VAL VIGEZZO. Kastanienwälder vor sich auftürmenden Bergketten, Dörfer mit engen Gassen, alte Häuser mit Dächern aus grauem Granit, nur hier und da ein herrschaftliches Gebäude mit Stuck und Resten farbiger Fresken, das davon zeugt, dass ein Emigrant es einst in der Ferne zu etwas Wohlstand gebracht hat. Das Val Vigezzo, ein Tal in den italienischen Alpen, im Piemont, an der Grenze zum Schweizer Tessin, trägt den Beinamen Valle dei Pittori, Tal der Maler. Von der Natur mit Schönheit gesegnet, hat es viele Künstler hervorgebracht und viele Touristen angezogen. Das ist die eine, die helle Seite des Tales. Die andere Seite, die dunkle, gehört heute weitgehend der Vergangenheit an. Aber einmal im Jahr, in den ersten Septembertagen, wird ihrer gedacht.
Auch Takeo Onozowa ist nach Malesco gekommen, in eines der sieben Dörfer des Val Vigezzo. Sein Gesicht hat er mit Ruß geschwärzt. E
in am Hinterkopf verknotetes Tuch bedeckt Stirn und Haupthaar. An der Jacke zeigt ein aufgenähter Sticker einen schwarzen Mann mit Leiter. Onozawa hat für jeden ein freundliches Lächeln. Er blinzelt in die Sonne. Dann schaut er zum Jüngling hoch, der auf einem Sockel in Granit gehauen vor ihm steht. Es ist Faustino Cappini. Er trägt einen Hut mit breiter Krempe. An seiner Schulter hängt ein Besen, in der linken Hand hält er ein Seil, die rechte ist tief in die Hosentasche vergraben. Seine Füße stecken in klobigen Schuhen. „Umile spazzacamino“ steht unter dem Denkmal: Ärmlicher Schornsteinfeger.
Cappini ist 1931 im Alter von 14 Jahren in Mailand gestorben. Er war, wie damals üblich, unten in den Rauchfang eingestiegen, hatte sich, mit einer Raspel den Ruß abkratzend, hochgearbeitet und, oben angekommen, auch dies üblich, den Arm aus dem Kamin gestreckt, um dem Padrone zu zeigen, dass er die Arbeit erledigt hatte. Doch berührte er dabei versehentlich eine Hochspannungsleitung. Er war sofort tot. Oder er ist – so die prosaische Version – einfach auf dem Dach ausgeglitten und abgestürzt, wie so viele andere vor ihm auch.
Takeo Onozawa ist aus Nagano, einer Großstadt im fernen Japan, ins kleine Bergdorf Malesco gekommen. Vom internationalen Treffen der Schornsteinfeger hat er über Facebook gehört. Nun steht er zusammen mit über 700 „schwarzen Männern“ aus 17 Ländern vor dem Denkmal des jungen Cappini. Es ist eine bewegende Szene.
Jahrhundertelang verlief die Reise der schwarzen Männer in umgekehrter Richtung. In Santa Maria Maggiore, dem Nachbardorf von Malesco und Hauptort des Val Vigezzo, berichtet das Museo dello Spazzacamino, das Museum des Schornsteinfegers, von der tristen Geschichte des Tals. Schon im Jahr 1538 schrieb der Schweizer Chronist Aegidius Tschudi: „Im Val Vejetz sind alle Kaminfeger, die nach Neapel, Sizilien, Frankreich und Tütschland ziehen.“ Und sein deutscher Kollege Johannes Stumpf zeichnete bereits um die Mitte des 16. Jahrhunderts eine Landkarte, auf der das heutige Val Vigezzo „Kämifegertal“ heißt.
Stockfinster, kalt und dreckig
Bis weit ins 20. Jahrhundert hinein reisten Padroni, Brotherren also, ins Tal und suchten arme Familien auf, die bereit waren, ihnen für ein paar Lire ein Kind für ein halbes Jahr zu überlassen, in der Regel von Oktober bis Ostern, wenn in den Bergen wenig Arbeit anfiel. Viele Familienväter – die Mütter hatten wenig zu sagen – vermieteten ihre Söhne gern, schon weil dann ein Mund weniger zu füttern war. Manche gaben ihre Sprösslinge auch für drei, vier oder fünf Jahre ab, wenn es um Arbeit in Deutschland, Frankreich, Belgien, Holland, England oder gar in Übersee ging. Es herrschte eine unbeschreibliche Not im Tal.
Sechs bis zwölf Jahre alt waren in der Regel die Spazzacamini, die mit den Padroni durch die Lombardei und das Piemont zogen, um Schornsteine zu reinigen. Ihre schmächtigen Körper schlüpften durch Kamine, in denen ein Erwachsener steckengeblieben wäre.
Carlo Mattei gehört zu den ganz wenigen noch lebenden Männern im Val Vigezzo, die als Kind in die Rauchfänge gestiegen sind. Dem 77-jährigen Maler sieht man das Alter nicht an. Und nichts am rüstigen Rentner mit dem schelmischen Blick deutet auf seine schwere Jugend hin. Er lädt zu einem Gläschen Wein in der nächsten Bar ein und erzählt seine Geschichte. Sie scheint ihn heute zu amüsieren. Manchmal, sagt er lachend, könne er selbst nicht mehr glauben, was er alles durchgemacht hat.
