Die Hüter von Atlantis

Salvatore, von Beruf Fischer, in der Freizeit Hobbyhistoriker, hat die Geschichte so gründlich recherchiert, wie es seine begrenzten Mittel erlaubten. Er ist überzeugt: Die Insel Lampedusa ist ein Überbleibsel des im Meer verschwundenen sagenumwobenen Atlantis. Diodor, der griechische Historiker, der vor über zweitausend Jahren auf Sizilien sein vierzigbändiges Geschichtswerk verfasste, habe beschrieben, wie ein Stamm kriegerischer Frauen aus Libyen unweit der afrikanischen Küste gegen die Atlanter kämpften. „Sie töteten alle Männer und machten die Frauen zu ihren Sklavinnen“, sagt Salvatore, „Diodors Bericht lässt nur einen Schluss zu: Atlantis lag nicht im Atlantik und auch nicht im Schwarzen Meer, wie andere behaupten, sondern hier.“ Der Zeigefinger des Fischers weist senkrecht nach unten. „Hier, wo wir beide stehen.“ Dann macht er sich wieder an die Arbeit. Vier Tage war er auf hoher See, jetzt müssen die Netze geflickt werden.
Auf der Karte ist Lampedusa – wenn überhaupt verzeichnet – ein Pünktchen, so klein wie ein Flohstich oder Fliegenschiss, zwischen Sizilien und Tunesien. Die Insel, gerade zwanzig Quadratkilometer groß, gehört, geologisch betrachtet, zur afrikanischen Platte, politisch jedoch zu Italien. Zur sizilianischen Küste hinüber sind es 195 Kilometer. Nach Tunesien nur 115. Im Schlauchboot mit Außenbordmotor schafft man die bei gutem Wetter in zehn Stunden. Auch in umgekehrter Richtung.
„Vor drei Tagen erst haben wir ein Boot entdeckt“, erzählt Pasquale, ein Arbeitskollege von Salvatore, „über zwanzig schwarze Männer in Seenot. Sie waren verzweifelt. Wir haben ihnen Brot und Wasser gegeben und der Küstenwache über Funk die Position mitgeteilt.“ Mehr können die Fischer nicht tun, ohne sich dem Verdacht der illegalen Schlepperei auszusetzen.
„Zur Zeit fischen wir täglich Flüchtlinge auf“, sagt ein Matrose der Küstenwache, der am neuen Hafen ein blütenweißes Patrouillenschiff putzt und seinen Namen nicht nennen mag, weil er nicht autorisiert ist, mit Journalisten zu reden, „alles Routine, mal sind es zehn, mal zwanzig, mal auch über hundert, gestern 147“. Nur wenige Boote kämen unbemerkt bis zur Insel durch, viele würden innerhalb der Zwölfmeilenzone aufgebracht, sagt der Küstenwächter. Wer in Seenot sei, werde auch aus internationalen Gewässern gerettet.
Nach Angaben des italienischen Innenministeriums sind im vergangenen Jahr 14.331 Flüchtlinge vor und an den Küsten Italiens aufgegriffen worden. Davon kamen 98 Prozent nach Sizilien (zu dem Lampedusa administrativ gehört) – und nur noch zwei Prozent über die Adria nach Apulien oder übers Ionische Meer nach Kalabrien. Die Adria war in den 90er-Jahren die bevorzugte Route. Doch die enge Kooperation zwischen Albanien und Italien sowie die verstärkte Überwachung haben die Flüchtlinge weiter nach Süden, in gefährlichere Wasser abgedrängt. Seither steigt die Anzahl jener, die im Meer ertrinken. Allein im vergangenen Jahr sind bei elf bekannt gewordenen Schiffsunglücken 411 Menschen gestorben. Über die Dunkelziffer kann man nur spekulieren.
Von den 98 Prozent, die sich nach Sizilien aufmachen, kommen zwei Drittel über Lampedusa. Vor dem Schiff der Küstenwache dümpelt ein gebrechlicher Kutter, auf dessen Deck zerschlissene Klamotten und Dutzende von Wasserflaschen liegen, dahinter ein schrottreifer Seelenverkäufer in bedenklicher Schräglage, vor diesem eine Jolle, die halb unter Wasser steht, und daneben ein definitiv abgesoffener Kahn, und irgendwo, eingeklemmt zwischen Schiffswänden, ein Schlauchboot mit zerdellten blauen Wasserkanistern und über einem Dutzend Paar Sportschuhe. Offensichtlich sind die Flüchtlinge ins Wasser gesprungen, um schwimmend das Ufer zu erreichen.
