Zürich. Der Mann steht breitbeinig in der Landschaft. Die Ärmel hat er hochgekrempelt. Man sieht seine kräftigen Armmuskeln. Über dem Kopf hält er mit beiden Händen eine Axt. Sie wird gleich mit Wucht hinuntersausen und eine weitere Kerbe in den Stamm schlagen. „Der Holzfäller“ ist das bekannteste Werk des Schweizer Malers Ferdinand Hodler. Kaum ein Eidgenosse, der das 1910 entstandene Bild nicht kennt. Jetzt holt der Holzfäller auf Plakaten und in Zeitungsinseraten wieder zum Schlag aus. Wird auf Hodlers Bild aber ein hoher Baum gefällt, von dem nur der lange Stamm sichtbar ist, setzt der Mann nun zum finalen Schlag gegen einen Apfelbaum an, der pralle rote Früchte trägt.
Den Apfelbaum hat die Economiesuisse, der Wirtschaftsdachverband der Schweiz, in die politische Auseinandersetzung eingeführt. Der Baum mit seinen Früchten steht für Wohlstand. Mit ihm wurde im Jahr 2000 landauf, landab für eine engere Anbindung der Schweiz an die Europäische Union geworben. Damals sprachen sich bei einer Volksabstimmung 67 Prozent der Eidgenossen für die Bilateralen Verträge aus, die der Schweiz den Zutritt zum europäischen Binnenmarkt erleichterten, aber auch die Personenfreizügigkeit zwischen den EU-Staaten und der Schweiz etablierten. Ab kommendem Juni dürfen alle EU-Bürger – mit Ausnahme der Rumänen, Bulgaren und Kroaten – in der Schweiz arbeiten. Am Sonntag stimmen die Schweizer nun wieder ab – über die Volksinitiative „Gegen Masseneinwanderung“. Kommt sie durch, würde dies wohl das Ende der Bilateralen Verträge bedeuten, die 2002 in Kraft traten. Dann droht eine Eiszeit zwischen der Schweiz und der Europäischen Union.
Die Initiatoren fordern, dass in der Bundesverfassung festgeschrieben wird: „Die Schweiz steuert die Zuwanderung von Ausländerinnen und Ausländern eigenständig.“ Sie verlangen, die Immigration über die Einführung von Kontingenten und die Festsetzung von Höchstzahlen zu begrenzen. Den Familiennachzug wollen sie einschränken und die Schweizer auf dem Arbeitsmarkt gegenüber den Ausländern bevorzugen. All dies widerspricht zwar der Freizügigkeitsregelung, zu der sich die Schweiz verpflichtet hat. Aber das letzte Wort in der direkten Demokratie hat nun einmal der Bürger.
Jedes Jahr 4 560 neue Fußballfelder
Eingebracht wurde die Volksinitiative von der rechtspopulistischen Schweizer Volkspartei (SVP), sie ist die stärkste politische Kraft im Land. Sämtliche anderen im Parlament vertretenen Parteien, ob konservativ, liberal, sozialdemokratisch oder grün, plädieren für ein Nein – genauso wie auch die Regierung, das Parlament, die Gewerkschaften und die Unternehmerverbände. Trotzdem ist noch völlig offen, wie die Abstimmung ausgehen wird. Die Forderungen der Populisten sind durchaus populär.
