Applaus für die Mörder

In Oiartzun ist die baskische Welt noch in Ordnung. Am Rathaus des Dorfes im hügeligen Hinterland von San Sebastian hängen grosse Konterfeis von zehn Mitgliedern der ETA, und an den Häuserwänden steht dutzendfach „Garzon fascista“ mit einem Fadenkreuz über dem Schriftzug. Hier die Guten, dort die Bösen. Hier die Basken, dort die Spanier. Die bewaffnete Untergrundorganisation stösst auf Sympathie, der Staatsanwalt aus Madrid hingegen, der jüngst das Verbot von „Batasuna“, dem politischen Arm der ETA durchgesetzt, ist zum Abschuss freigegeben. In der Empfangshalle des Rathauses ist ein Muster der baskischen Identitätskarte ausgestellt, die sich hier jeder Baske besorgen kann. Zwar wird der Ausweis weder in Spanien noch im Ausland anerkannt, aber bei der Suche nach einer Wohnung oder einem Arbeitsplatz mag es ja mitunter von Vorteil sein, wenn man sich als waschechten Basken ausweisen kann und nicht zu den „Espanolistas“ gehört, wie hier die Spanier (die „Espanoles“ abschätzig genannt werden, die schon vor Generationen oder vielleicht auch erst jüngst eingewandert sind und im Baskenland längst die Mehrheit stellen. Oiartzun jedenfalls ist noch immer fest in baskischer Hand. Von den 13 Gemeinderäten gehören acht – wie auch der Bürgermeister des Ortes – der linksnationalistischen „Batasuna“ an und die restlichen fünf gemässigteren nationalistischen Parteien.

Auch  in der Taverne unterhalb des Dorfplatzes hängen die Fotos der zehn ETA-Terroristen, die alle aus Oiartzun stammen und die alle in spanischen Gefängnissen einsitzen, im Ausland also, im „spanischen Staat“, wie man hier sagt. Neben der Kasse steht eine Sparbüchse. Es wird um Spenden für die Gefangenen gebeten. Die kleinen Papierservietten, mit denen man sich die „Pintxos“, die baskischen Leckerbissen, von der Theke greift, tragen die Aufschrift „Euskal Herria“, was so viel wie „Baskenland“ heisst und womit – die aufgedruckte Karte zeigt es – neben den drei Provinzen des spanischen Baskenlandes auch noch Navarra und drei Provinzen Südfrankreichs gemeint sind. Auf der Toilette der Taverne findet man, wie weltweit üblich, politische und obszöne Schmierereien – aber hier natürlich ausschliesslich in Euskera, der baskischen Sprache, zum Beispiel „Gora ETA!“ – „Es lebe die ETA!“

Die ETA praktiziert die Todesstrafe

Die ETA lebt – und tötet. Mindestens 852 Personen sind ihrem Terror bereits zum Opfer gefallen – durchsiebt von Gewehrsalven, hingerichtet per Genickschuss oder zerfetzt von einer Bombe. Der Waffenstillstand, den sie im September 1998 einseitig ausgerufen hatte, entpuppte sich als kurzes Intermezzo. Im Januar 2000 nahm die Organisation ihr mörderisches Handwerk wieder auf. Seither hat sie schon wieder 41 Menschen umgebracht, zuletzt schlug sie am 4. August zu. Da starben der 57jährige Cecilio Gallego und die sechsjährige Silvio Martinez, als in einem Touristenort an der Mittelmeerküste ein mit Sprengstoff gefülltes Auto in die Luft flog. Deutschlands „Rote Armee Fraktion“ (RAF) und Italiens „Rote Brigaden“ sind Geschichte. Die nordirische IRA verhandelt um Frieden. Bloss in Spanien schiessen und morden 27 Jahre nach dem Ableben des Diktators Francisco Franco die Terroristen noch immer. Weshalb bloss? Und vor allem: wie kommt es, dass eine Partei, die mit dieser Terrortruppe offensichtlich verbandelt ist, im Baskenland noch immer von zehn Prozent der Bürger gewählt wird?