„Wir wanderten durch die Städte und Dörfer der Po-Ebene und schrien ‚Spazzacaminooooo!‘ durch Straßen und Gassen, um unsere Dienste anzubieten. Es war eine grausame Arbeit. Wir schliefen in Ställen, waren oft tagelang durchnässt, froren, hatten Hunger – und dann der mühsame Aufstieg durch den Schornstein. Im Kamin gibt es keine Leiter, keine Stufen, nur rußverschmierte Wände. Ellbogen, Knie und Rücken gegen das Mauerwerk gepresst, robbt man sich – immer mit der Raspel den Ruß wegkratzend – den Schornstein hoch.“ Heute komme ihm all dies, sagt er, wie ein ferner Traum vor. Ein Albtraum, der acht Jahre gedauert hat.
Mattei war zwölf Jahre alt, als er die Schule verließ, um mit dem Vater durch die Lombardei und das Piemont zu ziehen. „Mein Vater hatte ein weit schwereres Schicksal als ich“, sagt er, „er wurde im Alter von neun Jahren einem Padrone übergeben. Man muss sich das mal vorstellen: Ein Kind wird von einem Tag auf den andern aus der Familie gerissen und ist schon kurz danach allein in einem Schornstein. Da ist es stockfinster. Man sieht nichts. Man spürt nur das kalte, dreckige Mauerwerk und riecht den Ruß, glaubt zu ersticken.“
Im Schaufenster von Matteis Atelier in Santa Maria Maggiore hängen Ölgemälde: Stilleben, Blumensträuße, friedliche Landschaften. Im hinteren Raum gibt es auch andere Bilder. Es sind Jugenderinnerungen: Partisanen schneiden italienischen Mädchen und Frauen, die mit deutschen Besatzungssoldaten angebändelt haben, die Haare ab. Männer werfen Handgranaten in den Fluss, um danach die toten Fische einzusammeln. Und dann sind da noch die Bilder von Kindern mit rußgeschwärzten Gesichtern und bald ausdruckslosem, bald wirrem Blick. Alle tragen sie einen breitkrempigen Hut und den runden Stoßbesen, das typische Arbeitsgerät des Schornsteinfegers.
„Im Santa Maria Maggiore wusste damals niemand, dass ich als Spazzacamino durch die Ebene gezogen bin“, sagt Mattei, der in einem Weiler außerhalb des Dorfes wohnte, „ich habe mich abgrundtief geschämt und es niemandem erzählt. Ich fühlte mich als den letzten Dreck, und ich war ja auch immer dreckig, so stinkend vor Schmutz, dass mich sogar die Läuse verschont haben. Und welches Mädchen wollte sich schon mit so jemandem einlassen? Geheiratet habe ich erst mit 30.“ Bis zum Militärdienst arbeitete Mattei als Schornsteinfeger. Dann emigrierte er in die Schweiz, arbeitete als Maurer, gründete eine Baufirma, bevor er sich schließlich ganz der Kunst verschrieb, Maler und Bildhauer wurde.
Zwei Häuser hinter Matteis Atelier befindet sich eine kleine Buchhandlung. Sie ist gut sortiert: hier Reiseführer, dort Kochbücher, daneben Literatur. Über einem Regal steht „Mazzi“. Der 74-jährige Benito Mazzi ist der Chronist des Val Vigezzo. Er war 30Jahre lang Chefredakteur der regionalen Zeitung und hat 48 Bücher über das Tal, seine Kultur und Traditionen geschrieben. Sie füllen ein ganzes Regal.
Mazzi hat viel Geschichte und viele Geschichten zusammengetragen, auch jene vom kleinen Spazzacamino, der im Louvre zu Paris, damals Residenz des Königs, den Kamin fegte und aus Versehen Zeuge eines Gesprächs von Verschwörern wurde, die Ludwig XIII. nach dem Leben trachteten. Die Konspiration flog auf, weil der Junge aus dem Val Vigezzo den König warnen ließ. Zum Dank erlaubte Ludwig XIII. drei Gemeinden des Kaminfegertals freien Handel in ganz Frankreich. Die entsprechenden Urkunden werden heute im Bürgermeisteramt von Villette, einem Dörfchen oberhalb von Malesco, aufbewahrt. Eine Legende? Im Val Vigezzo wird man schwerlich jemanden finden, der den Wahrheitsgehalt der Geschichte anzweifelt.
