Die Albaner in der „Wiege der serbischen Nation“

Es sind Ferien. Die Schule ist geschlossen. Nur der Pedell macht keinen Urlaub. Einer muss ja zum Rechten sehen. Oder wenigstens aufpassen. Man kann ja nie wissen. Doch der Pedell ist nicht allein. Auf der anderen Seite desselben Schulgebäudes ist noch ein Pedell. Auch der passt auf. Und mitten durch das große Haus wurde eine Mauer gezogen. Auf der einen Seite der Mauer, im kleineren Teil des Gebäudes, gehen 2.400 albanische Kinder in drei Schichten zur Schule. Auf der anderen Seite der Mauer, im größeren Teil, lernen 400 serbische Kinder das ABC – am Nachmittag sind die Klassenzimmer leer. Der albanische Teil mit seinen alten Schulbänken ist schmucklos. Im serbischen Teil sind die Möbel neu, und im Korridor hängt die Ahnengalerie der Könige der mittelalterlichen serbischen Reiche. Die beiden Pedelle kennen sich nicht. Es herrscht Apartheid im Kosovo, der zu 90 Prozent von Albanern besiedelten Provinz im Süden Serbiens.

„Es war schon schlimmer“, frotzelt Baton Haxhiu, Redakteur bei der albanisch-sprachigen ‚Koha‘, „früher benutzten wir sogar verschiedene Bürgersteige.“ Auf der einen Seite der zentralen Promenade von Pristina, der Hauptstadt des Kosovo, spazierten die Albaner, auf der andern die Serben. Davon ist heute nichts mehr zu spüren. Ansonsten aber gibt es zwei getrennte Gesellschaften: Soldaten, Polizisten und Angestellte des Öffentlichen Dienstes sind Serben; Schuhputzer und Kaugummiverkäufer sind Albaner. Natürlich gibt es auch serbische Armut und albanischen Reichtum. Am Gesamtbild aber ändert dies nichts: Eine privilegierte Minderheit herrscht, gestützt auf die Mittel staatlicher Macht, über eine entrechtete Mehrheit.

Der Beweis liegt in einem bescheidenen Häuschen an der Xhavit-Mitrovica-Straße. Dort hat das „Komitee zum Schutz der Menschenrechte und der Freiheit“ seinen Sitz. In dicken Foto-Alben ist der alltägliche Terror festgehalten:  Bilder von Menschen mit zerbrochenen Nasen, abgeschnittenen Ohren, blutunterlaufenen Augen und blau geprügelten Rücken. Unter jedem Foto ist fein säuberlich Name und Alter des Opfers und Datum des Geschehens notiert. Fast jeden Tag verprügeln serbische Polizisten „auf der Suche nach Waffen“ albanische Männer, nicht selten auch Kinder, Frauen und Greise.

Entrechtet wurden die Albaner vor neun Jahren. Tito hatte in der Verfassung von 1974 dem Kosovo, das weiterhin Teil der Serbischen Republik blieb, eine weitgehende Autonomie, eine eigene Regierung und ein eigenes Parlament zugestanden. Der serbische Parteichef Slobodan Milosevic setzte 1989 auf verfassungswidrigem Weg eine Änderung der jugoslawischen Verfassung durch: Das Kosovo verlor seine Autonomie, im Juni 1990 wurde die Tätigkeit der Regierung und des Parlaments des Kosovo suspendiert. Daraufhin riefen die albanischen Abgeordneten in Pristina die Unabhängigkeit des Kosovo aus, was Belgrad umgehend mit der formellen Auflösung von Regierung und Parlament quittierte. Dass die Albaner die Wahl zum serbischen Parlament im Dezember desselben Jahres boykottierten, konnte nicht mehr überraschen. 1992 wählten ihren eigenen Präsidenten, den Literaturkritiker und Präsidenten des Schriftstellerverbandes des Kosovo Ibrahim Rugova, dessen „Demokratischer Bund des Kosovo“ (LDK) bei den gleichzeitig stattfindenden Parlamentswahlen fast alle Sitze gewann.