Cristina Cuesta mag solche Fragen nicht mehr hören. „Immer wird nach den Ursachen gefragt“, ereifert sich die 40jährige und schüttelt resolut ihr rötliches Haar in den Nacken, „nie nach den Folgen.“ Es gibt soziologische Erklärungsversuche: die forcierte Immigration aus dem übrigen Spanien bedroht die baskische Identität. Es gibt historische Gründe: die ETA hat sich mit ihrem heroischen Widerstand gegen die Diktatur die Herzen der Basken erobert. Aber die Toten lassen sich nicht wegdiskutieren. Es gibt sie, und es sind längst nicht mehr die Schergen des Franco-Regimes, sondern Polizisten, Journalisten, Unternehmer, Lehrer, Taxifahrer und Kinder in einem demokratischen Staat, der die Todesstrafe abgeschafft hat. Diese wird nur noch von der ETA praktiziert. Cristina Cuesta war 20 Jahre alt, als 1982 ihr Vater hingerichtet wurde. Sein einziges Vergehen: er war Repräsentant der Telefongesellschaft des verhassten spanischen Staates in San Sebastian. Die Kugeln der Mörder trafen ihn um drei Uhr nachmittags 50 Meter von seinem Haus entfernt, als er nach der Siesta sich zur Arbeit begeben wollte. Antonio Gomez, der Leibwächter, den man ihm nach der Ermordung seines Vorgängers zugestanden hatte, erlag drei Tag später seinen Verletzungen ebenfalls.

Der Terror der ETA hat im Baskenland ein Klima von Angst und Resignation geschaffen. Doch Cristina Cuesta liess sich nicht einschüchtern. Vier Jahre nach der Ermordung ihres Vaters gründete sie eine Friedensinitiative. Heute ist sie Sprecherin des „Vereins der Opfer des Terrorismus im Baskenland“, in dem sich über 800 Menschen zusammengefunden haben, die sich gegen den Wahnsinn wehren. „Wir müssen unsere Angst überwinden“, sagt sie, „wir müssen dafür kämpfen, ein Leben in Würde führen zu können.“ Von den baskischen Nationalisten sprüht der mutigen Frau nur Verachtung entgegen. „Wer hier für den Rechtsstaat eintritt“, fasst sie ihre Erfahrungen zusammen, „gilt als Spanier und hat eigentlich hier nichts zu suchen.“ Seit Jahren bewegt sich Cristina Cuesta im Baskenland nur noch mit bewaffnetem Geleitschutz.

Auch Fernando Savater, Spaniens wohl bekanntester Philosoph, kann seine bescheidene Wohnung am Rand der Altstadt von San Sebastian seit Jahren nicht mehr ohne Bodygard verlassen. Nicht einmal, um die Strasse zu überqueren und am Kiosk eine Zeitung zu kaufen. In Zimmer und Korridor stehen Hunderte von skurrilen Figuren auf Regalen, Tischen und Simsen, oder baumeln von Wänden und Decken: Krieger, Ritter, Clowns, Teufel, Gespenster und Skelette als ob es darum ginge, das Böse zu bannen. „Nur so eine Marotte“, wehrt der Philosoph die Frage nach dem Sinn des beeindruckenden Pandämoniums lachend ab. Überhaupt ist der hoch gefährdete Mann recht entspannt, empfängt den Reporter gut gelaunt im Bademantel und wirkt wie einer, der das Leben aus vollen Zügen geniesst. Für den baskischen Nationalismus hat er nur Spott übrig: „Ach, Sie sind gekommen, um über die Basken, die letzten Eingeborenen Europas, zu recherchieren.“

Wer ist Baske?

