Die Schergen des Priesters

Der Baron Samedi kümmert sich nur um die Seelen, für die leiblichen Überreste der Dahingeschiedenen scheint der Vaudou-Gott des Todes nicht zuständig zu sein. Auf dem Zentralfriedhof von Port-au-Prince, der Hauptstadt Haitis, haben der Baron und seine Frau, die Grande Brigitte, zwar ihren festen Stammplatz, der durch zwei steinerne Kreuze markiert ist. Doch fast jedes zweite Grab ist aufgebrochen. Hin und wieder stösst der Besucher auf Knochen und Totenschädel, die achtlos zwischen Gräber geworfen wurden. „Die Verstorbenen werden schon längst ohne jeden Schmuck beerdigt“, sagt Alphonse, der den Friedhof pflegt, „gestohlen werden nun die Särge.“ Ein einträgliches Geschäft. Denn in Haiti, wo selbst die Toten nicht zur Ruhe kommen, ist es auch um die Sicherheit der Lebenden schlecht bestellt.

Nicht nur die „Zenglendos“, die mit Vorliebe in Banden auftreten und Häuser, Marktstände oder Busse überfallen, verbreiten in diesen Tagen Angst und Schrecken. Auch die „Chimären“ haben sich wieder zurückgemeldet, Schlägerbanden und Killerkommandos im Dienste Jean-Betrand Aristides, des radikalen Armenpriesters, der nach den ersten freien Wahlen im Karibikstaat 1990 Präsident geworden war. 1991 hatten ihn die Militärs von der Macht geputscht, 1994 kam er auf den Bajonetten der US-Armee zurück. Ein Jahr später lief seine reguläre Amtszeit aus, und da die Verfassung eine direkt anschliessende zweite Amtszeit verbietet, musste er fünf Jahre pausieren. Sein früherer Ministerpräsident Rene Preval übernahm das Amt, doch die eigentliche Macht liegt weiterhin  in „Tabarre“ – das Wort bezeichnet eigentlich ein Aussenviertel der Hauptstadt, ist aber längst zum Synonym für Aristide, der dort seine prunkvolle Residenz bauen liess, und seinen Klüngel geworden . Am kommenden Sonntag wird nun im ärmsten Land der westlichen Hemisphäre gewählt. Am Sieg des „Baron von Tabarre“ gibt es keinen Zweifel. Gegen Aristide tritt ein halbes Dutzend Kandidaten an, die im ganzen Land niemand kennt. Von Wahlkampf ist nichts zu spüren: keine Versammlungen, keine Reden, nur irgendwo verstohlen ein Plakat Aristides: „La pe nan tet, la pe nan vant“ (Frieden im Kopf, Frieden im Bauch).

Die Opposition boykottiert den Urnengang, nachdem die Resultate der ersten Runde der Parlamentswahlen vom vergangenen Mai so massiv gefälscht wurden, dass selbst die USA, Kanada und die EU eine Neuauszählung forderten. Vergeblich. Bei der zweiten Runde im Juli trat schliesslich Lavalas, die Partei Aristides, allein an, und seither hat Haiti ein Parlament, dessen Mitglieder alle demselben Lager angehören. Dabei haben die wichtigsten Führer der oppositionellen Parteien einst Aristides Machtantritt begrüsst und seine Rückkehr aus dem Exil gefordert. Zum Beispiel Micha Gaillard, Führer der sozialdemokratischen KONAKOM, der im Mai Bürgermeister der Hauptstadt werden wollte. Ob er es geworden wäre, wenn die Stimmen korrekt ausgezählt worden wären, muss offen bleiben. Gaillard nennt drei Bedingungen für eine Teilnahme an den Präsidentschaftswahlen: Neuauszählung der Stimmen bei den Parlamentswahlen, Neuzusammensetzung der Wahlkommissionen, die fast alle von Lavalas kontrolliert werden, und vor allem Sicherheit – und das heisst Schluss mit dem Terror der Chimären. Gaillard getraut sich nur noch in Begleitung von Leibwächtern auf die Strasse. Die Kinder haben sich an den bewaffneten Freund, der in seinem Garten patroulliert, längst gewöhnt.