„Wie viel Einwanderer verträgt die Schweiz?“ Zu einer Podiumsdebatte unter diesem Motto hatte kürzlich die Boulevard-Zeitung Blick ins Zürcher Volkshaus geladen. Das Kulturzentrum am Helvetiaplatz wurde vor über hundert Jahren von Sozialdemokraten, Gewerkschaftern und Sozialreformern gegründet. Doch den Diskurs bestimmen auch hier die Konservativen. „Im Jahr 2013 lebten 84 000 Ausländer mehr in der Schweiz als im Vorjahr“, hebt Christoph Blocher mit donnernder Stimme an, „und um diese 84 000 zusätzlichen Ausländer zu betreuen, brauchen wir 6 000 weitere Zuwanderer, 500 Krankenschwestern, 600 Lehrer und 72 zusätzliche Schulen. Das können wir auf die Dauer nicht finanzieren. Die Schweiz wird untergehen.“ Der 73-jährige schwerreiche Unternehmer, der eine Zeit lang Justizminister war, ist bis heute die Galionsfigur der SVP und bei Kampagnen ihr Schlachtross. Er ist auf Podien und in Talkshows ein begehrter Gast. Er sorgt dafür, dass die Fetzen fliegen. Die Schweiz könne doch nicht alle Habenichtse der Welt aufnehmen, so der Tenor. „Und wir schmeißen ja nicht einmal die Verbrecher raus“, brüllt Blocher. Das Publikum johlt.
Vergeblich warnt der farblose Philip Mosimann, Vorstandsmitglied des Schweizerischen Arbeitgeberverbandes, vor der Abschaffung der Personenfreizügigkeit. „Einen dynamischen Arbeitsmarkt über Kontingente steuern zu wollen, wird scheitern“, prophezeit er. „Ein Beamter in Bern würde entscheiden, ob ich in Niederweningen für die Montage der Kommunalfahrzeuge eine Fachkraft im Fahrzeugbau einstellen kann, die ich in der Schweiz nicht finde.“ Mosimann malt das Gespenst eines Bürokratiemonsters an die Wand. Doch die Lacher hat Blocher, als Marktliberaler sonst staatlichen Eingriffen in der Regel abhold, mit einigen flotten Sprüchen schnell auf seiner Seite.
Die Debatte im Zürcher Volkshaus dreht sich – wie auch sonst im Land – immer wieder um überfüllte Züge, verstopfte Straßen, steigende Mieten, Lohndruck, Drogenkriminalität. Und an allem sollen die Ausländer schuld sein. „Seit dem Jahr 2007 sind jährlich rund 80 000 Personen mehr in die Schweiz ein- als ausgewandert“, schreibt das Initiativkomitee in einer Broschüre, „jährlich erfordert dies eine Siedlungsfläche in der Größe von 4 560 Fußballfeldern.“ Wahnsinn! „Ich will, dass die Schweiz Schweiz bleibt“, sagt Blocher und spricht damit vielen aus dem Herzen.
23 Prozent der Schweizer Wohnbevölkerung sind Ausländer. Die Angst vor noch mehr Einwanderern, vor Veränderung, vor Unübersichtlichkeit ist weit verbreitet, und sie wird gezielt geschürt. In der aufgeregten Debatte tut ein nüchterner Blick gut. George Sheldon hat ihn. Der 65-jährige Amerikaner, der schon 1970 als Student nach Deutschland kam, ist Leiter der renommierten Forschungsstelle für Arbeitsmarkt und Industrieökonomik der Universität Basel. Er empfängt in seinem Büro im Jacob-Burckhardt-Haus, benannt nach dem Basler Kulturhistoriker, einem weltoffenen Geist, der sich mit seinem Werk über die italienische Renaissance über die Landesgrenzen hinaus bleibenden Ruhm erworben hat.
„Das Personenfreizügigkeitsabkommen, das für die ‚alten‘ EU-Staaten 2002 in Kraft trat, hat gar keine Masseneinwanderung ausgelöst“, bilanziert Sheldon, „der starke Anstieg des Ausländerbestands geht vor allem auf Zuwanderungen zurück, die Mitte der 90er-Jahre unter dem vorherigen Kontingentsystem einsetzten, 2002 ihren Höhepunkt erreichten und seitdem tendenziell abnehmen.“ Ende Mai laufen nun die Übergangsbestimmungen für die „neuen“, osteuropäischen EU-Staaten aus. Wie viele dann in die Schweiz einwandern werden, ist nicht absehbar. Allerdings verlangen die Schweizer, anders als die Deutschen, den Nachweis einer Arbeitsstelle oder von ausreichendem Vermögen. Für Rumänen und Bulgaren können bis 2019 wieder Kontingente eingeführt werden.
