Flieger, grüß mir die Sonne

PAYERNE. Langer, schlanker Rumpf, zarte, zerbrechliche Flügel, federleicht. Wie eine riesige Libelle steht die silbergraue „Solar Impulse“ in einem Hangar bei Payerne, der wichtigsten Basis der Schweizer Luftwaffe. Und vor dem Flugzeug, das mit einer Spannweite von 63,4 Metern so ausgreifend wie ein Airbus A-340 ist, hält der Mann eine Rede, der als erster ohne Kerosin, nur mit der Energie, die die Sonne so reichlich spendet, die Erde umrunden will: Bertrand Piccard.

Publikum um sich herum hat er keines, als er vor ein paar Tagen in dieser grauen, schmucklosen Halle auftritt, ebenso wenig wie sein Testpilot André Borschberg neben ihm. Die beiden diskutieren mit einer Schulklasse, die im hundert Kilometer entfernten Genf sitzt und ihre Fragen per Videokonferenz stellt.

Piccard, 52 Jahre alt, ist ein Mann, der schon rein äußerlich Erfolg ausstrahlt: durchtrainierter Körper, kein Gramm Fett zu viel, stechend blaue Augen, der Blick eines Forschers, der sich kühn dem Unbekannten stellt, oder der eines Arztes, der tief in die Seelen der Menschen schaut. Er ist beides. Aber hier und heute ist er Lehrer. „Es geht nicht darum, Rekorde zu brechen“, doziert er im Dress eines Sportpiloten, „sondern darum, unabhängig vom Öl zu werden. Die fossilen Energien werden eines absehbaren Tages zur Neige gehen. Wir müssen umdenken. Pioniergeist ist gefragt. Wagt etwas! Ihr seid die Zukunft.“ Piccard, von Beruf Psychiater, gehört zu jenen Menschen, die anderen Mut machen wollen.

Borschberg ist da schon etwas nüchterner. Er erzählt, wie er einmal ganz allein einen Tag und eine Nacht, 26 Stunden lang, in der Solarmaschine geflogen ist. „Unten vor dem Start war es 35 Grad heiß im engen Cockpit, oben – auf 8000 Meter Höhe – herrschte eine Innentemperatur von minus 20 Grad. Ich habe von Sandwiches und Wasser gelebt, geschlafen habe ich nicht eine Minute“, sagt er und gerät dann doch ins Schwärmen, „es war wie ein Traum, ein langer, langer Traum.“

Rekorde im Blut

Etwas kürzer sollte der Traum des Piloten gestern ausfallen, als André Borschberg die „Solar Impulse“ auf ihrem ersten internationalen Flug steuerte, der sie von Payerne aus über Westdeutschland und Luxemburg nonstop bis nach Brüssel führte. Mit einer Durchschnittsleistung von etwa acht PS ist das mit 12000 Solarzellen bestückte Flugzeug ungefähr so antriebsstark wie die Maschine der Gebrüder Wright vor mehr als hundert Jahren beim ersten Motorflug der Geschichte. Nach 13-stündigem Flug landete die „Solar Impulse“ am Freitagabend in der belgischen Hauptstadt. Das Ziel war mit Bedacht gewählt, hat doch die Europäische Kommission die Patenschaft des Projekts inne.

Ehrenwert ist sein ökologischer Ansatz, aber natürlich will Bertrand Piccard mit der „Solar Impulse“ auch Rekorde brechen. Er hat es im Blut. Er entstammt einer Pionier-Dynastie. Sein Großvater Auguste Piccard (1884-1962), befreundet mit Albert Einstein, Marie Curie, Max Planck und Niels Bohr, hat als Erster die Erdkrümmung mit eigenen Augen gesehen. Er stieg 1931 mit einem Ballon in die Stratosphäre auf, in eine Höhe von 15785 Metern über dem Meeresspiegel. Diesen Rekord brach er selbst später noch zweimal. Jacques Piccard (1922-2008), Sohn von Auguste und Vater von Bertrand Piccard, begab sich 1960 in einem Tauchgerät im Pazifischen Ozean auf den Meeresgrund im Marianengraben, wo er eine Tiefe von 10916 Metern erreichte, eine Weltbestmarke, die bis heute nicht unterboten wurde, und die nur 118 Meter über der tiefsten bekannten Stelle des Weltmeers überhaupt liegt.

