Nicht ein einziger serbischer Politiker, Intellektueller, Künstler, Schriftsteller aus dem Kosovo hat öffentlich protestiert, als im vergangenen Sommer im eigenen Land Dutzende von Dörfern gebrandschatzt und Hunderttausende von Menschen in die Flucht getrieben wurden. Es gab keine serbische Partei, keine serbische Menschenrechtsorganisation, kein serbisches Grüppchen im Kosovo, es gab buchstäblich niemanden auf der serbischen Seite, der gegen die Kriegsverbrechen der eigenen Armee demonstriert hätte. Und es gibt auch heute keine serbische Stimme, die öffentlich, laut vernehmbar gegen die täglichen Demütigungen aufbegehrt, denen die Albaner im Kosovo ausgesetzt sind. Dieses absolute Fehlen jeglichen serbischen Protestes fördert auf der albanischen Seite die fatale Tendenz, den Serben kollektiv die Schuld zuzuweisen. Dadurch wird die Ethnisierung eines letztlich politischen Konflikts zementiert und dessen Lösung immens erschwert. Im Kern handelt es sich schließlich darum, zehn Jahre nach der Implosion des titoistischen Sozialismus demokratische Strukturen durchzusetzen, die ein ziviles Zusammenleben von Menschen unterschiedlicher Volksgruppen ermöglichen.
Nach dem Zusammenbruch des Sozialismus hat sich Milosevic, der seine Karriere als Sozialist begonnen hat oder, vermutlich treffender ausgedrückt, der Sozialist geworden ist, um Karriere zu machen, nur über eine nationalistische, antialbanische Mobilisierung an der Macht halten können. Vor zehn Jahren mobilisierte er Hunderttausende von Serben zu einer Kundgebung in Kosovo Polje, wo 600 Jahre zuvor auf dem Amselfeld die Türken die Truppen des serbischen Königreichs verheerend geschlagen hatten, in einer Schlacht, die, mythologisch verklärt, das Geschichtsbild der meisten Serben bis heute prägt. Vor zehn Jahren auch hob Milosevic auf verfassungswidrigem Weg die politische Autonomie des Kosovo auf. Den Serben rief er die historischen Worte zu: „Nie wieder darf euch jemand schlagen.“ Er sagte nicht: Menschen dürfen nicht geschlagen werden, sondern: Serben dürfen nicht geschlagen werden. Danach verloren Beamte, Richter, Polizisten, Lehrer, Fabrikdirektoren, Minenarbeiter ihre Arbeit, wenn sie Albaner waren. Seither gibt es ethnisch reinen, serbischen Machtapparat.
Ein Jahrzehnt lang hat Milosevic betont, das Kosovo sei serbisch, die Wiege der serbischen Nation, das serbische Jerusalem. Nun, zum Jahresende, schlug er neue Töne an. Das Kosovo sei eine multiethnische Provinz, in der alle Völker dieselben Rechte haben müssten. Alle Völker – das sind, wie Milosevic jüngst in einem Interview betonte, Albaner, Serben, Montenegriner, (nicht-albanische) Muslime, Roma, Ägypter (es sind Roma, die sich so nennen) und Türken. Diese Völker, die es im Kosovo alle tatsächlich gibt, so schlug der Despot aus Belgrad vor, sollten sich rotierend die Präsidentschaft der Provinz teilen. Die Gleichberechtigung der Völker würde also bedeuten, dass die Albaner, die 90 Prozent der Bevölkerung des Kosovo ausmachen, alle sechs Jahre etwa den Präsidenten stellen dürften. Von Gleichberechtigung der Völker sprach Milosevic, nicht von Gleichberechtigung der Menschen, denn das würde ja einen demokratischen Umsturz bedeuten.
Das Grundproblem des Kosovo ist letztlich das der Demokratie, des gleichberechtigten Zusammenlebens von Menschen. Die Ethnisierung dieses politischen Problems gelang Milosevic umso besser, als die ethnisch geprägte Herrschaft im Kosovo eine lange Tradition hat und die Demokratie gar keine. Anders als in Bosnien, wo drei Völker – Serben, Kroaten und Bosniaken (Muslime) – leben, die die gleiche Sprache sprechen, gab es im Kosovo seit Jahrhunderten im wesentlichen orthodoxe Serben und muslimische Albaner, die völlig verschiedene Sprachen sprechen. Während in den bosnischen Städten wie Sarajevo und Tuzla etwa ein Drittel der Heiraten völkerübergreifend waren, gab es im Kosovo so gut wie keine Mischehen. Und viel extremer als in Bosnien, wo die Serben überdurchschnittlich viel Polizisten und Soldaten stellten, die Muslime aber im Geschäftsleben dominierten, gab es im Kosovo immer eine deutliche Scheidelinie zwischen oben und unten. Die Albaner waren während des halben Jahrtausends türkischer Herrschaft in der Regel die lokalen Machthaber und dann wieder während des Ersten und des Zweiten Weltkriegs und gewissermaßen wieder während der Periode politischer Autonomie zwischen 1974 und 1989, ansonsten waren die Serben am Drücker.