Savater ist vielleicht der gefährlichste Feind der ETA. Seit Jahren schreibt er gegen den Terror an. Seine häufigen Kommentare in der Tagespresse zeichnen sich durch Witz und Biss aus. Als der baskische Justizminister Sabin Intxaurraga, ein moderater Nationalist, jüngst meinte, die Gesetze taugten nichts, um die ETA zu bekämpfen, solange man „das grundsätzliche politische Problem“ nicht löse, erwiderte der Philosoph sarkastisch: „Zu behaupten, hinter dem baskischen Terror gebe es ein politisches Problem, ist etwa so erhellend und tiefsinnig wie die Aussage, hinter einem Banküberfall gebe es ein ökonomisches Problem, das einer Lösung harrt.“ Vor drei Jahren hat der Philosoph zusammen mit andern Gleichgesinnten die Initiative „Basta ya!“ („Jetzt reicht es!“) gegründet, die inzwischen Hunderttausende zum öffentlichen Protest gegen die ETA mobilisiert hat und vom Europäischen Parlament vor zwei Jahren mit dem Sacharow-Preis geehrt wurde.

Es gibt in ganz Europa wohl keine Region, die sich einer so weit gehenden Autonomie erfreut wie das Baskenland. Doch das reicht nun mal vielen nicht. Das politische Problem, von dem der baskische Justizminister sprach, ist der Wunsch vieler Basken nach einem eigenen Staat. Die ETA und ihr politischer Arm „Batasuna“ sprechen seit Jahrzehnten vom Recht des baskischen Volkes auf Unabhängigkeit und fordern ein Referendum. „Wer aber ist Baske? Wer ist das politische Subjekt, das das Recht auf Unabhängigkeit wahrnehmen soll?“, fragt Savater, der 1947 in San Sebastian als Sohn einer Frau aus Madrid und eines Mannes aus Granada geboren wurde. Wer ist gemeint, wenn auf den Hausmauern von San Sebastian und Bilbao Spanier zum Teufel (oder gar vor die Gewehrläufe der ETA) gewünscht werden? Für Xabier Arzallus, den Präsidenten der PNV, der Partei der gemässigten baskischen Nationalisten, die auch den Präsidenten der autonomen Provinz Baskenland stellt, ist die Sache klar: „Die Immigranten, die die baskische Nationalität nicht haben wollen, werden so behandelt wie heute beispielsweise die Deutschen in Mallorca.“ Da wittert der Philosoph den Wunsch nach „ethnischer Reinheit“ und also die Bereitschaft zu „ethnischer Säuberung“. Und selbst wenn die baskischen Nationalisten – was sie nie tun – als Basken all jene begreifen würden, die, welcher Sprache und Herkunft auch immer, mit spanischem Pass auf dem Territorium des heutigen Baskenlands leben, ja selbst dann wäre der Philosoph gegen ein Referendum: „Erst muss ein Klima hergestellt werden, in dem öffentlich und angstfrei diskutiert werden kann.“

Massive Einschüchterungsmedthoden

Das Klima ist ein anderes. „Jeder Ladenbesitzer hier draussen vor meiner Tür, bezahlt die so genannte Revolutionssteuer“, versichert Savater, „bei einigen trifft die Aufforderung auf dem Postweg ein, bei andern kommen Jugendliche vorbei, um ‚Geld für die baskische Sache‘ oder, noch direkter, ‚Geld für die Gefangenen der ETA‘ einzufordern.“ Wer nicht bezahlt, riskiert zerdepperte Schaufenster oder ein abgefackeltes Auto. Vor allem die Jugendlichen von „Jarrai“, einer Organisation im Vorfeld von ETA, sind für die „kale borroka“, die Strassengewalt, verantwortlich, die der Einschüchterung dient. Ziel sind vor allem die Andersdenkenden. Die „Buchhandlung“ Lagun, die schon zu Zeiten der Diktatur für ihren Einsatz für die Meinungsfreiheit bekannt war, ist aus der Altstadt von San Sebastian weggezogen, nachdem sie 22 mal angegriffen wurde. Einmal wurden sogar – in unseliger Tradition – Bücher verbrannt. Zu all diesem Alltagsterror schweigt „Batasuna“ – genauso wie sie sich weigert, die ETA zu verurteilen. Im August setzte Garzon ein Verbot der linksnationalistischen Partei wegen ihrer Verstrickung in den Terror durch. Formal unabhängig davon wurde sie – aufgrund eines justament auf sie zugeschnittenen neuen Gesetzes, das die Parteien verpflichtet, den Terror zu verurteilen – für aufgelöst erklärt. Der Philosoph sieht hier nichts Bedenkliches. „Die Herrschaft des Rechts beginnt sich gegenüber der Herrschaft der kruden Gewalt durchzusetzen“, freut er sich.

