Nur selten rollt ein Auto über die Brücke im Zentrum von Kosovska Mitrovica, einer der größten Städte des Kosovo. Nur wenige Fußgänger benutzen sie, um vom einen in den andern Stadtteil zu gelangen. Jenseits der Brücke sitzen zwei Dutzend Männer auf kleinen Holzstühlen, hintereinander in drei Reihen, und schauen herüber. Es seien serbische Paramilitärs und Polizisten, behaupten die Albaner, die sich in Trauben diesseits der Brücke vor den Panzern der Franzosen versammeln. Vor wenigen Wochen noch hätten dieselben Männer, die jetzt genau kontrollierten, wer zu Fuß oder mit dem Auto den Stadtteil wechselt, Uniform und Gewehr getragen: Kiti, Ratko, Dejan, Boban, ihre Namen sind hier allen bekannt.
Die Ibar, die die Stadt von West nach Ost durchfließt, teilt die Stadt in zwei Hälften: Im nördlichen Stadtteil, der vor dem Krieg gemischt besiedelt war, leben – von etwa hundert albanischen Familien abgesehen – nur noch Serben; in den südlichen Teil, wo schon immer überwiegend Albaner und Roma wohnten, sind tausende vertriebene Albaner zurückgekehrt, Serben sind hier nur ganz vereinzelt verblieben. Die Serbin Lucia Spahic wohnt im Nordteil, hat aber ihr Fotogeschäft im albanischen Südteil der Stadt, zum Glück gerade an der Brücke, wo die Franzosen stehen. Sie zeigt Bilder, die sie selbst geschossen hat, „weil das alles so verrückt ist“. Die Fotos zeigen einen Demonstrationszug von einigen tausend Albanern, der auf beiden Seiten von schwerbewaffneten Franzosen eskortiert wird und sich über die Brücke in den serbischen Nordteil bewegt. „Wir wollten gemeinsam nach unseren Wohnungen schauen“, sagt Njomza, die mitmarschiert ist, „wir wollten sehen, ob sie geplündert sind.“ Die junge Albanerin wohnt im Südteil der Stadt, hat aber eine Tante, einen Onkel und einen Großvater im Nordteil. Besuchen können wir ihre Verwandten nicht, „weil sie sonst Ärger mit den Männern jenseits der Brücke kriegen“.
Zu diesen Männern, die den ganzen Tag auf ihren Stühlen sitzen und unentwegt auf die albanische Seite hinüberstarren, hat sich eine betagte Frau gesetzt, wie die meisten Serbinnen ihres Alters von Kopf bis Fuß in schwarz gekleidet. Es ist Desa Jovanovic. Nachdem sie am dritten Tag hintereinander mit Steinen beworfen worden sei, berichtet sie, habe sie ihr Haus auf der albanischen Seite aufgegeben. 70 und ein paar Jahre mehr habe sie auf dem Buckel. Und nun sei sie obdachlos.Die Alte schluchzt und wischt sich verschämt einige Tränen weg. Zur Gruppe gesellt sich Hasan Esedi. Der Roma, der eine verschlissene Jacke und einen Plastikbeutel mit Schläuchen, Gummis und Eisenteilen mit sich trägt, hat 32 Jahre lang die Straßen der Stadt gereinigt. Nun ist sein Haus im Südteil der Stadt von Albanern abgefackelt worden, und er lebt mit seiner siebenköpfigen Familie und einer Pension von 320 Dinar – umgerechnet 25 DM – in einem Keller auf der andern Seite des Flusses. Milosevic sei ein kluger, intelligenter Mann und auf jeden Fall unschuldig, behauptet er und schimpft wie ein Rohrspatz auf die Albaner: „Hängen sollte man sie alle, ja aufknüpfen.“ Und um ganz sicher zu gehen, daß er richtig verstanden worden ist, umklammert er mit der Hand seinen Hals und verzieht sein Gesicht zu einer gräßlichen Grimasse.
Der Gynäkologe Sali Haxhiu verlor 1992 wie fast alle albanischen Ärzte seinen Job im Krankenhaus, das im Nordteil der Stadt liegt. Vor drei Tagen ist er mit den ersten damals entlassenen Ärzten zurückgekehrt. Und just seit drei Tagen gibt es kein fließendes Wasser mehr im Krankenhaus. An einen Zufall mag er nicht glauben. „Die Serben haben Röntgenapparate zerschlagen“, sagt er, „und die serbische Oberschwester rückt den Schlüssel zum Medikamentenschrank nicht raus.“ Mit seinen serbischen Kollegen spricht er nicht, höchstens daß er „mirdita“ – „guten Tag“ auf albanisch – sagt, was der andere bestenfalls serbisch mit „doberdan“ quittiert.