In jahrzehntelanger Arbeit hat Mazzi das Leben der Spazzacamini des Val Vigezzo erforscht. Er traf noch eine Reihe alter Schornsteinfeger, die eine grausame Kindheit hatten. „Doch es war schwierig“, sagt er, „kaum einer wollte über seine Vergangenheit reden, alle haben sie sich für ihre Armut geschämt. Heute aber kommen Schornsteinfeger aus aller Welt nach Malesco und Santa Maria Maggiore, und im ganzen Tal ist man stolz auf die Väter, Großväter und Urgroßväter, die durch die Kaminschlünde gekrochen sind.“ Mazzi hat ein gespaltenes Verhältnis zum internationalen Treffen der Schornsteinfeger. „Die Kaminfeger von heute haben nichts mehr mit den Spazzacamini gemein“, sagt er, „die haben doch heute Laptop und fahren BMW.“ Auf der andern Seite freut es ihn, dass so viele Schornsteinfeger ins Val Vigezzo gekommen sind und sich mit der Geschichte ihres Berufsstands auseinandersetzen.
In Santa Maria Maggiore, das nur 1300 Einwohner zählt, herrscht ein Sprachengewirr wie beim Turmbau von Babel. Allein aus Deutschland sind über 200 Schornsteinfeger angereist. Johann, der alte Bayer mit Fahrrad und Leiter, weiß schon nicht mehr, wie oft er hier war. Eine Gruppe Auszubildender aus Düsseldorf schlendert durch die Hauptgasse. Eine junge Frau mit blondem Haar trägt ein schwarzes T-Shirt mit der Aufschrift „Leipziger Fegerfrauen“. Die Bars und Restaurants sind voll. Auf der Piazza wird getanzt.
Auch Kristian Budach ist ins Val Vigezzo gekommen. Natürlich in seiner schwarzen Arbeitskluft. Der 26-jährige Berliner Schornsteinfeger ist seit drei Jahren Geselle und macht demnächst seine Meisterprüfung. Er arbeitet im Kehrbezirk Tempelhof. Auch sein Vater und sein Onkel sind Schornsteinfeger, der Großonkel war Obermeister der Berliner Innung. Vom Treffen in Santa Maria Maggiore hat Budach über Freunde erfahren. Er ist zum ersten Mal in Italien. Natürlich hat er auch vor dem Denkmal des verunglückten Cappini in Malesco gestanden und das Schornsteinfegermuseum besucht. „Man sieht sich danach doch als Teil einer größeren Gemeinschaft mit einer langen Geschichte“, sagt er, beeindruckt von den Bildern extremer Armut vor noch gar nicht so vielen Jahren.
Mit Besen und Sonde
Gewiss, vieles hat sich geändert. Budach hat nach dem Abitur einedreijährige Fachausbildung absolviert. Ausdrücke wie Mängelmeldung, Vorabbescheinigung, Endabnahme gehören zu seinem Alltagsvokabular. Umweltschutz und Energieeinsparung sind Teil seines Aufgabenbereichs. In einen Kamin musste er nie kriechen. Aber auf Dächer steigt man als Schornsteinfeger auch heute noch. „Besen und Kugel sind noch immer der beste Weg, einen Schornstein sauberzukriegen“, sagt er, „und natürlich hat man danach oft ein schwarzes Gesicht.“
Mit verrußtem Gesicht schlendert ein Mann in braunen Kleidern durch Santa Maria Maggiore. Er scheint dem Museum entsprungen zu sein. Doch er trägt seine gewöhnliche Arbeitskleidung. Es ist Livio Milani aus dem Valle Cannobina, einem Seitental des Val Vigezzo. Als Kind ist er noch wenige Male in den Kamin gestiegen. Heute reinigt er die Schornsteine von oben – mit Stoßbesen, Kugel und Seil. Wenn ihm etwas ungewöhnlich erscheint, lässt er eine Sonde in den Schlot hinunter, um Videoaufnahmen zu machen. Die Zeiten haben sich eben geändert.
Die Rückseite von Milanis Visitenkarte nimmt ein Foto mit einem knienden Schornsteinfeger ein. Es ist Franco Milani, Livios Vater. Er kannte noch das Schicksal des Spazzacamino, der frierend und hungernd durch die Ebene zog. Im vergangenen Jahr erst ist er gestorben. Bis zu seinem Tod war er Präsident der Nationalen Vereinigung der Schornsteinfeger Italiens.
Nun hat Livio seine Nachfolge angetreten. Und deshalb führt er auch den Umzug von über 700schwarzen Männern an, die unter dem Applaus der lokalen Bevölkerung – nach Nationen getrennt in Blöcke geordnet – durch die Gassen von Santa Maria Maggiore ziehen, vorbei an der Ehrentribüne auf der Piazza, wo der Bürgermeister neben dem Präsidenten des Piemont Platz genommen hat. Hoch oben, über den beiden, auf dem Dach des alten Gerichtsgebäudes, winkt ein schwarzer Schornsteinfeger, seine Leiter um den Arm geklemmt.
Vorn im Zug marschieren die Italiener, dann folgen die Rumänen, die Esten, die Dänen, die Schweden, die Norweger, die Belgier, die Finnen, die Engländer, die Franzosen, die Österreicher, die Holländer (in Weiß), die Schweizer, die Deutschen (der größte Block), die Schotten (in Röcken), die Litauer und an zweitletzter Stelle vier Amerikaner (aus New York und Chicago). Ganz am Schluss schreitet – freundlich lachend – Takeo Onozawa aus Japan mit seiner kleinen Tochter. Er erhält den lautesten Beifall.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 06.09.2012