Die bizarre Flotte abgeschleppter Fluchtgefährte liegt an einer Mole, wenige Schritte hinter den Schiffen, die zu Tagesfahrten rund um die Insel, zu versteckten Buchten und blauen Grotten einladen. Der kleine Strand der Stadt, wo sich die Sonnenanbeter drängeln, ist keine dreihundert Meter entfernt. Doch die Touristen, die jeden Sommer die Insel überschwemmen, erfahren vom täglichen Drama, das sich vor ihrer Nase abspielt, allenfalls aus der Zeitung. Die meisten sind gekommen, um an den traumhaft schönen Küsten zu tauchen. Zackenbarsche, Muränen, Gold- und Zahnbrassen, Glatt- und Katzenhaie tummeln sich im bald tiefblauen, bald smaragdgrünen Wasser. An den Felsen kleben Seesterne und Muscheln. Es gibt Taucherführungen durch Schiffwracks, die auf dem Meerboden liegen, und zu einer Unterwassergrotte mit einer Marienstatue, die Roberto Merlo, ein bekannter Fotograf der 50er-Jahre, nach einem schweren Tauchunfall gestiftet hat.
Auch die allermeisten Lampedusaner kriegen kaum je einen Flüchtling zu Gesicht. Die clandestini, wie sie offiziell heißen, oder disgraziati (die Unglückseeligen), wie die Leute hier sagen, werden nach der Bergung umgehend in ein Aufnahmezentrum am Flughafen gebracht und schon nach wenigen Tagen nach Sizilien oder Kalabrien ausgeschifft oder ausgeflogen, wo sie in Flüchtlingslager gesteckt werden.
Das Areal am Flughafen, vom Stadtzentrum eine Viertelstunde Fußweg entfernt, ist hermetisch abgeriegelt. Ein hohes grünes Tor versperrt jede Sicht auf die Baracken. Ohne Spezialerlaubnis des Innenministers in Rom wird niemand vorgelassen. Journalisten sind unerwünscht. Und wer sich von hinten über eine Schotterstraße, die am Flugfeld entlangführt, dem Lager nähert, stößt auf eine Tafel: „Jeder weitere Schritt führt zum Einsatz von Schusswaffen.“ Das Piktogramm eines Schützen, in dessen Visier der Spaziergänger steht, unterstreicht die Drohung. Vielleicht stammt die Tafel aus Zeiten, in denen die Baracken noch militärischen Zwecken dienten.
Lampedusa, der einzige Ort auf der gleichnamigen Insel, hat schon aufgrund seiner isolierten Lage eine Reihe Probleme. Wer ernsthaft erkrankt oder verunfallt, muss nach Sizilien, ins dreihundert Kilometer entfernte Palermo ausgeflogen werden. Außer Fisch und Meeresfrüchten wird alles importiert, was die Insel konsumiert. Zudem gibt es kein Trinkwasser. Jeden Mittwoch landet, wenn es der Seegang zulässt, ein Zisternenschiff an. Doch Bruno Siragusa, der Bürgermeister der Stadt, Mitglied von Berlusconis Forza Italia, zögert keinen Augenblick bei der Frage, welches denn das größte Problem auf der Insel sei: „Die clandestini. Sie behindern die Entwicklung des Tourismus.“ Die Flüchtlinge will er anderswo unterbringen, denn „es ist eine Zumutung, wenn der Tourist auf der Insel landet und als Erstes das Konzentrationslager sieht“. Nein, gegen diese Unglücklichen hätten die Lampedusaner nun wirklich nichts, beteuert Siragusa. „Il mio popolo – mein Volk“, sagt er, „hat doch gerade von Präsident Carlo Ciampi wegen seiner Aufnahmebereitschaft eine Medaille erhalten.“ Ob sie die Flüchtlinge aufnehmen wollten, hat die Insulaner allerdings niemand gefragt.
Im vergangenen Jahr versuchte der Bürgermeister, um zartbesaitete Touristen zu schonen, für die ungebetenen Gäste ein neues Lager im Zentrum der Insel zu bauen, weit außerhalb der Stadt und weit weg von den wunderschönen Küsten, allerdings just im letzten noch grünen Tal auf dem Kalkfelsen. Also gingen die Umweltschützer auf die Barrikaden – und bald auch ein „Komitee der Mütter“, das ein Krankenhaus statt eines Flüchtlingslagers forderte. Angeführt wurde der Protest vom Enfant terrible der Insel, Angela Maraventano. Sie führt gleich hinter der steinernen Maria, die über den Hafen wacht, das Restaurant „Saraceno“. Sarazenen nannte man im Mittelalter die Araber. Die Araber waren damals führend in Kunst und Wissenschaft, und sie beherrschten das Mittelmeer, über das heute ihre Nachfahren in Fischkuttern und Schlauchbooten gegen Norden fliehen.
