Bevor der Alpinismus und der Wintersport die Bergwelt entzauberten, war diese von Dämonen, Kobolden, Drachen und Lindwürmern bevölkert. Hexen ritten, Wolle spinnend, auf Lawinen zu Tal. Die Bauern fürchteten die bösen Geister und beteten zu Gott. Noch im Jahr 1652 wurde in Avers, einem kleinen Dörfchen im schweizerischen Graubünden, in einem Hexenprozess eine Frau beschuldigt, arglistig den Abgang einer Lawine herbeigeführt zu haben. Und als 1741 der junge Engländer William Windham eine Expedition zu den Gletschern des Mont Blanc anführte, waren die Pioniere und ihre Gepäckträger schwer bewaffnet. Man konnte ja nie wissen…
Inzwischen ist jeder Gipfel erstürmt, jede Wand durchstiegen – auch im Winter und in Lotlinie. Die Gefahren sind bekannt: es gibt weder Dämonen noch Hexen, nur zugeschneite Gletscherspalten, Steinschlag und vor allem Lawinen. Wegen ihrer Urgewalt, ihrer Unberechenbarkeit und ihrer schieren Ausmaße üben Lawinen auch heute noch auf den Menschen eine eigenartige Faszination aus, die auch in der Metapher vom Weißen Tod zum Ausdruck kommt. Der Begriff verweist auf etwas Erhabenes, geradezu Gottgewolltes und verdrängt das grausame Bild von Menschen, die mit zerschlagenem Schädel und ausgerenkten Gliedern in einer von ihnen selbst ausgelösten Lawine begraben liegen. Wurden früher vor allem Bergbauern von den Schneemassen spontan abgehender Lawinen verschüttet, sind die Opfer heute zu über 90 Prozent Skitouristen, die das Schneebrett, das sie in den Tod riss, selbst losgetreten haben. Ob Lawinen abgehen oder Schneebretter ausgelöst werden, hängt von vielen Faktoren ab: von der Neuschneemenge, vom Wind, von der Temperatur und vor allem der Schichtung des Altschnees.
Schon im Jahr 1555 hat Olaus Magnus, Erzbischof im schwedischen Uppsala, die verschiedenen Schneeformen untersucht, und der deutsche Astronom und Mathematiker Johannes Kepler bemerkte bereits zu Beginn des 17. Jahrhunderts, dass alle Schneekristalle eine sechseckige Grundform haben. Aber erst im 20. Jahrhundert wurden Institute zur Erforschung der Weißen Gefahr gegründet – in Russland und in der Schweiz. Im Winterkurort Davos steht heute das weltweit führende „Eidgenössische Institut für Schnee- und Lawinenforschung.“ Es begann seine Arbeit 1936 in einer Holzbaracke auf dem 2.662 Meter hoch gelegenen Weißfluhjoch oberhalb von Davos. Bis 1996 gelangten die Forscher mit der Standseilbahn zu ihrem Arbeitsplatz in der luftigen Höhe, nach Feierabend schnallten sie ihre Skier an und fuhren nach Hause ins Tal hinunter. Seit drei Jahren nun ist das renommierte Institut unten im Dorf angesiedelt. Im neuen Gebäude arbeiten etwa 40 Nivologen (Schneeforscher) – Physiker, Chemiker, Meteorologen, Biologen, Informatiker, Forst- und Bauingenieure, Geographen und Geologen – interdisziplinär zusammen. Sie untersuchen den Schnee, erforschen die Voraussetzungen für den Abgang von Lawinen, kümmern sich um Lawinenverbauuung und Wiederaufforstung und erstellen im Winter täglich ein Lawinenbulletin, das sich vor allem an jene Skitouristen richtet, die es vorziehen, abseits der präparierten Pisten im Tiefschnee zu fahren.
Die Entstehung einer Lawine ist eine hochkomplizierte Angelegenheit, und der Schnee ist nicht einfach eine Masse, die schmilzt oder anwächst. In der Schneedecke findet aufgrund der Temperaturunterschiede – wenn auf der Schneeoberfläche minus 15 Grad herrschen, kann die Erdwärme den Schnee am Boden zum Schmelzen bringen – ein permanenter Umwandlungsprozess statt. Wassermoleküle wandern von der Wärme in die Kälte. So entsteht aus Neuschnee körniger Altschnee, der sich dann zum gefährlichen Schwimmschnee umwandelt, einer unstabilen Unterlage für darüber liegende Schneeschichten. Es gibt aber nicht nur Neu- und Altschnee, sondern auch Locker- und Nassschnee, Sulz- und Filzschnee, wobei das eine das andere nicht ausschließen muss (Neuschnee kann Nassschnee sein) und auch die Abgrenzungen nicht eindeutig sind, sondern auch Mischformen vorkommen. Wann eine Schneeschicht ins Rutschen kommt, hängt von der Neigung des Geländes ab, aber auch von Spannungen im Schnee. Diese werden auch dadurch erzeugt, dass der Schnee wie eine zähe Honigmasse langsam fließt, an der Oberfläche allerdings schneller als in Bodennähe.