Herrschaft des Rechts? Rechtsstaat? „Alles Unsinn“, tuschelt Jose Luis Alvarez Emparanza und schaut den Gegenüber durch seine dicken Brillengläser eindringlich an, „hier gibt es keine Demokratie, hier herrscht der Ausnahmezustand, keine Meinungs- und Versammlungsfreiheit, das ist Faschismus, das ist Franquismus pur, das können Sie ruhig so schreiben.“ Der 73jährige Schriftsteller und Autor von über einem Dutzend Bücher über die baskische Sprache hat „Herri Batasuna“ (Vereinigtes Volk) 1978 mitgegründet und ist noch heute, wo sie sich schlicht „Batasuna“ nennt, ihr Mitglied. In den 80er Jahren wurde er in den spanischen Senat gewählt. Doch ihre Sitze nahmen die gewählten drei Senatoren und sechs Abgeordneten von „Batasuna“  nicht ein, weil Madrid ja im Ausland liegt. Nur einmal gingen sie hin, um sich als Parlamentarier registrieren zu lassen und die Diäten zu kassieren. „Wir waren alle neun in einem Restaurant beim Abendessen in der Innenstadt“, erinnert sich Alvarez Emparanza, „als einer von uns, der Abgeordnete Josu Muguruza, der neben mir sass, erschossen wurde.“ Für das tödliche Attentat vom 20. November 1989 übernahm eine rechtsextreme Gruppe die Verantwortung. Verurteilt wegen des Verbrechens wurde ein Polizist. Muguruza, den die spanische Polizei bezichtigte, dem Politbüro der ETA anzugehören, war 1981 nach Frankreich geflohen und 1987 von den  französischen Behörden an Spanien ausgeliefert worden und verbrachte einige Monate im Gefängnis, bevor er von der Anklage der Zugehörigkeit zu einer bewaffneten Bande freigesprochen wurde.

Alvarez Emparanza ist im Baskenland besser unter dem Kampfnamen „Txillardegi“ bekannt. Er ist ein Mann der ersten Stunde, ein „Dinosaurier“, wie er selber sagt, oder „ein prähistorisches Wesen“. Am 31. Juli 1959 gründete er mit einigen wenigen andern Studenten der Jesuitenuniversität von Bilbao, denen die PNV, die alte Partei des baskischen Nationalismus, zu brav und bieder war, die ETA. Das Datum war bewusst gewählt. An einem 31. Juli – 1556 – starb schliesslich der Baske Ignatius von Loyola, der Gründer des Jesuitenordens. Das Kürzel ETA – für „Euskadi ta Askatasuna“ (Baskenland und Freiheit) -geht sogar auf einen Vorschlag „Txillardegis“ zurück. Zunächst wollte man sich ATA – „Aberri ta Askatasuna“ (Vaterland und Freiheit) nennen. Doch das baskische Wort „ata“ heisst zu deutsch „Ente“, und das schien der Seriosität des Vorhabens nicht angemessen. „Txillardegi“ verliess die Organisation, die sich dem bewaffneten Kampf verschrieb, bereits 1967 – noch bevor sie den ersten Schuss abfeuerte. Er war mit der Entwicklung der ETA hin zu einer Guerilla vom Typ, wie sie vielerorts in der Dritten Welt entstand, nicht einverstanden. Der internationalistischen Orientierung setzte er die baskische Identität entgegen, die sich zentral auf das Euskera, die baskische Sprache, gründen müsse.

