Salopp ausgedrückt: Marokko darf keine Fische verkaufen, die ihm nicht gehören. In Zukunft wird es das dürfen. Mit seinem Beschluss vom vergangenen Freitag anerkennt der Uno-Sicherheitsrat faktisch die Souveränität Marokkos über die Westsahara.

Die spektakuläre Wende darf Donald Trump als Erfolg verbuchen. Schon 2020 anerkannten die USA als erster Staat weltweit Marokkos Anspruch auf die Westsahara. Im Gegenzug nahm das Königreich, wie vom US-Präsidenten gewünscht, diplomatische Beziehungen zu Israel auf.

Spanien, das vier Jahrzehnte lang auf einem Referendum der Sahrauis bestanden hatte, knickte zwei Jahre später ein. Der schwer an Covid erkrankte Polisario-Chef Brahim Ghali war zwecks medizinischer Behandlung nach Spanien eingereist, wo er trotz zweier gegen ihn anhängiger Strafverfahren nicht festgenommen wurde. Die königstreue marokkanische Presse tobte. Die Regierung in Rabat zog ihre Grenzbeamten vor Ceuta, einer spanischen Enklave auf dem afrikanischen Kontinent, kurzerhand ab. Innerhalb von 48 Stunden retteten sich über 8000 Migrant:innen auf spanisches Hoheitsgebiet. Ministerpräsident Pedro Sánchez verstand das Signal und fand nun den marokkanischen Vorschlag «die ernsthafteste, realistischste und glaubwürdigste Basis für eine Lösung des Streits».

Weitere zwei Jahre später, 2024, kippte auch Frankreich, das zwischen seinen verfeindeten Exkolonien Algerien und Marokko traditionell auf Äquidistanz bedacht war, es sich also weder mit den einen noch mit den andern verderben wollte. Präsident Emmanuel Macron hatte sich 2021 ernsthaft und wiederholt um eine Aussöhnung Frankreichs und Algeriens bemüht, das erst nach einem jahrelangen Befreiungskrieg, in dem über 300 000 Algerier:innen und 17 000 Französ:innen das Leben gelassen hatten, unabhängig geworden war. Er anerkannte die Verantwortung des französischen Staats für Kriegsverbrechen und bezeichnete den Kolonialkrieg als «Verbrechen gegen die Menschlichkeit» – auch weil er wusste, dass zwei Millionen Menschen in Frankreich algerische Wurzeln haben und er 2022 wiedergewählt werden wollte.

Nachdem Algerien die ausgestreckte Hand ausgeschlagen hatte, gab Macron seine Haltung der Neutralität im Westsaharakonflikt auf. 2024 schrieb er Mohammed VI. einen Brief: «Ich bin der Ansicht, dass Gegenwart wie Zukunft der Westsahara im Rahmen der marokkanischen Souveränität zu sehen sind.» Macron war gewiss über die starre Haltung des algerischen Präsidenten verärgert – aber er sah auch, wo es Geschäfte zu machen gab.

Schon vier Monate nach seinem Schreiben an den marokkanischen König wurde Macron in dessen Palast empfangen. Mit ihm waren zahlreiche Geschäftsleute nach Rabat gereist. Es wurden Wirtschaftsverträge in Höhe von über zehn Milliarden Euro abgeschlossen – Frankreich investierte in die Meerwasserentsalzung, die Herstellung grüner Energie, den Bau von Hochgeschwindigkeitszügen. Diesen Sommer zog auch Grossbritannien nach. Aussenminister David Lammy erklärte bei einem Besuch in Rabat im Juni, der marokkanische Vorschlag einer Autonomie sei «die glaubwürdigste, gangbarste und pragmatischste Grundlage für eine dauerhafte Lösung des regionalen Konflikts». Zudem wurden vierzehn Handelsverträge unterzeichnet. Ein Jahr zuvor hatte Grossbritannien noch auf dem Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis bestanden.