Paul Föhn, Schneephysiker, gehört am Institut mit 29 Dienstjahren zu den alten Hasen. Er leitet die Abteilung Lawinenbildung. „Das mechanische Verhalten von Schnee ist nicht optimal bekannt“, erklärt er, „wir wissen nicht genau, welche Veränderungen externer Bedingungen wieviel zur Geschwindigkeit der Verformung von Schnee beitragen. Über die Lawinenbildung wissen wir noch längst nicht alles. Wie und unter welchen Bedingungen es zu den Initialbrüchen in der Schneedecke kommt, die für die Auslösung der Lawine so wichtig sind, ist noch nicht hinreichend erforscht. Auch in Sachen Druckfestigkeit und Scherspannung (die sich aus den gegeneinander wirkenden Kräften zwischen zwei Schneeschichten ergibt) haben wir noch viele Fragezeichen. Wir arbeiten mit approximativen Lösungen.“
In Davos wird Feld- wie Laborforschung betrieben. Unterhalb des Weißfluhjochs messen Nivologen täglich die Neuschneemenge, die Gesamtschneehöhe, die Temperatur, die Feuchtigkeit und die Windstärke. Sie analysieren das Profil der natürlichen Schneedecke. Mit Rammsonden prüfen sie die Festigkeit des Schnees und mit Hilfe von Rutschblöcken seine Scherfestigkeit. In den Kältelabors wird dann simuliert. Unter der kontrollierten Veränderung spezifischer Bedingungen (Temperatur, Feuchtigkeit, Luftdruck, usw.) wird die Veränderung von Schnee beobachtet. Hierzu wird der Schnee glattgefräst, eine hauchdünne Schicht wird mit einer Videokamera gefilmt. Aus den direkt in den Computer übermittelten Bildern können dreidimensionale Schneegebilde rekonstruiert werden. Die Forscher gewinnen so Einsichten in die Umwandlung des Schnees, in seine Struktur und seine Schwachschichten.
All diese Experimente haben einen höchst praktischen Nutzen für die Gefahrenprognose. Das Lawinenrisiko ist besonders groß nach Neuschneefall mit Wind, nach schneller und markanter Erwärmung und dort, wo es schwache Schichten innerhalb der Schneedecke gibt. Auch ist Lawine nicht gleich Lawine. Es gibt die relativ harmlosen Lockerschneelawinen und die gefährlichen Schneebrettlawinen; man spricht von Nassschneelawinen, die im Frühjahr abgehen, wenn die Schneedecke durch Erwärmung und allmähliche Durchnässung ihre Festigkeit verliert. Und neben all diesen Formen der Fließlawine gibt es die eher seltenen, aber umso monströseren Staublawinen, die im übrigen immer erst aus einer Fließlawine entstehen. Sie können bis zu einem Kilometer breit und bis zu 400 Meter hoch werden. Während die Fließlawinen maximal eine Geschwindigkeit von etwa 100 Kilometern pro Stunde erreichen, donnern die Staublawinen mitunter mit 350 Stundenkilometern zu Tal. Die schwere Fließlawine walzt erbarmunglos nieder, was ihr in die Quere kommt, bis sie bei geringer Neigung des Geländes zum Stehen kommt. Die leichte Staublawine, die, im Tal angekommen, oft noch den gegenüberliegenden Hang einige hundert Meter „hochklettert“, ist nicht minder gefährlich. Wer von ihr überrascht wird, hat keine Chance. Ein Gemisch aus Schnee und Luft, das sich in die Lungen presst, führt in der Regel zum sofortigen Erstickungstod.
Kleine Lawinen sind für Francois Dufour von geringem Interesse. Der diplomierte Bauingenieur – auch er einst dem Weißen Tod von der Schippe gesprungen, als drei seiner Kameraden nur noch tot geborgen werden konnten – beschäftigt sich ausschließlich mit großen Lawinen, vornehmlich mit den noch kaum erforschten Staublawinen. „Und da die doch relativ selten abgehen“, sagt er, „helfen wir der Natur eben etwas nach.“ Bei Sion in der französischen Schweiz, über 200 Kilometer von Davos entfernt, läßt er auf einem Versuchsgelände des Eidgenössischen Instituts für Schnee- und Lawinenforschung bei günstigen Bedingungen – günstig für Lawinen, ungünstig für Skifahrer – den Schnee bombardieren. Mit Hubschraubern werden Dynamitladungen über dem potentiellen Anrißgebiet einer Lawine abgeworfen oder mit Minenwerfern der Armee dorthin lanciert. Wenn Dufour Glück hat, geht eine Staublawine ab. Wenn er Pech hat, schlägt ihm die Natur ein Schnippchen. Wie vor einigen Wochen am 29. Dezember. Da wollte er eine Lawine lossprengen, doch war die just am Vortag – quasi heimlich und von keinem Forscher beobachtet – aus eigenen Stücken abgegangen.