„Wir Basken wollen keine Spanier sein“, sagt „Txillardegi“ und „das Recht auf Selbstbestimmung des baskischen Volkes ist unantastbar.“ Wer aber ist das baskische Volk? Nur 27 Prozent der Einwohner des Baskenlands beherrschen das Euskera, gibt der Literat und Linguist zu. Dass man die übrigen 73 Prozent nicht samt und sonders von einem Referendum ausschliessen kann, sieht auch er ein. Und so schlägt er vor, dass baskisch im weiteren Sinn eben ist, „wer sich als Baske fühlt“. Die genauen Kriterien müsse man noch diskutieren. Auch gibt er im Gegensatz zu den meisten seiner Parteikollegen zu, dass es im Baskenland ein Klima der Angst gibt. Das sei „bedauerlich, nicht normal, nicht wünschenswert“, aber man befinde sich schliesslich seit über 30 Jahren im Krieg. Die „kale borroka“ und die Attentate der ETA verurteilt er – weil sie die Einheit der baskischen Patrioten schwächen, und schlägt vor, dass die ETA wieder zu einem Waffenstillstand zurückfindet.

Eduardo Uriarte, den „Txillardegi“ kurzum als Verräter apostrophiert, treffen wir in der Lobby eines Hotels in Bilbao. Er verleugnet seine Vergangenheit nicht, hat aber mit ihr radikal gebrochen. Uriarte gehörte zum ETA-Kommando, das 1968 Meliton Manzanas, den verhassten Chef der franquistischen Geheimpolizei von San Sebastian, erschoss. Es war der erste vorsätzliche Mord, den die ETA beging. Am 28. Dezember – in Spanien ist dies traditionell der „Tag der Unschuldigen“ – wurde Uriarte in Burgos in einem Militärprozess, zusammen mit fünf anderen ETA-Mitgliedern zum Tod verurteilt. Unter dem Druck von Millionen Menschen, die weltweit gegen dieses Verdikt auf die Strasse gingen, wandelte Franco das Urteil drei Tage später in eine lebenslange Gefängnisstrafe um. Anderthalb Jahre nach dem Tod des Diktators kam Uriarte frei. Heute ist er Vorsitzender der „Stiftung für die Freiheit“, einer Gruppe von Ex-Pistoleros, wie er lachend sagt. Er ist heute Mitglied der Sozialistischen Partei und war zeitweilig Vizebürgermeister von Bilbao. Ob er die Ermordung von Manzanas bereut? „Na ja“, sagt er, „mehr als die Hinrichtung dieses Schergen der Diktatur bereue ich, der Mystifizierung des bewaffneten Kampfs, der Verklärung des Terrorismus zu einer noblen Tätigkeit, Vorschub geleistet zu haben.“

Bis zu Francos Ableben 1975 gab es relativ wenig Tote im baskischen Konflikt. Der prominenteste war gewiss Carrero Blanco, Ministerpräsident und Francos designierter Nachfolger, der 1973 bei einem Bombenattentat in Madrid ums Leben kam. Erst im demokratischen Spanien weitete die ETA ihren Terror massiv aus. Einen Höhepunkt erreichte er 1980 mit genau hundert Toten. Guardia Civil, Polizei und Geheimdienst versuchten, die ETA nun mit allen Mitteln militärisch zu zerschlagen. Vieles spricht dafür, dass die Antiterror-Kommandos einer Gruppe, die sich GAL nannte, vom sozialistischen Innenminister XY Barrionuevo, womöglich mit Wissen des langjährigen sozialistischen Ministerpräsidenten Felipe Gonzalez, aufgebaut wurden. Sie ermordeten zwischen 1983 und 1987 über zwei Dutzend tatsächliche oder vermeintliche ETA-Mitglieder. Die ETA zog mit. Immer öfter waren jetzt die Opfer nicht mehr Polizisten und Soldaten, sondern auch Politiker. Selbst vor Hinrichtungen in den eigenen Reihen schreckte die ETA nicht zurück. So ermordete sie 1986 Maria Dolores Gonzalez Katarain alias „Yoyes“ am hellichten Tag vor den Augen ihres dreijährigen Sohnes. Sie war die einzige Frau, die je in die oberste ETA-Führung aufgestiegen war, hatte sich dann aber vom bewaffneten Kampf zurückgezogen und lebte sechs Jahre im mexikanischen Exil, bevor sie in ihre Heimat zurückkehrte, wo die ETA sie ein Jahr lang unbehelligt liess, bis sie ihre „Liquidierung“ beschloss.