Vergessene Opfer

In der besetzten Westsahara macht sich die politische Wende der wichtigsten europäischen Partner Marokkos bereits bemerkbar. Bei Dakhla, im Süden des Wüstenstreifens, wird ein neuer Seehafen gebaut, der in vier Jahren schon eine Million Container jährlich umschlagen soll. Riesige Windparkanlagen liefern die Energie für eine Entsalzungsanlage, die schon bald der Bewässerung ausgedehnter Gemüseplantagen dienen soll. Marokko investiert stark in die Produktion erneuerbarer Energie und spekuliert darauf, Europa bei der Energiewende zu helfen. In der ehemaligen spanischen Kolonie herrscht Goldgräberstimmung. Dakhla, wo nach dem Abzug Spaniens nur noch 5400 Sahrauis lebten, ist heute mit über 165 000 Einwohner:innen die zweitgrösste Stadt der Westsahara.

Alle Beteiligten wissen, dass es ein Referendum über die Zukunft der Westsahara nie geben wird, erst recht nicht, nachdem sich drei von fünf ständigen Mitgliedern des Uno-Sicherheitsrats auf die Seite Marokkos gestellt und dessen völkerrechtswidrige Annexion der Westsahara akzeptiert haben. Ein Rückzug der Uno aus dem Wüstenstreifen, so fürchten andererseits viele Diplomat:innen, würde die Kriegsgefahr zwischen den beiden hochgerüsteten Staaten Marokko und Algerien erhöhen, zumal der Polisario schon 2020 den Waffenstillstand aufgekündigt hat. Seither verzeichnen die Uno-Beobachter:innen vermehrt Schiessereien, Raketenbeschuss und Angriffe mit Drohnen. Trotzdem hat der Krieg nie wieder die Intensität wie vor dem Bau des Sandwalls erreicht.

Aber unter den jungen Aktivist:innen des Polisario, die in den Flüchtlingslagern aufgewachsen sind, wachsen die Frustration und die Bereitschaft zu einer Eskalation der militärischen Auseinandersetzungen. Über 173 000 sahrauische Geflüchtete leben nach Uno-Angaben in den Camps bei Tindouf, von denen viele seit Jahrzehnten, einige seit einem halben Jahrhundert, in der algerischen Wüste ausharren – abhängig von den Hilfslieferungen des Uno-Welternährungsprogramms. Sie sind die vergessenen Opfer eines weithin vergessenen Konflikts.

Ihr Traum von einem eigenen Staat ist ausgeträumt. Am vergangenen Freitag verlängerte der Uno-Sicherheitsrat zwar das Minurso-Mandat um ein weiteres Jahr, folgte aber mit elf Stimmen ohne Gegenstimme weitgehend dem marokkanischen Vorschlag einer Autonomie. Vom Selbstbestimmungsrecht der Sahrauis, jahrzehntelang in immer neuen Resolutionen des Sicherheitsrats verbrieft, ist nun nicht mehr die Rede. Die Westsahara soll zwar über eine eigene regionale Regierung und ein eigenes regionales Parlament verfügen, aber marokkanischer Hoheit unterstellt werden. Die vetoberechtigten Mitglieder Russland und China enthielten sich, nachdem der ursprüngliche von den USA eingebrachte Entwurf leicht abgeschwächt worden war. Algerien, das zurzeit ebenfalls im Sicherheitsrat vertreten ist, blieb der Abstimmung fern. Nun sollen die Einzelheiten in weiteren Verhandlungen geklärt werden. In einer ersten Reaktion

verlautbarte der Polisario, er werde an keinen Gesprächen teilnehmen, die «die illegale militärische Besetzung der Westsahara» legitimierten.

Auf den Strassen von Marokko aber feierten Tausende den diplomatischen Sieg ihres Landes. Es herrscht ein Freudentaumel im Königreich – wie vor genau fünfzig Jahren nach dem «Grünen Marsch».

Thomas Schmid, Die Wochenzeitung (WOZ)(Zürich), 06.11.2025

© Thomas Schmid