Vor allem die extreme Zuspitzung ethnischer Diskriminierung im Zug eines äußerst aggressiven serbischen Nationalismus in den vergangenen zehn Jahren hat dazu geführt, dass es im Kosovo heute zwischen Albanern und Serben kaum mehr Kontakte gibt. Das Schulwesen ist getrennt, die Kaffeehäuser haben getrennte Klientelen, ja der ganze Alltag ist getrennt. Man findet heute in Pristina schwerlich einen jungen Albaner, der überhaupt einen serbischen Bekannten hat, von einem serbischen Freund ganz zu schweigen. Diese radikale Trennung von Alltagserfahrung geht mit einer Angst vor dem andern einher und mit einer erschreckenden Unfähigkeit, sich psychisch und mental in die Lage des andern zu versetzen. Diese Unfähigkeit zur Empathie – und damit auch zum Mitleid und zur Solidarität – geht mit einem erschreckenden Mangel an Rechtsbewusstsein einher. Zwar wird man viele serbische Bauern finden, die dagegen sind, dass man albanische Bauernhäuser anzündet, doch sind es in der Regel dieselben Serben, die sagen, dass die Albaner selber schuld sind, weil sie ja die UCK-Guerilla unterstützen, ganz als ob dies Kriegsverbrechen legitimieren könnte.
Es gibt im Kosovo auch serbische Flüchtlinge und auch zivile Tote auf der serbischen Seite. Die Albaner sind nicht die besseren Menschen, bloß sind sie die Hauptopfer der Auseinandersetzung, weil die Herrschaft eine serbische ist. Es wurden keine serbischen Dörfer zerstört, und es gibt keine albanischen Polizisten, die Serben misshandeln, weil es im Kosovo überhaupt keine albanischen Polizisten gibt.
Heute herrscht Angst im Kosovo auf beiden Seiten. Auf der albanischen, weil die Erfahrung der Repression alltäglich ist, auf der serbischen, weil man wohl unbewusst davon ausgeht, dass einem die Albaner, ist das Kosovo einmal unabhängig oder auch nur autonom, das antun werden, was ihnen selbst angetan worden ist. Für die meisten Serben ist es jedenfalls eine Selbstverständlichkeit, dass für sie in einem autonomen oder unabhängigen Kosovo kein Platz ist. Milosevic ist Schutzherr oder Verräter. Etwas anderes können sich nur wenige vorstellen.
Die politische Führung der Kosovo-Albaner, der politische entrechteten Mehrheit der Bevölkerung, hat immer betont, dass das Kosovo die Heimat der Albaner und Serben ist, man sei sogar bereit, den Serben Minderheitsrechte zuzubilligen. Wieviele Albaner diese Haltung der Toleranz und des Respekts vor den anderen teilen, ist schwer zu beurteilen. Aber es darf nicht überraschen, wenn angesichts eines neuen Kriegs im Kosovo auch auf der albanischen Seite nationalistische Tendenzen erstarken. Schon heute zeigt sich deutlich, dass die militärische Führung der Albaner, die UCK-Kommandanten, weit nationalistischere Töne anschlägt als die politische Führung. Je länger eine politische Lösung hinausgezögert wird, desto schwieriger wird sie werden, desto kleiner die Chancen auf ein ziviles Zusammenleben unter demokratischen Verhältnissen.
Milosevic braucht die Krise, die jederzeit in einen Krieg münden kann, um seine Macht aufrechtzuerhalten. Eine politische Lösung im demokratischen Sinn wird es wohl unter seiner Herrschaft nicht geben. Eine demokratische Alternative zu Milosevic in Jugoslawien und Serbien aber ist nicht in Sicht. So wird man es den Kosovo-Albanern nicht verdenken können, dass sie aus diesem Serbien und Jugoslawien austreten wollen. Zuviele Dörfer sind im letzten Jahr und zuviel an zivilem Zusammenleben ist im letzten Jahrzehnt zerstört worden, als dass sie sich in einem serbisch dominierten Staat in absehbarer Zeit je zuhause fühlen könnten. Deshalb ist die Unabhängigkeit des Kosovo, ob es dem Westen nun passt oder nicht, längst zur Hauptforderung der Albaner geworden. Jedes Lösungsmodell, das dieser Forderung nicht nachkommt, werden sie als vorübergehend betrachten. Auch deshalb wird das Kosovo auf der politischen Tagesordnung bleiben.
Thomas Schmid, 1999 (evt. unveröffentlicht)