Israels Premierminister Benjamin Netanjahu befürchtet eine „neue Welle der Gewalt“, Palästinenserpräsident Yassir Arafat spricht von einer „Zeitbombe“, und Staatspräsident Ezer Weizmann bekundet öffentlich, er könne „nachts nicht gut schlafen“. Im Nahen Osten brauen sich in der Tat dunkle Wolken zusammen, und schon geht das böse Wort von einer neuen Intifada um. Doch so weit braucht es nicht zu kommen. Bei Fortsetzung des jetzigen Kurses der israelischen Politik ist es allerdings einigermaßen wahrscheinlich, dass sich die Frustration der Palästinenser in Aufständen entlädt, die die Ereignisse vom vergangenen September in den Schatten stellen. Vor drei Monaten hatte die Öffnung des hasmäischen Tunnels entlang des Tempelberges zu Protesten geführt, in deren Verlauf innerhalb von drei Tagen über 70 Menschen starben – vorwiegend Palästinenser, aber auch 15 israelische Soldaten, erschossen von palästinensischen Polizisten.

Als Anlass für die jüngste Eskalation diente ein Attentat der von Habbasch geführten PFLP, bei dem in der besetzten Westbank eine jüdische Siedlerin und ihr zwülfjähriger Sohn ermordet wurden. Kurz danach verkündete Netanjahu am vergangenen Wochenende, dass dem Ausbau der Siedlungen fortan „nationale Priorität zukomme“ und diese nun verstärkt finanziell unterstützt würden. Eine weitreichende Entscheidung, die sofort den Protest der US-Regierung hervorrief. Immerhin ist die Zukunft der Siedlungen Teil der noch anstehenden Verhandlungen über einen endgültigen Frieden. Die israelische Seite versucht offenbar eine Strategie der „faits accomplis“  zu fahren. „Die Welt ist gegen jüdische Siedlungen im Land Israel, aber wir denken da anders“, tönte der israelische Ministerpräsident im Rundfunk, „wir glauben, es ist das Recht der Juden, in ihrem Heimatland zu siedeln.“ Damit redete er einer

hier weit verbreiteten Wagenburgmentalität das Wort – wir,  die Juden, gegen den Rest der Welt -, die historisch zwar verständlich sein mag, nichtsdestotrotz aber politisch fatal ist, weil sie die ohnehin dünnen Fäden der Verständigung kappt. Und selbstredend verstehen die Palästinenser die Westbank mit mindestens so viel Recht als ihr Heimatland. Immerhin liegt die jüdische Besiedlung bald 2.000 Jahre zurück. Auch wenn es danach immer eine kleine Minderheit von Juden in Palästina gegeben hat, war das Westjordanland doch über die Jahrhunderte weg vornehmlich von Arabern besiedelt. Die Rede von der jüdischen Heimat beweist so vor allem einen entsetzlichen Mangel an Empathie, an Fähigkeit oder Willen, sich emotional die Lage des andern vorstellen zu können. Natürlich gebricht es daran den Palästinensern nicht weniger. Doch sind die – Schuld hin oder her – immerhin seit 30 Jahren Opfer eines Besatzungsregimes. Da kann man nicht allzu viel erwarten.

Nach der Ermordung des damaligen Ministerpräsidenten Yitzak Rabin vor einem Jahr war viel von der Unumkehrbarkeit des Friedensprozesses die Rede, und schließlich bestätigte Netanjahu nach seinem Amtsantritt im März dieses Jahres: Pacta sunt servanda – Abkommen müssen eingehalten werden. Doch inzwischen mehren sich die Zweifel an der Aufrichtigkeit des Versprechens. Die israelische Armee ist aus Hebron, das sie im März dieses Jahres schon hätte weitgehend räumen müssen, immer noch nicht abgezogen. Und je mehr Israel über seine Siedlungspolitik unumkehrbare Tatsachen zu schaffen versucht, desto umkehrbarer erscheint der Friedensprozess. Denn mit Oslo (1993) und Oslo 2 (1994) war nur ein Anfang gemacht. Gerade die schwierigsten Probleme wurden damals ausgespart und sollten in künftigen Verhandlungen geregelt werden: der Status von Jerusalem und die jüdischen Siedlungen in der Westbank. Und just in diesen beiden Punkten hat Israel – völkerrechtswidrig – Tatsachen geschaffen. Die Annexion Ost-Jerusalems, das bis 1967 zu Jordanien gehörte, war wie jede Annexion besetzter Gebiete völkerrechtswidrig, und völkerrechtswidrig  ist auch eine Besiedlung besetzter Gebiete, in der Absicht, deren Bevölkerungsstruktur zu verändern.