Inzwischen hat auch Bertrand Piccard selbst einige Weltrekorde aufgestellt. Sein wohl wichtigster: Zusammen mit dem Briten Brian Jones als Kopilot umrundete er 1999 im Ballon ohne Zwischenlandung die Erde. Die beiden Pioniere starteten in der Schweiz und landeten nach zwanzig Tagen und 45755 Kilometern in der ägyptischen Wüste. So lange hatte noch niemand zuvor in der Luft geschwebt, so weit hatte sich noch niemand treiben lassen.

Zu zweit zwanzig Tage in einer Kapsel, nicht viel größer als eine Telefonzelle, die an einem Ballon hängt, Tag und Nacht, wie hält man das aus? „Wir hatten uns darauf vorbereitet, unsere Differenzen zu akzeptieren“, sagt Bertrand Piccard, „Kommunikationsprobleme gibt es ja oft, wenn man versucht, Ideen zu teilen. Es ging uns aber überhaupt nicht darum, den andern von der eigenen Idee zu überzeugen und festzustellen, wer recht und wer unrecht hat, sondern darum zu verstehen, weshalb der andere so denkt, wie er denkt.“ Es ist einer der typischen Piccard-Sätze. Empathie, die Fähigkeit, sich in die Lage des anderen zu versetzen, schreibt er groß.

Bertrand Piccard gehört zu denjenigen, die auf die Butterseite des Lebens gefallen sind. Das sieht er auch selbst so. Wer hat schon das Glück, als Kind zwei Jahre in der Nähe von Cape Canaveral zu wohnen und gemeinsam mit Persönlichkeiten aus aller Welt von der VIP-Tribüne aus den Start der Apollo-Raumschiffe zu verfolgen?

Expedition ins Innere

Auch Wernher von Braun lernte er damals kennen. Der deutsche Raketeningenieur, der zur Nazizeit in der Waffenschmiede Peenemünde die berüchtigte V2 mitentwickelte und später Vater des Mondfahrtprogramms der Nasa war, kam sogar in sein Kinderzimmer, sah auf dem Spieltisch die „Weltgeschichte der Raumfahrt“ liegen und schrieb eine Widmung ins Buch: „Für Bertrand Piccard, der, wie ich hoffe, die Familientradition der Piccards fortsetzen wird, sowohl den inneren als auch den äußeren Raum zu erforschen“.

„Da gab es natürlich Druck von allen Seiten“, sagt Piccard, „ich musste besser sein als andere Kinder, das war oft schwer. Als Träger eines solchen Namens erwartete man viel von mir.“ Der junge Bertrand trat tatsächlich in die Fußstapfen des Vaters. Er begann zu fliegen, zunächst nicht im Ballon, sondern mit Hängegleitern. Mit 16 Jahren durfte er sich bereits zu den Pionieren des Drachenfliegens zählen. Später wurde er Europameister im Kunstflug. Mit seinem Deltasegler flog er in den Alpen atemberaubende Loopings, Spins und Wingovers.

Doch anders als Vater und Großvater entschied sich Bertrand Piccard nicht für den Beruf eines Physikers oder Ingenieurs. Er begann ein Medizinstudium. „Sowohl den inneren als auch den äußeren Raum zu erforschen“, hatte ihn Wernher von Braun aufgefordert. Piccard nahm sich den Ratschlag zu Herzen. Noch heute arbeitet er als Seelendoktor in Lausanne. Doch das Solarprojekt und die vielen Vorträge, die er weltweit hält, lassen ihm nur noch wenig Zeit für seine Praxis.

Innenwelt und Außenwelt gehören für Piccard, der sich jahrelang mit Taoismus und auch mit chinesischer Kosmologie beschäftigt hat, bis heute zusammen. „Meine Abenteuer haben mir als Arzt geholfen“, sagt er, „und meine ärztliche Kunst hat mir bei den Abenteuern geholfen. Das war immer komplementär.“ Und das ist wieder einer seiner typischen Sätze. „Meine Abenteuer haben mich gelehrt, das Unbekannte zu akzeptieren, die Zweifel und die Fragezeichen zuzulassen“, präzisiert er, „die meisten Patienten, die mich aufsuchen, haben Angst vor dem Unbekannten, Angst vor Veränderung, Angst vor Zweifeln. Diese Angst ist eine der größten Quellen des menschlichen Leidens.“ Besser als sich mit Gewohnheiten Gewissheiten verschaffen zu wollen, sei es, die Zone der Bequemlichkeit zu verlassen.