Maraventano, vierzig Jahre alt, ist eine Frau mit etwas melancholischem Blick. Doch sobald sie redet, gerät sie in Rage, und dann schleudern ihre Augen Blitze. Die Medaille des Präsidenten wünscht sie dahin, wo der Pfeffer wächst. Und die Flüchtlinge würde sie am liebsten hinterherschicken. Als der Bürgermeister sein neues und größeres Aufnahmelager bauen wollte, kettete sie sich aus Protest an eine Baumaschine. „Wir brauchen nicht noch mehr clandestini!“, sagt sie. „Wir brauchen gar keine. Soll die Marine sie doch auf ihren Schiffen einquartieren! Da haben zehntausend Platz. Die Regierung soll ihnen zu essen geben, und wir haben sie nicht mehr vor der Nase. Das ist auf jeden Fall die billigere Lösung.“
Nein, eine Rassistin sei sie gewiss nicht, beteuert Maraventano. „Vor fünfzehn Jahren, als die ersten Türken kamen“, sagt sie und meint damit, wie hier üblich, die Nordafrikaner, „war ich die Erste, die ihnen Schinkensandwiches an den Strand brachte. Ich wusste ja nicht, dass sie kein Schweinefleisch essen. Ich bin dann extra ins Haus zurück und habe ihnen Brötchen mit Mozzarella und Tomaten serviert.“ Es seien ja auch Menschen, disgraziati, Unglücksraben. „Aber weshalb kommen sie ausgerechnet zu uns?“ Nein, Lampedusa brauche kein neues Aufnahmelager, sondern ein Krankenhaus, damit die Frauen nicht nach Palermo fliegen müssen, um ihre Kinder auf die Welt zu bringen.
Im Juni hat sich Maraventano, die „ungebildete Fischerstochter“, wie sie betont, für einen Sitz im Europäischen Parlament beworben. Sie kandidierte hier, in der südlichsten Stadt Italiens, für die Lega Nord, die an Berlusconis Regierung beteiligt ist und die Sezession Norditaliens sowie einen eigenen Staat, Padanien, fordert. Die Lega Nord schürt die in der Lombardei, im Piemont und in Venetien weit verbreiteten Ressentiments gegen Süditaliener, die terroni, die Erdfresser. Trotzdem erhielt die Partei auf Lampedusa sechzehn Prozent der Stimmen.
Diesen beachtlichen Erfolg hat sie allein ihrer militanten Lokalmatadorin zu verdanken, die über Flüchtlinge nicht mehr reden mag und doch immer wieder gegen sie hetzt. Wie Umberto Bossi, Chef der Lega Nord. Der forderte den bewaffneten Einsatz der Marine gegen die clandestini. „Ich will das Dröhnen der Kanonen hören“, polterte er als Reformminister im vergangenen Jahr, „bei der zweiten oder dritten Warnung – pumm! – feuert die Kanone. Ohne lange Reden. Die Kanone erledigt sie alle. Anders werden wir damit nicht fertig.“
Dass Maraventano ausgerechnet auf der Liste der Separatisten des Nordens kandidierte, hat mit dem fehlenden Krankenhaus zu tun. 1999 starb auf der Insel der Tischler Bartolomeo Ippolito. Er hatte einen Herzinfarkt, und der einzige Hubschrauber der Insel, der ihn sofort nach Palermo hätte fliegen können, war auf der Nachbarinsel Linosa im Einsatz. Die Fischerstochter schrieb darauf einen geharnischten Brief an alle Parteien in Rom. Nur eine antwortete: die Lega Nord. Maraventano freute sich über das Schreiben von Giacomo Stucchi, der – in Bergamo gewählt – im nationalen Parlament in Rom sitzt. Sie gründete auf Lampedusa eine Parteisektion und fordert nun den Anschluss der Insel, die administrativ zur sizilianischen Provinz Agrigent gehört, an die lombardische Provinz Bergamo an der Schweizer Grenze.
