ALTNAU. Auch in Altnau ist der Kulturkampf angekommen. Das Dorf mit seinen 2 000 Einwohnern liegt in einer friedlichen Landschaft, inmitten von Obstplantagen, am schweizerischen Südufer des Bodensees. Im schmucklosen Martinssaal der katholischen Kirchgemeinde haben sich knapp 50 Personen versammelt, um dem Streit beizuwohnen. Es geht um sechs Wörter. Sechs Wörter, die die Schweiz erschüttern: „Der Bau von Minaretten ist verboten.“ Am Sonntag wird das Volk darüber abstimmen, ob der Satz in die Verfassung aufgenommen wird. Am Saaleingang wird ein Plakat verteilt. Es zeigt eine Schweizer Fahne, auf der sieben schwarze Minarette wie Raketen in den Himmel ragen, daneben eine völlig verschleierte Frau, die durch einen Sehschlitz blickt – nicht züchtig zu Boden, sondern herausfordernd dem Betrachter direkt ins Gesicht.
Zwei prominente Politiker sind nach Altnau gekommen: Walter Wobmann, 52, Präsident der Volksinitiative „Für ein Verbot von Minaretten“ und Mitglied des Nationalrats, der großen Kammer des Schweizer Parlaments. Er gehört der rechtspopulistischen Schweizerischen Volkspartei (SVP) an. Sein Kontrahent ist der Sozialdemokrat Andreas Gross, 57, ebenfalls Mitglied des Nationalrats, zudem auch Mitglied der Parlamentarischen Versammlung des Europarates, einer der profiliertesten Politiker der Schweiz.
Das Gespenst der Scharia
Nur die SVP, stärkste Partei des Landes, und die kleine Eidgenössische Demokratische Union, in der sich Fundamentalisten tummeln, die die biblische Schöpfungslehre wörtlich nehmen, stehen hinter der Initiative, die der „schleichenden Islamisierung“ der Schweiz Einhalt gebieten will. Sämtliche andere Parteien haben sich – wie auch die Regierung, die beiden Landeskirchen, die Jüdische Gemeinde, Gewerkschaften und Unternehmerverbände – gegen das Ansinnen ausgesprochen. Trotzdem könnte es knapp werden. In der Schweiz, wo 21 Prozent der Einwohner Ausländer sind – ein Viertel unter ihnen Muslime -, ist latente Fremdenfeindlichkeit weit verbreitet und die Rechtspopulisten wissen die Angst vor dem Anderen virtuos zu bedienen.
„Mit dem Bau von Minaretten formuliert der Islam seinen Machtanspruch“, eröffnet Wobmann die Debatte, „steht einmal das Minarett, kommt danach der Muezzin mit dem Gebetsruf und am Schluss haben wir hier die Scharia, das islamische Recht mit Zwangsehen, Ehrenmord und Genitalverstümmelungen. Wir müssen den Prozess jetzt stoppen, solange noch Zeit ist, bevor Tausende in der Burka herumlaufen.“ Der gelernte Automechaniker, der heute als Verkaufsleiter arbeitet – in der Schweiz tagt das Parlament nur zwölf Wochen im Jahr -, spricht vielen der Anwesenden aus der Seele. „Die wollen sich doch gar nicht anpassen“, meint einer. „Weshalb sollen wir Moscheen zulassen, solange die in ihren Ländern Kirchen verbieten?“, fragt ein anderer in die Runde.
Da hat es der Politologe Gross nicht einfach. Er ist offenbar ein anderes Niveau gewohnt. Vergeblich versucht er, den Zuhörern den Unterschied zwischen Assimilation, die tendenziell immer die Aufgabe der eigenen Identität bedeutet, und Integration, die auch den Einheimischen etwas abfordert, zu erklären. Soll es für den bosnischen Muslim in der Schweiz keine Moschee geben, bloß weil ein Potentat am Golf keine Kirche zulässt? Dann würden doch Diktatoren im Ausland letztlich bestimmen, wie die demokratische Schweiz mit ihren Muslimen umgeht? Gross hat einen wunden Punkt getroffen. Von Ausländern lässt man sich hier nicht gern reinreden. Schweizer Politik wird in der Schweiz gemacht – nicht in Brüssel, schon gar nicht am Golf.
„Es gibt in der islamischen Welt viele Moscheen ohne Minarette“, wirft Wobmann in die Debatte, „und im Koran steht ja überhaupt nichts von Minaretten, die kommen dort gar nicht vor.“ Aber steht in der Bibel denn irgendetwas von Kirchtürmen? Weiß Wobmann, dass in Saudi Arabien just extrem fundamentalistische Muslime, vor denen er unablässig warnt, den Bau von Minaretten ablehnen, weil sie streng nach dem Koran leben wollen, der von Minaretten tatsächlich nichts wusste? Weiß er, dass in Lausanne, der zweitgrößten Stadt der französischen Schweiz, die erste katholische Kirche erst 1830 gebaut wurde – ohne Turm, weil der Bau eines solchen den calvinistischen Platzhirschen zu weit gegangen wäre?