Die Degeneration der ETA von einer bewaffneten Widerstandsgruppe gegen die Diktatur zur Terrorbande, die sich potenziell gegen alle richtet, die mit ihr nicht einverstanden sind, erklärt der Ex-Guerillero Uriarte, der heute den Nationalismus als Grundübel betrachtet und die baskische Sprache nur noch im Umgang mit den lästigen Strassenkötern verwenden mag, mit der militärischen Logik, in der sich die ETA verfangen hat. Während es in Irland der Sinn Fein, dem politischen Arm der IRA gelang, diese unter Druck zu setzen, hat sich im Baskenland die „Batasuna“ von der ETA nie zu emanzipieren vermocht. Und weil ein bewaffneter Widerstand in einem demokratischen Staatswesen sich schlecht politisch legitimieren lässt, wird dieses selbst schlicht uminterpretiert. So spricht denn Arnaldo Otegi, Präsident der verbotenen „Batasuna“, umstandslos von einem „faschistischen Staat“, der „das baskische Volk zu vernichten versucht“ und davon, dass „Euskal Herria (das Baskenland) mit absoluter Sicherheit zum politischen Stalingrad der spanischen Faschisten“ werde.

Samstag, 14. September. „Batasuna“ hat in Bilbao, der grössten Stadt der autonomen Provinz, zu einer Demonstration aufgerufen – unter dem Motto: „Es lebe das Baskenland!“ Denn wenn man Otegi folgen will, richtet sich die Entscheidung aus Madrid ja „nicht gegen die patriotische Linke, sondern gegen das Baskenland“ oder, ebenfalls in den Worten Otegis, „nicht ‚Batasuna‘, sondern das baskische Volk hat in der spanischen Demokratie keinen Platz“. Mindestens 50.000 Menschen sind gekommen, um ihren legitimen Protest auf die Strasse zu tragen. Staatsanwalt Baltasar Garzon aus Madrid hat von der baskischen Regierung verlangt, die Demonstration zu verbieten. Vergeblich. Die Regierung toleriert.

Der Protestmarsch startet an der Kreuzung der Strassen „Autonomia“ und „Sabino Arana“, beide müssen noch vor wenigen Jahrzehnten anders geheissen haben. Denn eine Autonomie hat Franco den Basken immer verwehrt. Und Sabino Arana ist der Gründer des PNV, der baskischen nationalistischen Partei, die noch heute die stärkste politische Kraft in der Provinz ist. Er war ein Rassist reinsten Wassers („der Baske ist nicht fürs Dienen geschaffen, er ist geboren, um Herr zu sein: der Spanier ist nur geboren, um Vasall und Diener zu sein“) und kämpfte für die „Reinheit der baskischen Rasse“. Nach 800 Metern wird der Umzug von der Ertzaintza, der Polizei des autonomen Baskenlandes, gestoppt. Auf einige Protestrufe der Demonstranten hin, verschiesst die Polizei minutenlang Salven von Gummigeschossen. Flaschen fliegen. Wasserwerfer kommen zum Einsatz. Abfalleimer werden zu brennenden Barrikaden. Knüppel dreschen auf Bürger ein. „Fascistas! Fascistas!“ Im Baskenland ist die Welt wieder in Ordnung.

Thomas Schmid, „Die Weltwoche“, 26.09.2002 (oben in unredigierter Fassung)