Auf der Piazza hat die kämpferische Frau Stuhl und Tisch aufgestellt und Unterschriften für ein Referendum über die Vereinigung der Mittelmeerinsel im Süden mit der Gebirgsprovinz im Norden gesammelt. Sie habe genügend Stimmen zusammen, behauptet sie, doch weigere sich der Bürgermeister, eine Abstimmung durchzuführen. Deshalb habe sie beschlossen, ab sofort keine Steuern mehr zu zahlen. „Sollen sie mich doch ins Gefängnis bringen, ich habe keine Angst, dann muss mich der Staat eben durchfüttern – wie all diese Afrikaner und Türken.“
Calogero Raptis versteht die Aufregung über die Flüchtlinge nicht. „Wir müssen doch froh über sie sein“, meint der Schwämmemacher lakonisch. „Sie haben Lampedusa in die Schlagzeilen gebracht, das lockt Touristen an, das ist gut für die Insel.“ Gut wie damals Gaddafis Raketen. Der libysche Diktator hatte 1986 als Reaktion auf die amerikanische Bombardierung von Tripolis und Benghazi zwei Scuds auf Lampedusa abgeschossen, wo die Amerikaner eine Militärbasis unterhielten. Das erste Geschoss schlug zwei Kilometer hinter, das andere zwei Kilometer vor der Insel ins Meer. Danach wusste ganz Italien, dass es weit südlich von Sizilien eine italienische Insel gibt. „Gaddafis Raketen haben den Startschuss zum Tourismus gegeben“, behauptet Raptis, „vorher kamen ja nur ein paar wenige Abenteurer.“
Rund tausend Kilo Schwämme verkauft der Enkel eines griechischen Einwanderers pro Jahr. Vor Lampedusa gibt es die größten Schwammbänke Italiens, vielleicht ganz Europas. Raptis reinigt die stinkenden Tiere, die ihm die Fischer bringen. Biologisch gesehen, sind es tatsächlich Tiere. Sie können zwar weder gehen noch schwimmen, aber doch fressen und verdauen. Er trocknet sie, entfernt die Organe und schneidet sie zurecht. Schon Raptis‘ Vater und Großvater waren Schwämmemacher. Doch es ist ein aussterbender Beruf. Raptis ist der Letzte auf der Insel, der ausschließlich von der Schwammherstellung lebt. Die synthetisch produzierten Schwämme sind billiger, und natürliche Schwämme gibt es immer weniger, seit die Fischer sie nicht mehr sorgfältig vom Felsen schneiden, sondern die Kutter auf der Suche nach Meeresfrüchten mit ihren Schürfeisen den Fels abkratzen und die submarinen biologischen Kulturen zerstören.
Um hier heimische bedrohte Meerestiere wie den Finnwal oder die Schildkröte Caretta caretta (siehe Randspalte), kümmern sich in Lampedusa Tierschützer, die Umweltbehörde der Stadt, Privatvereine. Man kann die seltenen Tiere sogar virtuell adoptieren und erhält dafür eine hübsche Urkunde. Der Stempel kostet zwanzig Euro. Es gibt ein Forschungszentrum für Delfine. Es gibt Volontäre, die jeden Abend den „Kaninchenstrand“ säubern, damit sich die Weibchen der Caretta caretta nicht an Flaschenscherben verletzen oder in Plastiktüten verheddern.
Auch für die Flüchtlinge, die mit ihren Träumen und Traumata an den Gestaden der Insel stranden und dieses kleine Paradies am Rande Europas mit den großen Problemen der Welt, mit Krieg oder auch nur Armut, zu konfrontieren drohen, ist gesorgt. Die kirchliche Hilfsorganisation Misericordia betreut ihr Lager. Sie schickt Ärzte und Psychologen zu den Eingeschlossenen.
Claudio Scalia, der Leiter von Misericordia, beschönigt nichts. Natürlich weiß er, dass die Flucht in der Regel von kommerziellen Schleppern organisiert wird. „Aber kann man das jenen vorwerfen, die Freunde und Familie hinter sich lassen und ihre Haut für ein besseres Leben riskieren?“ Die meisten Flüchtlinge haben schon in Afrika erfahren, dass es auf der Insel Lampedusa einen gewissen Claudio gibt. In der Regel seien die Flüchtlinge gut informiert und kennten auch ihre Rechte. Natürlich gebe es unter ihnen schwarze Schafe. „Aber die meisten sind vor Hunger und Elend entflohen, um durch Arbeit ein würdigeres Leben zu führen“, meint Scalia. „Oft haben die Flüchtlinge sogar ihr Arbeitswerkzeug gleich mitgebracht: der Barbier sein Rasierzeug, der Mechaniker seinen Werkzeugkasten.“
Viele Lampedusaner haben durchaus Mitleid mit den „Unglücklichen“ – und sind doch froh, dass sie im Straßenbild nicht auftauchen. Der Zutritt zu den Baracken ist verboten, der Blick auf sie versperrt. Wer die Insel aber auf dem Luftweg verlässt, kann vom geparkten Flugzeug aus das Lager übersehen. Bei jedem Start kommen die Flüchtlinge heraus, fast alle Schwarzafrikaner, und winken den Passagieren zu.

THOMAS SCHMID – TAZ-18.9.2004