Der Professor hat in einer umfangreichen Studie die Auswirkungen der Personenfreizügigkeit auf die wirtschaftliche Entwicklung der Schweiz untersucht. Er kommt zum Schluss, dass das Wirtschaftswachstum im Zeitraum 2003 bis 2009, also in den sechs Jahren nach Inkrafttreten des Freizügigkeitsabkommens, etwa zu einem Drittel auf die Zuwanderung aus der EU zurückzuführen ist. Im Übrigen verdiene der Schweizer Staat jährlich 15 000 Franken pro Einwandererhaushalt aus dem alten EU-Raum allein dadurch, „dass die Zuwanderer mehr Steuern und Beiträge in die Staatskasse und Sozialversicherungen einzahlen, als sie an staatlichen Leistungen erhalten“. Eine Kündigung des Freizügigkeitsabkommens würde der Schweiz nur zum Nachteil gereichen, so das Fazit von Sheldons Studie. Diese wurde im Auftrag des Schweizerischen Arbeitgeberverbands erstellt, dem an der Aufrechterhaltung der Bilateralen Verträge sehr gelegen ist. Ist sie interessengeleitet? Das wird ihr mitunter vorgeworfen. Doch wurden die Argumente des Amerikaners nirgends widerlegt. In seinem Büro hängt ein nicht gerade arbeitgeberfreundliches Plakat einer kommunistischen Sekte aus dem Jahr 1982. „Gegen Arbeitslosigkeit, gegen soziale Demontage, gegen atomare Aufrüstung“ und „Für Frieden, für Freiheit, für Sozialismus“, heißt es da. „Das ist nur, um euch Journalisten zu irritieren“, flachst der Professor, der in letzter Zeit viel von Medienleuten aufgesucht wird.
Und wenn nun die Mehrheit der Schweizer allen Warnungen zum Trotz am Sonntag der“Volksinitiative gegen Masseneinwanderung“ zustimmt, was passiert dann? „Erst einmal gar nix“, sagt Christa Tobler, Professorin am Europa-Institut der Universität Basel und Spezialistin für Europarecht. Die Initiative gewährt der Regierung drei Jahre Zeit, um das Freizügigkeitsabkommen mit der EU neu zu verhandeln. Tobler sieht allerdings keine Möglichkeit, wie der Willen der Initiative mit EU-Recht zu vereinbaren wäre. „Die ausführenden Gesetze werden dem Freizügigkeitsabkommen zwangsläufig widersprechen“, prophezeit sie, „die EU sagt zu Recht: Pacta sunt servanda. Verträge sind einzuhalten.“
Wenn aber eine Seite das Freizügigkeitsabkommen aufkündet – auf der EU-Seite bräuchte es dazu Einstimmigkeit im Ministerrat und die Zustimmung des Europäischen Parlaments – , dann sind sechs Monate danach sämtliche übrigen Abkommen jener Bilateralen Verträge, die 2002 in Kraft getreten sind, automatisch außer Kraft gesetzt. Dies wurde ausdrücklich vertraglich vereinbart. Die Schweizer sprechen von einer „Guillotine-Klausel“. In EU-Kreisen heißt es, die Schweizer könnten sich eben nicht nur die Rosinen herauspicken. Bei den betroffenen Abkommen geht es um Luftverkehr, Landverkehr, Landwirtschaftsprodukte, Konformitätsbewertungen und öffentliches Beschaffungswesen. Aber auch die laufenden Verhandlungen über ein Abkommen in der Stromwirtschaft und die anstehende Erneuerung der Abkommen im Forschungsbereich würden dann wohl stocken. Da droht viel Ungemach.