Haxhiu hat eine wahre Odyssee hinter sich. Nachdem die Nato die ersten Bomben abwarf, hätten die Serben Listen mit Namen der Angehörigen der örtlichen Elite erstellt, die liquidiert werden sollten. Sein Name habe da weit oben gestanden, obwohl er nach seiner Entlassung aus dem Krankenhaus sehr viele serbische Patienten privat behandelt habe. So verließ er – immer seiner eigenen Darstellung zufolge – seine Wohnung im Nordteil der Stadt beizeiten, um im albanischen Viertel Tamnik unterzuschlüpfen. Als der Stadtteil von schwerer serbischer Artillerie beschossen wurde, kehrte er in die alte Wohnung zurück, bis maskierte Paramilitärs anrückten und seine Nachbarn und dessen Frau ermordeten. Er floh nach Smrekonica zu seinem Vater. Anfang Mai wurde das ganze Dörfchen von maskierten Serben aufgefordert, nach Albanien abzuhauen. Haxhiu verließ den Flüchtlingstreck, verbrachte fünf Tage in einem Dorf, das von der UCK gehalten wurde, und schlug sich in tagelangen Märschen allein zu Fuß nach Smrekonica zurück, wo er bis zum Einrücken der internationalen KFOR-Truppe ausharrte.
Der Serbe Vladimir Hadzic ist Orthopäde und behauptet, die Albaner hätten dem Krankenhaus das Wasser abgedreht. Seine Wohnung im Südteil der Stadt habe er verlassen, als ein Albaner, dessen Tochter er vor dem Tod gerettet habe, an die Tür geklopft und ihn zum Verschwinden aufgefordert habe. Die Entlassung fast sämtlicher albanischen Ärzte zu Beginn der 90er Jahre sei eine poltische Entscheidung gewesen, sagt Hadzic, und in Politik wolle er sich nicht einmischen. In seiner Abteilung sei nur ein Albaner verblieben, und „der ging dann im März auch aus Angst vor den Nato-Bomben“. Auf die Frage, wieviele albanische Ärzte denn schon zurückgekommen seien, meint Hadzic nur: „Genug.“ Während des Gesprächs sind vier Militärlastwagen der französischen Armee vorgefahren. Jeden Tag um 14 Uhr werden 165 albanische Mitarbeiter des Krankenhauses über die Brücke in den Südteil der Stadt gefahren. Der alte Sali Haxhiu ist auf die Ladefläche geklettert. Morgen um neun Uhr früh wird er wieder vor dem Krankenhaus ausgeladen.
Die Franzosen sorgen für die Bewegungsfreiheit aller. Unter ihrem Schutz demonstrieren Albaner, werden Ärzte zu ihrer Arbeitsstelle befördert und gehen serbische Gläubige in die Kirche. Das einzige orthodoxe Gotteshaus steht nämlich ausgerechnet im Südteil der Stadt. Es ist der Tag der Toten, und auf der Hauptstraße im albanischen Teil steht alle 50 Meter ein KFOR-Soldat in Panzerweste mit Gewehr im Anschlag . Von Radpanzern begleitet erreicht ein Bus mit Gläubigen die Kirche. Nach dem Gedenkgottesdienst hält Mati Makarija, Chemielehrerin und Nonne, eine Pressekonferenz. „Die Heimat der Serben ist da, wo die Knochen ihrer Ahnen liegen“, beginnt sie. Ansonsten aber meint sie, daß im Kosovo auch Platz für die Albaner sein müsse. An der tragischen Situation der Provinz trügen beide Seiten schuld. Dann zählt sie auf, was die Albaner den Serben alles angetan haben. „Wer hat die Moschee bei der Brücke bis auf die Grundmauern zerstört?“, will ein Journalist wissen. „Wissen Sie, was im Kloster Devic passiert ist?“, fragt die gebildete Nonne zurück. Dort hat die UCK serbische Nonnen bedroht, möglicherweise zur Entkleidung gezwungen. Mußte deshalb die Moschee zerstört werden? Oliver Ivanovic, der so etwas wie der Führer der Serben von Mitrovica ist und neben der Nonne Platz genommen hat, meint, die alte Moschee sei möglicherweise zusammengebrochen, als die Nato das Hauptquartier der Polizei bombte. Dieses liegt 200 Meter vom muslimischen Gotteshaus entfernt. Die Gebäude dazwischen stehen alle noch.