Das Risiko liebe er nicht, sagt der Mann der das Risiko eingegangen ist, sich im Ballon über Ozeane treiben zu lassen. Das Risiko sei der Preis, den man entrichten müsse, um aus den Gewohnheiten auszubrechen. Fehlt ihm das Abenteuer nun, da er seine Projekte vom Boden aus vorantreibt? „Manchmal träume ich davon, zur Luftakrobatik zurückzukehren“, sagt er, „aber das wäre egoistisch, amüsant für mich, nutzlos für die anderen.“ Nützlich hingegen ist „Solar Impulse“, das Projekt, das er den Schülern über die Videokonferenz vorstellt.

Über Sponsoring hat Piccard zehn Millionen Schweizer Franken – rund acht Millionen Euro – zusammengebracht. Hauptfinanziers sind der belgische Chemiemulti Solvay, die Schweizer Firmen Omega und Schindler sowie die Deutsche Bank. Das Geld muss für zehn Jahre reichen. Zusätzliche Mittel spielt ihm die Idee ein, alle Solarzellen des Flugzeuges einzeln zur Adoption anzubieten. Der Adoptivvater oder die Adoptivmutter bekommt nicht einfach eine Zelle zugeteilt, sondern kann sich seine/ihre persönliche Zelle im Internet aussuchen. Kostet 135 Euro. Über 2500 Zellen sind bereits vergeben. Wer höher einsteigen möchte, kann seinen Namen auf dem Rumpf des Fliegers festhalten lassen. Kostet 6650 Euro.

Es geht auch anders

In die Diskussion, die zwischen dem Hangar von Payerne und der Schulklasse in Genf läuft, und die im Internet verfolgt werden kann, schaltet sich über E-Mail ein Schüler aus dem französischen Département Loire zu. Er teilt mit, vor ein paar Tagen habe seine Klasse eine Solarzelle adoptiert. Nun will er wissen, ob denn das Solarflugzeug tatsächlich im Jahr 2012 die Erde umrunden wird. „Wir wollen da nicht allzu genaue Termine setzen“, gibt Bertrand Piccard Auskunft, „wir versuchen, 2012 einzuhalten, vielleicht wird es auch 2013.“ Aus Casablanca in Marokko fragt jemand, ob denn eines Tages Solarflugzeuge die Linienflugzeuge ersetzen würden. Der Testflieger André Borschberg kann sich das Lächeln nicht verkneifen. Er hat bei seinem 26-Stunden-Flug eine Höchstgeschwindigkeit von 129 Kilometern pro Stunde erreicht, im Durchschnitt war er mit 38 km/h unterwegs. Mehr geben die vier Elektromotoren, gespeist allein von Sonnenenergie, nicht her.

Auf dem Weg zu seinem neuen Weltrekord ist Bertrand Piccard am Freitag ein Stück vorangekommen. Er will der Erste sein, der die Erde in einem solarenergiegetriebenen Flugzeug umrundet, ohne Treibstoff, ohne Schadstoffemission. Selbst wenn er am Ende nicht am Steuerknüppel sitzt, wird dieser Rekord mit seinem Namen verbunden sein. Piccard will ein neues Kapitel der Luftfahrtgeschichte schreiben.

Aber dem Enkel des Ballonfahrers, dem Sohn des Tiefseeforschers geht es um mehr. Auf Hunderten Vorträgen hat er für einen schonenden Umgang mit den Energieressourcen des Planeten plädiert. Mit seinem Solarflugzeug setzt er eine Botschaft in die Welt: Es geht auch anders. „Das Unmögliche bleibt noch zu erreichen“, schrieb einst Jules Verne, ein Fantast, ein Träumer, ein Prophet, ein Realist letztlich.

© Berliner Zeitung

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 14.05.2011

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