„Die Schweiz wird das Personenfreizügigkeitsabkommen nicht kündigen“, prophezeit Toni Brunner, „und die EU auch nicht.“ Zum Treffen im gediegenen Hotel Schweizerhof am Zürcher Bahnhofplatz ist er im offenen Hemd erschienen. Nach dem Kaffee bestellt er noch „etwas Richtiges“. Die Serviertochter, wie die Kellnerin in der Schweiz heißt, versteht schon: Brunner will eine Stange, ein Glas Bier. Er ist ein leutseliger Typ, jovial, auf Anhieb sympathisch – und das trotz der recht unsympathischen Parolen, mit denen seine Partei für die Abschottung der Schweiz wirbt. Schon mit 21 Jahren wurde er Mitglied des Nationalrats, der großen Kammer des Parlaments, heute ist er 39 Jahre alt und Präsident der SVP.
Aber Brunner ist nicht nur Parteichef und Parlamentarier, er ist auch Bauer im Toggenburg, einem Tal in der Ostschweiz. „Gestern war ich im Stall“, sagt er, „und morgen bin ich wieder im Stall, und wenn ich in Bern bin, dann schaut der Nachbar nach meinen zwölf Milchkühen.“ Die Schweiz hat kein Berufs-, sondern ein sogenanntes Milizparlament. Es kommt in Bern jährlich viermal zu dreiwöchigen Sessionen zusammen. Aber als Parteichef muss Brunner oft in die Hauptstadt. Er fährt mit dem Zug. „Die Straßen sind ja immer verstopft“, sagt er, „wegen der Masseneinwanderung.“ Und lacht. Er meint es nicht ganz ernst, nur ein bisschen eben.
Erfolgsmodell im Dilemma
„Die Schweiz ist ein weltoffenes Land“, sagt Brunner, „aber jährlich 80 000 zusätzliche Ausländer sind einfach zu viel. Bei euch in Deutschland, das zehnmal mehr Einwohner zählt, sind es nur 370 000. Und wenn die Mindestlohninitiative durchkommt, wird die Schweiz noch attraktiver.“ Im Mai werden die Schweizer an der Urne entscheiden, ob – wie vom Gewerkschaftsdachverband gefordert – ein genereller Mindestlohn in Höhe von umgerechnet etwa 3 300 Euro eingeführt wird. Dann wollen wohl noch mehr Deutsche in die Schweiz kommen. „Einzelne Deutsche stören mich nicht“, hatte Brunners Fraktionskollegin Natalie Rickli gesagt, „mich stört die Masse.“
Nun bangen alle um das „Erfolgsmodell Schweiz“, für das der Apfelbaum mit seinen prallen roten Früchten steht. Es werde durch die Masseneinwanderung gefährdet, predigen Blocher und Brunner. Es sei in Gefahr, wenn nach einer Kündigung der Bilateralen Verträge der Zugang der Eidgenossen zum EU-Binnenmarkt mit seinen 500 Millionen Konsumenten erschwert werde, schleudern ihnen die Gegner der Initiative entgegen. Nicht auszuschließen ist, dass es mit dem Erfolgsmodell Schweiz ohnehin bald vorbei ist. Einfach, weil der von den Populisten immer wieder beschworene „Sonderfall Schweiz“ der Vergangenheit angehört. Schon jetzt übernimmt die Schweiz – im Arbeitsrecht, im Sozialversicherungswesen, im Verbraucherschutz, im Kartellrecht – zahllose Regelungen, Verordnungen und Gesetze der EU. Diese faktische Übernahme von EU-Recht heißt in der Schweiz ganz offiziell „autonome Anpassung“ – man muss sich zwar anpassen, tut dies aber autonom. In diesen beiden Worten spiegelt sich das ganze Dilemma der Schweiz in einem zusammenwachsenden Europa.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 04.02.2014