In der griechischen Mythologie sind die Chimären schnaubende Ungeheuer. Im Kreolischen, der Landessprache Haitis, heisst „m’an chime“ soviel wie „ich bin wütend“. Die ersten Chimären sind Mitte 90er Jahre in Cite Soleil, dem grössten Slumviertel von Port-au-Prince, aufgetaucht. Im vergangenen Jahr randalierten sie immer wieder bewaffnet im Stadtzentrum, liessen Aristide hochleben und verlangten den Rücktritt von Robert Manuel, dem damaligen Staatssekretär für öffentliche Sicherheit. Dass dieser gegen wichtige Drogenhändler vorgehen wollte, die auch Freunde im Machtklüngel von Tabarre hatten, war in Port-au-Prince ein offenes Geheimnis. Schliesslich gab Manuel auf. Am Tag nach seinem Rücktritt wurde Jean Lamy, ein hoher Polizeioffizier ermordet, und am Tag darauf flüchtete der eben zurückgetretene Staatssekretär, der von Danny Toussaint, einem Lavalas-Führer und früheren Armee-Oberst, des Mordes an Lamy bezichtigt wurde, unter starkem Polizeischutz ins Exil. Es spricht alles dafür, dass Aristide, der sich von seinen gewalttätigen Anhängern nicht distanzierte, die Chimären einsetzte, um die Polizei, nach der Auflösung der Armee einzige Ordungskraft im Land, strikt auf die Parteilinie zu verpflichten. Und vor allem soll sie die Nase nicht in Dinge stecken, die sie nichts angehen.

Vor vier Wochen sprang Jean-Jacques Nau, Polizeichef von Delmas, einem Vorort von Port-au-Prince, dem Tod von der Schippe. Er hatte Ronald Camille, genannt „Kadaver“, einem der bekanntesten Chimären, die Waffe abgenommen. Noch am selben Tag schlug „Kadaver“ zurück. Beinahe wäre es ihm gelungen, den Polizeichef dem „Pere Lebrun“ zu überantworten. Lebrun ist der Reifenlieferant Haitis und die brennende „Halskrause“ eine populäre Form der Lynchjustiz. Nau und weitere sechs Polizeioffiziere flüchteten in die nahe Dominikanische Republik. Seither redet das Regime, ohne auch nur die geringsten Indizien vorzubringen, von einem versuchten Staatsstreich der sieben Polizisten, die alle Manuel nahegestanden haben.

Anfang November wurde eine Versammlung von Jean-Baptiste Chavannes, dem bekanntesten Bauernführers Haitis, von bewaffneten Chimären gesprengt. Chavannes, ein früherer Anhänger Aristides, heute in der Opposition zu ihm, überlebte den Feuerüberfall unverletzt. Und in Port-au-Prince fallen täglich Schüsse. Einmal verletzen sie Kinder, die vor der Schule herumstehen, einmal töten sie Passanten, die an einer Bushaltestelle warten. Purer Terror.

Auch Michele Montas, seit der Ermordung ihres Mannes Jean Dominique Eignerin und Direktorin von „Radio Haiti inter“, hat die Chimären kennengelernt. Nach dem Mord an Lamy und der Flucht Manuels, kamen sie ins Radio und verlangten, am Mikrofon ihre Sicht der Ereignisse verkünden zu dürfen. Dominique lehnte ab. „Am nächsten Tag haben sie vor unserem Radio zwei Stunden lang demonstriert und wüste Beschimpfungen ausgestossen“, erinnert sich die Witwe, „sie sperrten die Strasse mit Autos, die Danny Toussaint gemietet hatte.“ Dominique kritisierte in mehreren Radiosendungen das Machtgeflecht von Tabarre und griff insbesondere Toussaint an. Am 3. April wurde der Journalist im Hof vor dem Rundfunkgebäude erschossen. Mit ihm verstummte eine Stimme, die vier Jahrzehnte lang für Meinungs- und Redefreiheit gekämpft hatte. Der Diktator Jean-Claude Duvalier alias „Baby Doc“ hatte 1980 den aufmüpfigen Sender geschlossen. Dominique musste ins Exil und kehrte erst mit dem Machtantritt Aristides nach Haiti zurück, ging nach dem Putsch gegen Aristide erneut ins Exil und kam mit ihm wieder zurück. Dominique war mit dem Ex-Präsidenten befreundet. „Aristide hat bestimmt nicht die Ermordung meines Mannes angeordnet“, sagt Michele Montas, die 27 Jahre lang mit ihm zusammengearbeitet hat und immer noch schwarz trägt, „aber was mich irritiert, ist sein Schweigen zum Terror der Chimären. Vielleicht waren es die Chimären, vielleicht auch die alten Duvalieristen, die nun das Verbrechen den Chimären anlasten.“ Toussaint weigerte sich vergangene Woche, vor dem Richter, der im Mordfall ermittelt, zu erscheinen.