Oliver Ivanovic sei nichts weiter als ein Führer einer paramilitärischen Truppe und gehöre vor ein Kriegsgericht, meint Bayram Rexhepi. Der Arzt, der schon 1991 als erster Albaner aus dem Krankenhaus entlassen wurde, würde sich heute wohl Bürgermeister nennen, wenn die KFOR sich dem Ansinnen der UCK nicht widersetzt hätte, in den Städten nach ihrem Gusto solche einzusetzen. So nennt er sich einfach „provisorischer Administrator“. Er ist jedenfalls anerkannter Führer der albanischen Mehrheit von Mitrovica und hat gute Kontakte zu den französischen Militärs, auch wenn er lieber die Deutschen oder die Amerikaner als Schutzmacht in seiner Stadt hätte. An seinem „Amtsgebäude“ hängt eine UCK-Fahne und während des Gesprächs kommt auch Rahman Rama, einer der sieben obersten Kommandanten der Befreiungsarmee herein. Der Chirurg hat im vergangenen Jahr in versteckten UCK-Kliniken viele verletzte Kämpfer operiert. Für die serbische Justiz war das schlicht Beihilfe zum Terrorismus. Wenige Wochen bevor die ersten Nato-Bomben fielen, floh er aus Sicherheitsgründen zur UCK, und mit ihren Truppen zusammen überlebte er den Terror der serbischen Soldateska in den Wäldern, bis die KFOR-Truppen einmarschierten.
Rexhepi ist ein besonnener, zurückhaltender Mensch. Er sei von niemandem legitimiert, eine Administration aufzubauen, sagt er, aber es gebe nun mal viele Probleme anzupacken. Im Korridor warten immer Leute. Alle wollen ihre Probleme dem Arzt persönlich vortragen, erhoffen sich Hilfe oder wenigstens einen Rat. Nein, er wolle auf keinen Fall in die Politik einsteigen, behauptet er, das sei seine Sache nicht, bloß müsse nun mal jemand eben die Sache in die Hand nehmen. Sobald geregelte Verhältnisse eingekehrt seien, werde er sich zurückziehen. Ein Zusammenleben mit den Serben werde auf jeden Fall schwierig sein, meint Rexhepi zum Abschied, aber ohne die Entwaffnung und Festnahme derjenigen, die für Mord und Vertreibung verantwortlich waren, sei eine gemeinsame Zukunft nicht vorstellbar. Weshalb die früheren Paramilitärs ungestört an der Brücke sitzen und die Albaner einschüchtern können, ist ihm ein Rätsel. Daß die Albaner ihrerseits das ganze Roma-Viertel gebrandschatzt haben, findet er zwar verständlich – „die Roma haben als erste die Häuser der vertriebenen Albaner geplündert“, aber „absolut inakzeptabel“.
Philippe Tanguy, Presseoffizier des französischen KFOR-Kontingents vor Ort, meint, die Zerstörung des Roma-Viertels und die Vertreibung seiner Bewohner seien nicht zu verhindern gewesen: „Die kleinen Häuser, windschief, viele baufällig, sind ja Wand an Wand gebaut, da greift das Feuer schnell über.“ Aber das Viertel wurde an sieben einander folgenden Tagen in Brand gesteckt. Weshalb haben die französischen Soldaten nicht nach dem zweiten Tag oder wengistens nach dem dritten das Viertel abgesperrt und weitere Brandschatzungen verhindert? „Unsere erste Aufgabe ist es Leben zu retten“, verteidigt sich der Presseoffizier, „erst dann kommt der Schutz von Hab und Gut.“
Einen Anlaß, die Sitzgruppe von Serben am andern Ende der Brücke aufzulösen und dort einen Posten aufzuziehen, sieht Tanguy nicht. „Wir wollen Bewegungsfreiheit in der ganzen Stadt“, betont er. Französische Gendarmen begleiten in der Tat eingeschüchterte Albaner mitunter auf die andere Seite. Doch heute Abend ist die Lage gespannt. Albanische und serbische Männer stehen nur noch einen Steinwurf entfernt voneinander. Französische Panzerwagen stellen sich zwischen die Fronten. Eine mutige Albanerin versucht, sich an ihnen vorbei auf die serbische Seite zu schleichen. Sie wird von aufgebrachten serbischen Frauen zurückgedrängt. Die Franzosen schießen – in die Luft. Die Ruhe an der Brücke ist wieder hergestellt.
Thomas Schmid, „Die Tageszeitung“ (taz), 14.07.1999