Der Chefredakteur auf dem Baum

Berthony Placide ist wohl der jüngste Chefredakteur der Welt. Gerade sechs Jahre alt ist der „directeur“ von Radyo Timoun (kreolisch für „Kinderradio“), einem Rundfunksender im Karibikstaat Haiti, dem ärmsten Land der westlichen Hemisphäre. Das Radio wird von Kindern des Waisenhauses „Lafanmi Selavi“ („die Familie ist das Leben“) betrieben, das einst vom Armenpriester und späteren Präsidenten des Landes Betrand Aristide gegründet wurde. Über 300 Straßenkinder haben hier ein neues Zuhause gefunden. Kinder machen Radio für Kinder. Soweit die Selbstdarstellung des Projekts, das die Hannoveraner Expo 2000 bei der Eröffnungsveranstaltung am 1. Juni vorstellen will. Die Geschichte schien einer Zeitung eine große Reportage wert, und so machten wir, der Fotograf Michael Najjar und ich, uns auf den Weg in das ferne Land.

Natürlich bereitet man sich vor, so gut man kann. Es war nicht einfach, die Telefonnummer des Radios herauszufinden. Doch schließlich klappte das Ferngespräch. Ja, wir sollten kommen, sagte am andern Ende der Welt die Sekretärin der Fondation Aristide, die „Lafanmi Selavi“, das Heim für Straßenkinder und Waisen unterhält, wir könnten mit den Kindern sprechen, sie bei ihrer Arbeit als Reporter und Moderatoren fotografieren, alles kein Problem, gearbeitet werde auch samstags und sonntags und gesendet 24 Stunden rund um die Uhr.

Donnerstagnachmittag. Wenige Stunden nach der Landung in Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, stelle ich mich im Gebäude der Aristide-Stiftung, das etwa 15 Kilometer außerhalb des Stadtzentrums liegt, vor. Die Sekretärin erinnert sich ans Telefongespräch vor einer Woche, ist ausgesprochen zuvorkommend. Sie sagt, das Studio im Waisenhaus, das sich im Stadtzentrum befindet, sei defekt, gesendet werde deshalb aus einem Studio hier draußen im Stiftungsgebäude, wir sollten doch morgen um zehn Uhr kommen, könnten dann mit den Kindern reden, sie bei ihrer Arbeit sehen und Fotos machen.

Freitagmorgen. Um zehn Uhr treffen wir im Gebäude der Aristide-Stiftung ein. Monsieur Toussaint Hilaire, in der Stiftung zuständig für Radyo Timoun, empfängt uns, erklärt uns die pädagogischen Intentionen, die mit dem Sender verfolgt würden, spricht davon, wie wichtig es sei, die Probleme der Kinder ernst zu nehmen. Deshalb übrigens – „die Kleinen sind bei uns die Großen“ – habe man den sechsjährigen Berthony Placide zum Chefredakteur von Radyo Timoun ernannt. 300 bis 400 Kinder seien im Haus von „Lafanmi Selavi“ untergekommen, etwa 20 von ihnen würden das Radio machen. Alles sehr beeindruckend. Wir übergeben dem Mann die Plastiktüte mit einem halben Dutzend Aufnahmegeräten, die wir in Berlin unter Freunden gesammelt haben, und mit etwa hundert neuen Batterien. Das Kinderradio sei um jede materielle Hilfe froh, hatten wir auf der Web-Site der Stiftung (http://www.fonaristide.org“) gelesen, gebraucht würden unter anderem Aufnahmegeräte und Batterien. Nun wollten wir aber mit den Kindern reden und Fotos machen. Die seien leider noch nicht hier, sagt Hilaire, kämen erst nachmittags, um 15 Uhr werde gesendet. Wir sollten doch dann wieder kommen.

