Deutschland arbeitet seine Vergangenheit auf. Der Aussenminister Joschka Fischer kommt unter Druck, weil er vor 28 Jahren mit einer zu etwas mehr als zwei Jahren Haft verurteilten Terroristin gefrühstückt hat. Von Strafvereitelung kann nicht die Rede sein. Die Frau war auf freien Fuss gesetzt worden und wurde polizeilich nicht gesucht. Der Umweltminister Jürgen Trittin soll sich von einem Schreiben eines jungen Mannes mit dem Pseudonym „Mescalero“ distanzieren, in dem dieser zunächst seine spontane klammheimliche Freude über einen politisch motivierten Mord bekennt, letztlich dann aber den Terrorismus ablehnt, denn „unser Weg zum Sozialismus kann nicht mit Leichen gepflastert sein. Der Brief wurde 1977 vom Studentenausschuss in Göttingen herausgegeben. Der grüne Spitzenpolitiker gehörte erst zwei Jahre später dem besagten Studentenausschuss an. Besonders pfiffige Journalisten fanden schliesslich heraus, dass der Bundeskanzler Schröder damals als Anwalt einen Professor verteidigt hat, der für die vom Gericht verbotene Verbreitung des Mescalero-Briefes eingetreten war – als ob nicht selbst ein Mörder Recht auf juristische Verteidigung hätte. Und Daniel Cohn-Bendit, Held der Pariser Revolte vom Mai 1968, wurde in einer Talk-Show gefragt, ob es denn stimme, dass er in seiner Wohnung einst Bomben versteckt habe. Dafür sprach nun wirklich nichts ausser der Aussage des wegen vielfachen Mordes verurteilten Superterroristen Ilich Ramirez Sanchez alias „Carlos“. Soll der grüne Ex-Revoluzzer denn nun der naiven Journalistin ein Geständnis ablegen oder gar das Gegenteil beweisen?
Angela Merkel verlangte kürzlich vom bedrängten Aussenminister, der seit Wochen Entschuldigungen stammelt, sich distanziert und abschwört, ein finales Bekenntnis, dass „der Staat keine Fehler“ gemacht habe. Weshalb rettet niemand die Frau vor sich selbst? Spekulieren ihre parteiinternen Gegner auf Fehltritte in Fettnäpfchen? Man mag der ostdeutschen CDU-Chefin, die Westdeutschland erst 1989 kennenlernte, die Gnade ihrer späten Geburt im falschen Land zugute halten. Andere müssten es besser wissen.
Zwei Titelgeschichten über die „wilden Jahre“ produzierte der „Spiegel“, das einst investigativste Nachrichtenmagazin Deutschlands, innerhalb eines Monats. Von Molotow-Cocktails und Schüssen war viel die Rede. In keiner Zeile wurde jedoch erwähnt, dass die ersten Molotow-Cocktails nicht durchgeknallte Studenten bastelten, sondern der Geheimdienstagent Peter Urbach. Er verteilte sie an Demonstranten, die am Abend des Attentats auf den Studentenführer Rudi Dutschke im April 1967 das Hochhaus des „Springer“-Konzerns in Berlin belagerten. Und auch der längste Prozess der deutschen Justizgeschichte kam mit keinem Wort zur Sprache. Es ging um den Fememord am linksradikalen Ulrich Schmücker durch seine Genossen vom „Schwarzen Juni“, in die der Berliner Verfassungsschutz bis über die Ohren verstrickt war. Die Tatwaffe tauchte über zehn Jahre nach dem Mord in einem Tresor des Geheimdienstes auf, wo sie die ganze Zeit über ohne Wissen von Polizei und Justiz versteckt lag. Der Prozess zog sich über 14 Jahre hin und wurde nach 591 Verhandlungstagen eingestellt, allein aus dem Grund, weil die Beamten des Geheimdienstes keine Aussagegenehmigung erhielten und somit die Angeklagten in ihren Rechten auf eine faire Verteidigung massiv beeinträchtigt waren – wie der Richter resigniert eingestand. Ein höheres staatliches Interesse verhinderte die Aufklärung. Alles nachzulesen in einem Buch, das Stefan Augst, heute Chefredakteur des „Spiegel“, einst herausgab.
Eine inzwischen notwendige Klarstellung: Hier sollen nicht die Missetaten der einen Seite gegen die der andern aufgerechnet werden. Schon gar nicht sollen Prügel auf Polizisten oder Schüsse auf Politiker gerechtfertigt werden. Aber es spricht so ziemlich alles dafür, dass es – nach der „Aufarbeitung“ des Nationalsozialismus und der ostdeutschen SED-Diktatur – bei der dritten deutschen „Geschichtsbewältigung“ (welch schönes Wort!) – heute nicht vorrangig um Aufklärung geht. Die Talk-Shows, in denen Meinungen alles und Fakten nichts zählen, wollen unterhalten. Die Opposition will über eine Kampagne aus ihrem Tief herauszukommen. Ganz nach dem Motto: Was sind schon illegale Millionenspenden gegen einen ein prügelnden Aussenminister? Was sind schon einige Kilometer illegal vernichteter Regierungsakten gegen einen Umweltminister, der sich nicht rechtzeitig mit den richtigen Worten bei den richtigen Leuten von etwas distanziert, was gar nicht auf seinem Mist gewachsen ist? In die Debatte werden allerdings andere Vergleiche eingeführt: der Vergleich zwischen links und rechts oder der Vergleich zwischen damals und heute.