Sowohl von einer Öffnung des Tunnels am Tempelberg wie vor einem Ausbau der Siedlungen hat der Inlandsgeheimdienst dem Ministerpräsidenten wegen der zu erwartenden Konsequenzen abgeraten, wie anfang der Woche bekannt wurde. Dass sich Netanjahu über diese Warnungen hinweggesetzt hat, zeugt von einer zunehmenden Irrationalität seiner Politik. Irrational, wenn man davon ausgeht, dass ihm an einem Frieden gelegen ist. Dass dieser im Nahen Osten ohne eine Änderung des jetzigen Status von Jerusalem und ohne ein Siedlungsstop nicht möglich ist, weiß auch Netanjahu. Die Frage ist, ob er eine Umkehr überhaupt noch bewerkstelligen kann. Inzwischen wohnen in Ost-Jerusalem, dem traditionellen wirtschaftlichen und kulturellen Zentrum der Westbank, mehr Juden als Palästinenser. Als die erste Likud-Regierung nach fast 30 Jahren Regierung der Arbeiterpartei 1977, zehn Jahre nach der Besetzung der Westbank, ihr Amt antrat, gab es in den besetzten Gebeiten 5.000 Siedler, denen vorrangig aus sicherheitspolitischen Gründen Land zugeteilt worden war. Heute sind es 150.000, die dafür sorgen sollen, dass „Judäa und Samaria“ für immer jüdische Heimat sind. Bei den Parlamentswahlen im März dieses Jahres haben in Jerusalem 36 Prozent religiöse Parteien (davon 25 Prozent ultra-orthodoxe und 11 Prozent national-religiöse) gewählt, in der Westbank waren es sogar 40 Prozent! Netanjahu ist auf diese Stimmen angewiesen.

Und so steht heute nicht nur der Friede in Nahost, sondern auch die innere Verfasstheit des Staates Israel zur Debatte. Der israelische Historiker Moshe Zimmermann hat sein neuestes

Buch, gerade erschienen im Berliner Aufbau-Verlag, „Wende in Israel“ betitelt. Seine Kernthese: Der Mord an Rabin am 4. November 1995, der weltweit Entsetzen auslöste, markiert das Ende des klassischen Zionismus. Der hatte einen modernen demokratischen Staat im Sinne, in dem die jüdische Religion der geschützten Privatsphäre angehören sollte. Theodor Herzl, der Begründer des politischen Zionismus, würde sich heute wohl im Grab umdrehen, wenn er sähe, was aus seiner Idee geworden ist. In seiner programmatischen Schrift „Der Judenstaat“ schrieb er 1895: „Der Glaube vereinigt uns, aber die Wissenschaft befreit uns. Daher werden wir die theokratischen Impulse unserer Gesellschaft unterdrücken. Wir werden sie in ihren Synagogen halten, so wie die Berufsarmee in den Kasernen. Wir werden die Armee und die Synagogen respektieren, aber sie dürfen sich nicht in Angelegenheiten des Staates einmischen. Würden Menschen anderen Glaubens unter uns leben, hätten sie gleiche Rechte.“