Freitagnachmittag. Pünktlich um 15 Uhr sind wir wieder bei der Aristide-Stiftung. Wir erfahren, dass wegen technischer Probleme leider nicht gesendet werden könne. Auch seien keine Kinder hier. Die seien alle unten in der Stadt, in „Lafanmi Selavi“. Die Bitte, wenigstens die Studios schon mal fotografieren dürfen, wird abschlägig beschieden. Es liege keine Autorisierung vor. Just als wir, leise auf die Bürokratie schimpfend, frustriert das Gelände verlassen wollen, kommen zwei junge Männer auf uns zu. Sie tragen Presseausweise von Radyo Timoun an ihren T-Shirts. Der eine stellt sich als Wender Lavaud alias „Dadikiu“ vor, der andere als Gerald Thernise alias „Mc Vague“. Die Moderatoren trügen hier alle Künstlernamen. Beide sind 19 Jahre alt. Keine Kinder zwar, aber immerhin von Radyo Timoun. Wir reden ein bisschen. Während des Gesprächs werden die beiden von einem Mann unauffällig kurz weggewunken, kommen wieder zurück. Schließlich wollen wir die beiden Moderatoren fotografieren. Immerhin der erste Beweis für uns, dass es Radyo Timoun gibt. „Wir müssen erst um Autorisierung nachfragen“, sagt der eine. Zum Abschied verspricht „Mc Vague“, uns am Samstag um 12 Uhr zu den Kindern von „Lafanmi Selavi“ zu bringen. Dort würden wir auch den sechsjährigen Chefredakteur Berthony Placide kennenlernen.

Samstag. „Mc Vague“ ist rechtzeitig beim Hotel vorbeigekommen. Doch schlägt er vor, statt zum Waisen- und Straßenkinderheim zu ihm nach Hause zu gehen, wo vier Kinder seien. Wir bestehen darauf, „Lafanmi Selavi“ aufzusuchen, und um 12 Uhr stehen wir am eisernen Tor des Heims. Zwei bewaffnete Männer kontrollieren unsere Taschen. Immerhin wurde „Lafanmi Selavi“ 1991, als die Militärs Präsident Aristide von der Macht putschten, von Paramilitärs angegriffen. Vier Kinder kamen damals ums Leben. Durchaus verständlich also, dass man nun aufpasst. Befremdlicher hingegen, dass wir kein einziges Kind antreffen. „Dürfen wir wenigstens das defekte Studio sehen und Aufnahmen machen?“ Nein. Keine Autorisierung. Nachdem wir gesagt haben, dass wir irgendwelche Fotos für die Reportage brauchen und am Sonntag nach Europa zurückfliegen, sagt man uns, dass die Kinder am Montag aus dem Urlaub zurück seien. Wo 300 bis 400 elternlose Kinder im bitterarmen Haiti ihren Urlaub verbringen, kann uns niemand verraten.

Eine Frau fährt im Innenhof des Heims vor. Wir fragen sie nach den Kindern. Sie kämen am Montag zurück, sagt auch sie. Aber sie habe jetzt keine Zeit für ein Gespräch, sie müsse dringend in die Stiftung raus, weil dort um 13 Uhr gesendet werde. Trifft sich gut. Wir wollten sowieso die Kinder beim Senden fotografieren. Die Frau greift zu ihrem Handy und ruft in der Stiftung an. Um 13 Uhr erwarte uns Monsieur Plantin, wir könnten dann Aufnahmen machen und mit den kleinen Reportern reden. In einer halben Stunde also. Da uns die Frau nicht in ihr Auto steigen lassen mag – „mit Ausländern zu fahren, ist für mich zu gefährlich“ – nehmen wir ein Taxi und sind pünktlich, zum vierten Mal innerhalb von 48 Stunden, in der Stiftung. Dort sagt man uns, Herr Plantin, von dem wir das erste mal vor einer halben Stunde überhaupt gehört haben, habe eine geschlagene Stunde vergeblich auf uns gewartet und sei gegangen. Die Sendung sei bereits gelaufen. „Dürfen wir wenigstens das Studio fotografieren?“ Man lässt nachfragen. Nach einer halben Stunde kommt der Bescheid. „Tut uns leid. Es gibt keine Autorisierung.“ Die Mitarbeiter der Stiftung werden zunehmend unfreundlicher.