Kann man denn den linksextremen Joschka Fischer, der im Rahmen einer Auseinandersetzung um besetzte Häuser einen Polizisten angreift, in einen Topf mit einem rechtsextremen Jugendlichen werfen, der Jagd auf wehrlose Menschen macht, bloß weil die eine andere Hautfarbe haben? Natürlich kann man. Man kann in dieser leidigen Auseinandersetzung alles.
Damals und heute. Haben die linksradikalen Ex-Revoluzzer zu ihren wilden Jahren nicht dasselbe Verhältnis wie ihre Eltern zum Nationalsozialismus? Wird nicht nun wieder in der Öffentlichkeit tabuisiert, im trauten Kreis heroisiert, vor allem aber verdrängt – und dies von einer Generation, die sich anmasst, der Wahrheit über den Nationalsozialismus erst zum gesellschaftlichen Durchbruch verholfen zu haben? Am penetrantesten wird die Frage von den politischen Konvertiten gestellt, denen also, die ihre linksradikale Vergangenheit in Bausch und Bogen verdammen und der Revolte von 1968 heute genauso wenig positive Seiten abzugewinnen vermögen wie dem Nationalsozialimus. Was die negativen Seiten der 68er-Revolte betrifft, zählen sie sich zu den Davongekommenen: Die eigene Idee wurde gottseidank nie Wirklichkeit. Denn ist nicht jede Utopie die Gebärmutter des Terrorismus, weil sie die ideale Gesellschaft letztlich durch die terroristische Korrektur der realen erreichen will?
Doch Utopien sind nicht gleich Utopien. Der Traum von einer Gesellschaft, in der es Herrenmenschen und Heloten gibt, ist ein anderer als jener von einer Gesellschaft der Gleichen. Und die Utopie der französischen Revolution ist ja nicht verwerflich, bloss weil sie im Thermidor des Robespierre pervertiert wurde. Die Angst vor Utopien ist zwar angesichts der grossen Katastrophen des 20. Jahrhunderts begreiflich. Aber eine Gesellschaft, in der Utopien keinen Platz mehr haben, macht auch Angst. Es kommt darauf an, welche Vorstellungen politisches Handeln leiten und wie sie dies tun. Utopien können in der Gesellschaft Kräfte freisetzen – befreiende oder zerstörerische.
Die Revolte von 68 mit all ihren Utopien hat die deutsche Gesellschaft modernisiert, liberalisiert und geöffnet oder Prozesse der Modernisierung, Libealisierung und Öffnung, die untergründig bereits im Gange waren, extrem beschleunigt. Als Resultat wurden – nur um die augenfälligsten Aspekte zu nennen – die Beziehung zwischen den Geschlechtern, die Erziehung, das Verhältnis von Bürger zum Staat verändert. Der Niedergang dieser Bewegung einer radikalen Minderheit, die weit in die Gesellschaft ausstrahlte, setzte schon 1969 ein und bescherte der SPD schliesslich eine Viertelmillion neue Mitglieder. Die Große Koalition von 1969 und Willy Brandts Regierungsantritt 1972 sind die von den Protagonisten ungewollten politischen Folgen der Revolte. Und die kommunistischen Kleinparteien, die Sponti-Gruppe von Daniel Cohn-Bendit, zu der sich später auch Joschka Fischer gesellte, die terroristische „Rote Armee Fraktion“ und andere bewaffnete Gruppen waren nur Zerfallsprodukte einer großen sozialen Aufbruchsbewegung. Erst in der ihnen wie fast der ganzen Linken zu Beginn sehr fremden grünen Bewegung, fanden die beiden umstrittensten Minister der deutschen Regierung, die in der 68er Bewegung keine Rolle spielten, von ihren Ausläufern aber erfasst wurden, eine neue politische Heimat.
Der Aufbruch von 1968 war von Utopien, Irrläufern, Gewaltexzessen, Ideologien und einer verquasten Sprache begleitet. Doch seine Protagonisten und Epigonen haben damals den Diskurs bestimmt und schliesslich – um mit dem unorthodoxen italienischen Marxisten Antonio Gramsci zu sprechen – die kulturelle Hegemonie errungen. Etwas salopp ausgedrückt: sie eroberten die Universitäten, die Medien und schliesslich die Politik.16 Jahre lang waren die Konservativen unter Helmut Kohl zwar an der Regierung. Doch erst nach dem Fall der Berliner Mauer im Jahr 89, das sich, auf den Kopf gestellt, als „68“ liest, wurde die kulturelle Vorherrschaft der Linken brüchig. Vordergründig geht es der CDU nun zwar darum, aus ihrem selbst verschuldeten Tief herauszukommen und gleichzeitig die Regierung in Schwierigkeiten zu bringen. Ein Rücktritt des Aussenministers ist wenig wahrscheinlich. Doch die Kampagne gegen Fischer und Trittin zielt weiter – auf die Deutungshoheit über 1968, mehr Chiffre als Jahreszahl, und seine Folgen. Sie greift damit auch die historische Legitimationsgrundlage der rot-grünen Koalition an. Das ist zwar in der politischen Auseinandersetzung durchaus legitim. Doch wird diese ideologische Auseinandersetzung zu einem Kampf um die Wahrheitsfindung stilisiert. Und das ist recht unappetitlich.
Thomas Schmid, „Die Weltwoche“, 01.02.2001
(unredigierte Fassung)