Regierungssitz des unabhängigen Kosovo ist eine unscheinbare Baracke hinter dem Fußballstadion von Pristina. Ein kleiner Sitzungssaal, der 20 Personen Platz bietet, ein vielleicht zwölf Quadratmeter großes Büro des Präsidenten, eine Kochnische und ein Zimmerchen fürs Sekretariat. Doch Vizepräsident Hydajet Hyseni ist anderes gewohnt. Zehn Jahre lang hat der ehemalige Chemieprofessor im Gefängnis gesessen. Keine gewalttätige Handlung wurde ihm vorgeworfen, nur dass er als Rädelsführer 1981, wie Tausende anderer Albaner auch, auf die Straße ging, um eine Republik Kosovo zu fordern. „Angesichts der Alternative, die serbische Besatzung zu akzeptieren oder mit ihr den offenen Konflikt zu wagen“, sagt Hyseni, „haben wir nun den dritten Weg gewählt: den gewaltfreien Weg des Aufbaus einer Gegengesellschaft.“ In der Tat gibt es nicht nur einen ziemlich machtlosen Präsidenten und ein Parlament, das noch nie tagen konnte, sondern auch ein paralleles Gesundheitswesen, das die aus den Krankenhäusern entlassenen albanischen Ärzte betreiben, und vor allem ein beachtliches paralleles Schulsystem, das die entlassenen Lehrer aufgebaut haben. Während die Primarschüler noch die alten Schulen benutzen können, werden über 70.000 Sekundar- und Mittelschüler, Gymnasiasten und Studenten in Privathäusern, Garagen und Wohnstuben unterrichtet. Zur Finanzierung dieser parallelen Institutionen tragen die Gastarbeiter in Deutschland und anderswo erheblich bei. Viele von ihnen lassen drei Prozent ihres Lohnes der Republik Kosovo zukommen.

„Wir wollen keine Radikalisierung“, sagt der Vizepräsident, „aber Frustration und Verzweiflung sind groß.“ Vor allem Rugova sei es zu verdanken, dass das Kosovo noch nicht explodiert sei. In der Tat hat der Präsident immer wieder zur Geduld und zur Mäßigung aufgerufen, wenn Zorn und Wut sich in Gewalt zu entladen drohten. Und immer wieder hat er die internationale Öffentlichkeit gewarnt, er wisse nicht mehr, wie lange seine friedliche Strategie sich durchhalten lasse, wenn sich im Kosovo nichts ändere. Doch die internationalen Friedensvermittler hatten alle Hände voll mit Bosnien zu tun. Und da man Milosevic für die Durchsetzung des Dayton-Abkommens zu brauchen glaubte, schien es wenig opportun, ihn mit Forderungen zur Lösung des Kosovo-Problems zu vergrätzen.

Doch das Kosovo wartete nicht. Ein Tag nachdem Ende April der albanische Student Armend Daci den Kugeln eines Serben zum Opfer fiel – ein „Missverständnis“, wie die Polizei verlauten ließ -, wurden an zwei verschiedenen Orten vier Serben erschossen, darunter ein Polizist.

Im Juni wurden bei Überfällen auf drei Polizeistationen ein Polizist getötet und zwei weitere verwundet. Die Verantwortung übernahm eine bisher unbekannte „Befreiungsarmee des Kosovo“ (UÇK). Kaum jemand in Pristina mag glauben, dass sich hinter dem Kürzel Albaner verbergen. Generell werden die Attacken serbischen Provokateuren angelastet.

„Wenn es Albaner gewesen sein sollten“, meint Shkelzen Maliqi, „dann waren sie wohl vom serbischen Geheimdienst gesteuert, möglicherweise, ohne dass sie es merkten.“ Aber so ganz ausschließen mag auch der Schriftsteller nicht, dass es sich um eine genuin albanische Tat handelt. Er arbeitet bei der Soros-Stiftung, die sich in vielen Ländern Europas für den Aufbau einer zivilen Gesellschaft und eine völkerübergreifende Verständigung einsetzt. Letzteres ist hier eine schier aussichtslose Arbeit. Denn im Kosovo ist der Faden zwischen den Serben und Albanern zerrissen. Private Kontakte gibt es kaum mehr, institutionelle schon gar nicht. Nur eine Ausnahme: Einmal pro Monat setzen sich in einer Pizzeria jeweils etwa zwanzig serbische und albanische Frauen zusammen, um über die Lage zu diskutieren. Ansonsten ist es der Stiftung gelungen, zwei albanisch-serbische Symposien zu veranstalten – eines in Budapest, das andere im makedonischen Ohrid.