Das Testgelände ist ein kahler Berghang. Es zieht sich vom Kamm, der 2.650 Meter über dem Meeresspiegel gelegenen Creta Besse, bis zum 1.200 Meter tiefer liegenden Bachbett der Sionne hinunter. Oben auf dem Kamm ist eine meteorologische Station eingerichtet, die klimatische Daten übermittelt. Im „Lawinenzug“, dem Korridor, in dem die Lawine erwartet wird, sind ebenerdig auf 2.300 Meter, auf 1.900 Meter und auf 1.650 Meter kleine Radarstationen in Betonkammern eingelassen, über die die Lawine hinwegfegt und die ihre Geschwindigkeit und ihre Dichte messen sowie die Partikelbewegungen in den Turbulenzen des Lawinenstaubs festhalten. Zudem sind verschiedene künstliche Hindernisse in den Korridor gestellt, um den Druck der Schneemassen festzustellen.
Das Herz der ganzen Anlage aber ist der Bunker. Er liegt nur 50 Meter oberhalb des Bachbettes der Sionne, gegenüber dem Lawinenhang. Drei große Luken im dicken Betonklotz geben den Blick auf den Lawinenhang frei. Die Forscher können die Lawine heransausen sehen. Sie können sie fotografieren. Sekunden bevor sie dann die Höhe des Bunkers erreicht, müssen sie die schweren Stahlklappen vor den Luken herunterlassen, um sich selbst in Sicherheit zu bringen, falls die Lawine die Kurve nicht kriegt und, statt ins Bachbett einfließt, den Berg hochstürmt. Hinter Panzerglas sind überdies zwei Videokameras montiert, die auch in ruhigen Zeiten automatisch jede Stunde ein Foto schießen.
Jetzt, im Januar, liegt die untere Hälfte des etwa acht Meter hohen Bunkers im Schnee. Nicht weil es so viel geschneit hat. Vier Meter Schnee gibt es auf dieser Höhe nie. Nein, der Bunker sitzt förmlich im Restschnee einer Lawine, die im vergangenen Februar abgegangen ist. Damals im großen Katastrophenwinter ist es Francois Dufour geglückt, drei Lawinen auszulösen. Die dritte war ein Kilometer breit, stieg vom Tal zum Bunker hoch und deckte diesen mit fünf Meter Schnee zu. Über ein Dutzend Nivologen, die aus der ganzen Welt angereist waren, saßen damals im Beton-Bungalow fest. Aber zumindest hatten sie Licht über die unterirdisch gelegten Leitungen. „Am meisten Angst hatten die Journalisten, die wir eingeladen hatten“, erinnert sich Dufour, der das ganze Geschehen von weiter oben beobachtet hatte. Nach einiger Zeit sei es den Eingeschlossenen gelungen, von unten Lawinensonden durch die Schneedecke über dem Bunker zu stoßen. „Die hätten wir sonst nicht gefunden, es war alles eine riesige weiße Schneefläche. Vier Stunden lang haben wir mit der Motorsäge ein Loch durch den Schnee gesägt, bis wir sie frei hatten.“
Die künstliche Auslösung von Lawinen ist heute auch im Rahmen der Katastrophenprophylaxe gang und gäbe. Wo die Lawine bereits abgegangen ist, bewegt sich der Skifahrer auf relativ sicherem Gelände. Andere Massnahmen gegen die Weiße Gefahr sind die künstlichen Lawinenverbauungen wie auch die Wiederaufforstung. Schon vor Jahrhunderten hatten viele Gemeinden die Abholzung der Bannwälder strikt verboten, oft ohne Erfolg. Bis an den steilen Hängen im Gebirge ein Wald herangewachsen ist, der vor Lawinen Schutz bietet, dauert es allerdings 20 bis 50 Jahre. Oft vernichten Rehe, Gämsen und Hirsche, die kaum mehr natürliche Feinde kennen, die Neupflanzungen. Schon wird eine forcierte Wiederansiedlung von Wölfen ins Gespräch gebracht. Und so mag man nicht ausschließen, dass dort, wo Bauern einst Dämonen und Hexen fürchteten, mancher Wintersportler künftig von Albträumen hungriger Raubtiere heimgesucht wird?
Thomas Schmid, gekürzt erschienen in: „Badische Zeitung“, 19.02.2000
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