Sonntag. Die Reportage können wir dem Auftraggeber nicht liefern. Weder haben wir ein Straßenkind gesehen noch ein Studio fotografieren dürfen. Aber die Zeitung in Deutschland hat die Reise bezahlt. Also beschließen wir, etwas anderes anzubieten. Wir nehmen uns vor, zehn Kinder, die wir auf der Straße antreffen, zu interviewen und zu porträtieren. Da wir des Kreolischen nicht mächtig sind und nur eine Minderheit der Erwachsenen französisch spricht, engagieren wir einen Übersetzer. Sieben Kinder haben wir schon interviewt und fotografiert, als wir in der Krone eines Baumes auf dem Champ de Mars, dem Park im Stadtzentrum, einen Jungen sitzen sehen. „Hej, dürfen wir ein Foto machen?“ Der Kleine strahlt. „Wie heißt Du?“ – „Berthony.“ – Ja, es ist Berthony Placide. Der angeblich sechsjährige Chefredakteur von Radyo Timoun. Sein Alter kennt er so wenig wie seinen Geburtstag. Aber er dürfte etwa neun Jahre zählen. Um ihn sind andere Kinder aus „Lafanmi Selavi“ versammelt. Der kleine Berthony scheint auch hier der Boss zu sein. Die andern halten sich an seine Anweisungen. Im letzten Jahr, wann genau, weiß Berthony nicht mehr, kam es im Waisenheim zu einem Aufstand. „Wir schmissen Steine“, berichtet er mit Stolz, „und die Polizei setzte Tränengas ein.“ Seither schlafe er, wie früher, wieder auf der Straße. Und seine kleinen Kumpel auch. Mit dem Radio habe er nichts mehr zu tun.

Roger Gaillard, der bekannteste Historiker Haitis, wohnt schräg gegenüber dem eisernen Tor, hinter dem sich „Lafanmi Selavi“ befindet. Früher habe es da viele Kinder gegeben und auch das Radio, sagt er. Doch im vergangenen Juni, vor neun Monaten also, hätten Jugendliche, die früher einmal in Lafanmi Selavi gelebt hätten, das Waisenhaus besetzt. Sie hätten dagegen protestiert, dass man ihnen Arbeit versprochen habe und sie keine gekriegt hätten. Außerdem hätten sie behauptet, dass die Stiftung Hilfsgelder fürs Radio anderweitig verwendet habe. Jedenfalls hätten sie vom Dach aus Steine auf die Straße geschmissen. Die Polizei habe eingegriffen. Seither seien seines Wissens keine Straßenkinder mehr da. Gaillards Frau, die das deutsch-haitianische Kulturinstitut leitet, hat einen der faustgroßen Steine, die zu ihr herüberflogen, bis heute aufbewahrt. Auch der Korrespondent von Agence France Presse bestätigt die Ereignisse vom Juni. Eine dritte seriöse Quelle behauptet, der Anführer der Jugendlichen sei später erschossen worden, ohne dass es juristische Ermittlungen gegeben habe.

Fazit: „Lafanmi Selavi“, das Heim für Straßenkinder, das Heim, in dem Kinder für Kinder Radiosendungen machen, gibt es seit neun Monaten nicht mehr. Aber es gibt wohl ein Radyo Timoun, das aus dem Gebäude der Aristide-Stiftung sendet. Es gibt Musik, ab und zu auch gesprochene Beiträge. Vermutlich werden junge Männer wie „Dadikiu“, „Mc Vague“ und andere immer wieder für neue Musik sorgen. Vielleicht bringen sie auch hin und wieder ein Kind vors Mikrophon. Und es gibt die Homepage, auf der die Fondation Aristide bittet, Spenden für das Radio der Straßenkinder an ihre Außenstelle in Miami, Florida, zu senden. „Alle Spenden sind steuerabzugsfähig“, heißt es dort, „Radyo Timoun braucht sowohl materielle Hilfe wie finanzielle Spenden.“ Wieviele Spendengelder sie fürs Radio im letzten Jahr eingenommen hat, mochte die Fondation nicht verraten. Als ob es sich um eine unanständige Frage handeln würde.

Nachtrag. Sonntagabend: Am Hoteleingang, draußen auf der Straße, passt mich ein junger Mann ab. Ich kenne ihn nicht, habe ihn nie gesehen. „Lassen Sie ihre Nachforschungen sein“, sagt er nur, „stecken Sie die Nase da nicht weiter rein, es ist besser für Sie.“

Thomas Schmid, Frankfurter Runschau, 24.03.2000

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