In der Schweiz leben heute ungefähr 350 000 Muslime. Es gibt etwa 200 Moscheen, in der Regel sind es Gebetsräume in Privatgebäuden, Lagerhallen oder Garagen. Nur vier Moscheen haben Minarette: Die älteste von ihnen steht seit 1963 in Zürich, eine weitere wurde 1978 in Petit-Saconnex bei Genf eingeweiht. Ein drittes Minarett steht seit 2005 in der Industriestadt Winterthur, und seit Januar gibt es ein viertes Minarett im 5 000-Einwohner-Dorf Wangen: ein mit goldfarbenen Ornamenten und hellblauem Helm geschmücktes weißes Türmchen, das auf das Ziegeldach eines ehemaligen Gewerbegebäudes gepflanzt wurde.
Ob nun ein fünftes Minarett in Langenthal im Kanton Bern gebaut wird, steht in den Sternen. Die Islamische Gemeinschaft des Städtchens reichte bereits 2006 ein Baugesuch ein. Doch dann sammelten rechtsgerichtete Kreise 3 500 Unterschriften, um den Bau zu verhindern. Noch ist nichts entschieden. Mutalip Karaademi, Präsident der Islamischen Gemeinschaft Langenthal, ist empört: „Als vor drei Jahren die indischen Sikh hier im Ort einen Tempel bauten, gab es überhaupt keine Diskussion. Wenn wir Muslime aber .“ In der Tat: der unübersehbare blütenweiße Sikh-Tempel im Stadtzentrum scheint niemanden zu stören. Der Wunsch nach einem kleinen nur sechs Meter hohen Minarettchen in der Industriezone aber führt zu hitzigen Debatten.
Karaademi stammt aus Gostivar, einer vorwiegend von Albanern bewohnten Stadt im Westen Mazedoniens. Die Islamische Gemeinschaft, der er vorsteht, besteht vor allem aus Albanern aus Mazedonien und aus dem Kosovo. Fast zwei Drittel der in der Schweiz wohnhaften Muslime stammen vom Balkan, wo der Islam auf eine lange Tradition der Toleranz zurückblicken kann. Weitere 20 Prozent kommen aus der Türkei, einem säkularisierten Staat. Eine kleine Minderheit stammt aus dem Maghreb und dem Nahen Osten, und unter dieser kleinen Minderheit mag es auch eine kleine Minderheit von Fundamentalisten geben. „Sind wir Albaner der Schweiz aber verantwortlich für ein Selbstmordattentat in Gaza, Pakistan oder Afghanistan?“
Der Gebetsraum der Islamischen Gemeinschaft befindet sich im ersten Stock der ehemaligen Lagerhalle. Er ist in Grün gestrichen, der Farbe des Propheten, hat wie jede Moschee einen Minbar (Kanzel) und einen Mihrab (Gebetsnische), der den Gläubigen zeigt, in welcher Richtung die Kaaba von Mekka liegt. „Einen eigenen Imam haben wir nicht“, sagt Karaademi, „wir können uns keinen leisten. Nur fürs Freitagsgebet kommt einer von auswärts. Wir bezahlen ihm einen Stundenlohn.“
„Die wollen bleiben“
Der Vorwurf, das Minarett sei „die Speerspitze der Scharia“, wie die Rechtspopulisten behaupten, nötigt dem Albaner nur ein müdes Lächeln ab. „Meine Kinder kennen nicht einmal das Wort Scharia. Und weshalb soll meine Frau einen Schleier tragen?“ Das wirkliche Motiv der Initiative, die den Bau von Minaretten verbieten will, steht wohl auf ihrer Website. „Wer Minarette baut“, heißt es dort, „will hier bleiben.“
So ist es. Die allermeisten eingewanderten Muslime wollen tatsächlich bleiben. Dass die Schweiz die Einwanderer benötigt, um die Wirtschaft am Laufen zu halten und die Renten zu sichern, steht unter Experten außer Frage. Der große Schweizer Schriftsteller Max Frisch stellte einst fest: „Wir riefen Arbeitskräfte und es kamen Menschen“ – Menschen, mit einem andern kulturellen Hintergrund, Menschen, die zu ihrem Gott beten wollen oder auch nicht. „Ein Minarett ist nicht Ausdruck einer versuchten Landnahme, wie die Wortführer der Initiative unterstellen“, sagt Karadeemis, „sondern ein kulturelles, religiöses Symbol mit einer einfachen Botschaft: ,Wir sind bei euch angekommen.‘.“
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Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 28.11.2009