Paul Evans kennt Aristide seit dem gemeinsamen Kampf gegen die Duvalier-Diktatur. Er wurde gefoltert und hat sich jahrelang im Land versteckt gehalten. 1990 leitete er die Wahlkampagne des Armenpriesters. Nach dessen Sieg wurde er Bürgermeister von Port-au-Prince. Heute führt er eine kleine Oppositionspartei an, deren Büro just am Tag der Beerdigung von Jean Dominique am helllichten Tag von Unbekannten in Brand gesetzt wurde. „Die Polizei stand daneben und griff nicht ein“, sagt Evans. Sein Haus sichert seither ein halbes Dutzend bewaffneter Männer – keine Polizisten. „Aristide wurde schon in früher Kindheit aus seiner Familie herausgerissen“, erinnert sich Evans, „er fühlte sich zu kurz gekommen und erniedrigt. So stand ihm der Sinn immer nach Rache. Er braucht immer die Konfrontation. Er ist ein Demogage. Ob er die Chimären kontrolliert? Jedenfalls toleriert er sie.“ Evans vergleicht die Chimären umstandslos mit den „Tontons macoutes“, der mörderischen Privatmiliz der Duvalier-Diktatur, die fast drei Jahrzehnte lang das Land terrorisiert hat. Der Vergleich hinkt gewiss. Doch zumindest die Funktion ist dieselbe: Die Opposition soll eingeschüchtert und gelähmt werden.

Dass Aristide von Parlament und institutionellen Kontrollmechanismen nicht viel hält, hat er in den Jahren seiner Amtszeit und auch danach zur Genüge bewiesen. Er zählt auf die verarmten Massen, und die sind im Land allemal in Mehrheit. Für viele Leute in den ausufernden Slums der Hauptstadt ist er der Messias, von dem sie die Erlösung aus ihrer Misere erwarten. Hier unter den Ärmsten der Armen werden auch die Chimären rekrutiert. Zum Beispiel in Cité Soleil, das vielleicht 300 000 Einwohner zählt oder auch 400 000 – so viel wie ganz Zürich. Es gibt kein fliessendes Wasser, nur Tankwagen, vor denen sich endlos lange Schlangen von Menschen mit Kanistern bilden. Bloss ein kleiner Teil des Slums ist an die Kanalisation angeschlossen. Nach einem tropischen Regenguss steckt das ganze Viertel in einer stinkenden Kloake. Obwohl schon seit einer Woche kein Tropfen gefallen ist, liegen zwischen den Häusern und auf den löchrigen und ungepflasterten Strassen trotz der infernalischen Hitze noch immer überall grosse Pfützen, Brutstätten für Mücken aller Art.

Der Pfarrer, der gerade die Messe für einen jungen Mann gelesen hat, der wie so viele hier an Aids gestorben ist, kennt Cite Soleil wie seine Hosentasche. Er ist hier augewachsen. Er erzählt, wie Francois Duvalier alias „Papa Doc“ 1958 ein ganzes Stadtviertel in Brand setzen ließ, um die Leute zur Gründung der neuen Siedlung zu zwingen, die damals noch – nach der First Lady benannt – Cite Simone hiess. Doch über die aktuelle Politik mag der Gottesmann nicht reden – jedenfalls nicht in Anwesenheit des jungen Mannes, der in zerlumpten Klamotten in der Sakristei aufgetaucht ist. Die Chimären, sagt dieser auf direkte Nachfrage, seien die Stosstrupps Aristides, und dann fällt er ins Wir: „Wir sind die Aufständischen, wir setzen die Regierung unter Druck, damit sie ihre Versprechen einhält, wir sind organisiert, wir bestrafen die Übeltäter, wir sind die Volksmacht.“ Schliesslich bietet er eine Besichtigung der Waffenfabrik an. Viele im Viertel seien mit hausgemachten Flinten ausgerüstet. Der Pfarrer rollt nur bedeutungsvoll die Augen, um vor einem Besuch zu warnen. Amerikaner, sagt er später, würden von diesen Burschen gnadenlos ausgeraubt. Und für die schwarze Bevölkerung hier sind alle Weissen eben Amerikaner.

Jedes Haus im Viertel zahle seinen Beitrag für die Sicherheit, behauptet der Altardiener, der seinen Namen so wenig nennen will wie der Pfarrer. Man müsse sich schliesslich vor den „Zenglendos“, den Kriminellen, die oft aus andern Vierteln hier auftauchten, schützen. „Und was passiert, wenn einer erwischt wird. „Der wird totgemacht“, sagt der Halbwüchsige mit der allergrössten Selbstverständlichkeit, „die Polizei würde ihn ja ohnehin gleich freilassen.“ So etwa alle zwei Wochen im Schnitt werde im Viertel ein „Zenglendo“ erschossen oder mit der Machete zerhackt. Der Pfarrer nickt. „Wir haben alle Angst hier“, sagt er schliesslich, „vor den Zenglendos und auch vor den Chimären. Ein Wort zuviel kann manchmal tödlich sein.“ Aristide hält er für einen gefährlichen Hasardeur. Aber die Leute hier werden ihn wählen. Er ist einer von ihnen, auch wenn er inzwischen in einem luxuriösen Palast am Rand von Port-au-Prince lebt. Auch dass der ehemalige Armenpriester geheiratet hat, gereicht ihm nicht zum Schaden, allenfalls wirft man ihm vor, keine Schwarze, sondern eine Mulattin aus der Oberschicht, „eine von denen“, geehelicht zu haben.

Thomas Schmid, „Die Zeit“, 23.11.2000

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