Die Entsäkularisierung des Zionismus führt Zimmermann, der zu den sogenannten „jungen Historikern“ gehört, die mit den Tabus der israelischen Geschichtsschreibung zu brechen gewillt sind, auf die massive Einwanderung der Sepharden („orientalische Juden“) zurück, die, aufgewachsen in einem islamischen Umfeld, zur europäischen Vorstellung einer säkularen Gesellschaft keinen Bezug hatten, und auf den Sechstagekrieg 1967, der Israel die Kontrolle über das historische Jerusalem, Hebron und Nablus brachte, Stätten also, die biblische Assoziationen weckten und eine spezifisch israelische Blut-und-Boden-Ideologie beförderten. Schon der Likud-Führer Menachem Begin, ein Aschkenase („europäischer Jude“), war 1977 mit den sephardischen Stimmen an die Macht gekommen. Im Kabinett Netanjahu sind wohl nicht zufällig nun alle wichtigen Kabinettsposten (Verteidigungs-, Innen- und Außenministerium sowie Ministerium für innere Sicherheit) mit Sepharden besetzt. Dass der neue Justizminister eine tägliche Talmudstunde für Beamte im gehobenen Dienst eingeführt hat, ist nur das deutlichste Zeichen der Zeit.

In dem Maße, wie sich in Israel, dem nach wie vor einzigen demokratischen Staat im Nahen Osten, ein religiöses Staatsverständnis durchsetzt, gewinnen die Mythen vom unteilbaren Jerusalem und vom unerlösten Samaria und Judäa an Macht. Und gerade dies blockiert eine Friedenslösung, die ohne großes Blutvergießen wohl nur im Rahmen eines laizistischen Staates möglich ist, der seinen 18 Prozent arabischen Staatsbürgern die gleichen Rechte einräumt. So wie ein künftiges Palästina seinen etwa sieben Prozent jüdischen Bewohnern, den Siedlern,  die gleichen Rechte einräumen müsste. Die Alternative dazu heißt Bosnien.

Die von Netanjahu zumindest mutwillig in Kauf genommene Blockade der Friedenspolitik führt auf der palästinensischen Seite zu weiterer Frustration. Über die Hälfte der Westbank wird auch nach Erfüllung von Oslo 2 israelisches Staatsgebiet sein – ebenso wie über ein Drittel des Gaza-Streifens, das Gebiet der 18 Siedlungen mit 5.000 Siedlern plus die Sicherheitszonen, weiterhin unter israelischer Kontrolle ist, während in den knapp übrigen zwei Dritteln etwa 900.000 Palästinenser wohnen. Sollte Israel nun den Palästinensern auch noch die recht bescheidenen Früchte von Oslo 2 verwehren, wird Arafats Politik diskreditiert sein. Es wäre Dünger für den Boden, auf dem die fundamentalistische Hamas gedeiht, die sich zur Zeit militärisch zurückhält, um an politischer Glaubwürdigkeit zu gewinnen. Aber die am Wochenende von Arafats Justiz wegen Mord und Waffendiebstahl zum Tode verurteilten beiden Mitglieder der Izzadin Kassam, des militärischen Arms von Hamas, könnten schon bald zu Märtyrern werden. Gerade benannten die palästinensischen Behörden

in Beit Lahiya, einer Gemeinde im Gaza-Streifen, unter dem Druck fundamentalistischer Kreise eine Straße nach Yihye Ayyash, dem palästinensischen Chefbombenbastler, der respektvoll „der Ingenieur“ genannt wurde und den der israelische Geheimdienst jüngst ermordete. Dass die Hamas lieber gegen eine konservative, religiös gefärbte Likud-Regierung als gegen eine Regierung der Arbeitspartei kämpft, hat sie mit den Bombenattentaten kurz vor den Parlamentswahlen im vergangenen Frühling bewiesen. Nun steht zu befürchten, das Israels Regierung sich schon bald auf einen direkten Kampf gegen die fundamentalistische Hamas einlassen muss, den der autokratische Arafat in eigenem Interesse und auch stellvertretend für Israel geführt hat. Huntington hätte dann zumindest hier für die Richtigkeit seiner umstrittenen These vom „clash of civilizations“, dem Zusammenprall der Zivilisationen, ein neues Indiz gefunden.

Thomas Schmid, „Wochenpost“, 23.12.1996