Bewegung in die Kosovo-Frage kam nicht durch die Schüsse im Juni, sondern noch von einer anderen Seite. Aleksandar Despic, der Präsident der regierungsnahen Serbischen Akademie für Kunst und Wissenschaften in Belgrad, hat jüngst in einer aufsehenerregenden Rede die Alternative zwischen einem zweisprachigen Serbien und einer Unabhängigkeit des Kosovo gestellt. Es war ein Versuchsballon, sagt Meliqi. Aber ein Sturm der Empörung brauste durch die serbischen Medien. Zwar wurde die Befürchtung, dass die hohe Geburtenrate der Albanerinnen die Serben bald zu einer „Minderheit im eigenen Land“ macht, weithin geteilt. Dass das Kosovo, „die Wiege der serbischen Nation“, aber in die Unabhängigkeit entlassen wird, dass Prizren, die alte Residenzstadt der serbischen Könige, dass Pec, vierhundert Jahre lang der Sitz des Patriarchen der seit dem 13. Jahrhundert autokephalen Serbisch-orthodoxen Kirche, eines Tages im Ausland liegen könnten, sprengt das Erfassungsvermögen der allermeisten Serben.

Und so machte denn auch die „Serbische Widerstandsbewegung“ mobil. 40.000 Unterschriften habe man gesammelt, behauptet ihr Führer Momcilo Trajkovic, um Präsident Milosevic zu einem Besuch des Kosovo zu bewegen. Doch der Herr aus Belgrad, von den Serben vor wenigen Jahren noch als Befreier vom albanischen Joch stürmisch gefeiert, ließ sich bei den 350 Widerständlern, die sich im alten Kloster von Gracanica eingefunden hatten, nicht blicken. „Notfalls werden wir wie vor 300 Jahren wieder auswandern“, sagt Predrag, der die Fresken des Klosters erklärt, resigniert.  Damals zogen 35.000 serbische Familien, angeführt von ihrem Patriarchen Arsen Cernovic III., aus dem Kosovo aus, um sich vor den Türken zu retten.

„Die Zeit arbeitet für uns“, sagt Ejup Statovci, Rektor der parallelen Universität der Albaner, die in 550 Privatwohnungen beheimatet ist und die 17.000 Studenten zählt. Zwei Monate lang hat er gesessen, weil er in einem Brief an die Behörden die Rückgabe des Universitätsgebäudes, der Bibliothek und der Studentenhäuser gefordert hatte. Über zwei Jahre lang hatte er keinen Pass, weil er an einer europäischen Rektorenkonferenz in Thessaloniki teilgenommen hatte. Doch der Zivilrechtler lacht auf den Stockzähnen. Es sind Schlachten von gestern. „Letztlich werden wir gewinnen, man kann nicht gegen den erklärten Willen von 90 Prozent der Bevölkerung beliebig lang regieren.“

Sein serbischer Kollege, Radivoje Papovic, hat in den vergangenen zwölf Monaten drei Statuen bauen lassen. Vor seiner Universität blickt jetzt ein fünf Meter hoher Niegos, Fürstbischof von Montenegro und literarischer Verfechter des Serbentums, auf die Ankömmlinge. Ein Stück weiter sitzt mit Riesenschnäuzer der serbische Sprachreformer Vuk Karadzic auf marmornem Sockel, und vor dem Rektorat hat sich der serbische Schriftsteller Dosidej Obradovic in Stein aufgepflanzt. „Die letzten Schlachten werden auf dem Terrain der Symbole geschlagen“, hatte ein serbischer Philosophiedozent gesagt, der keinen einzigen albanischen Studenten hat und seinen Namen nicht veröffentlicht sehen will, „jetzt können wir Serben nur noch symbolische Siege erringen.“

Thomas Schmid, „Wochenpost“ (Berlin), 08.08.1996 (dort unter dem unpassenden Titel „Der Hass von gestern“ erschienen)

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