„Der Kopf ist voll – und doch leer“

Blumen und Kerzen säumen die breite Freitreppe, die in Erfurt zum Mariendom hinaufführt. Irgendwo zwischen den tausend Blüten und Lichtern steht auf einem Zettel nur ein Wort: „Warum?“ Im Blumenmeer, das sich vor dem Portal des Gutenberg-Gymnasiums der thüringischen Hauptstadt, täglich weiter ausdehnt, liegt ein Blatt mit der Frage: „Warum mussten diese Menschen sinnlos sterben?“ Und auf einem Abschiedsbrief unter den tausend Blumen, die sich vor dem Rathaus türmen, wo jeden Tag Menschen Schlange stehen, um sich in eines der vier Kondolenzbücher einzutragen, fragt eine Franziska: „Warum musstest Du sterben? Das hat doch niemand verdient. Mama, ich liebe Dich.“



Warum? Die Frage des Motivs war bereits am Freitagabend, wenige Stunden nach dem Drama, geklärt. Robert Steinhäuser, 19 Jahre alt, hatte zwölf Lehrer und eine Sekretärin erschossen, weil er vor einem Jahr durchs Abitur gefallen war und es nicht wiederholen konnte, nachdem er wegen Urkundenfälschung vor zwei Monaten aus der Schule geflogen war. Zwei Schüler starben, als der Täter durch eine verrammelte Tür schoss. Der erste Polizist, der auftauchte, war das letzte Opfer, bevor sich der Schütze selbst richtete. 17 Tote insgesamt. „Einmal möchte ich, dass mich alle kennen“, hatte Robert Steinhäuser vor Jahren gesagt. Er war ein Versager. Der Wert des Menschen bemesse sich nicht allein an seiner Leistung, hören die Schüler nun landauf landab. Vom philosophischen Standpunkt aus gewiss eine richtige Feststellung. Trotzdem zählt im Alltag der Schüler letztlich nur die Leistung. Robert Steinhäuser sah, dass sein Weg verbaut war. Ohne Abitur konnte er sich ein Informatikstudium abschminken. Robert fühlte sich zurückgewiesen, gedemütigt, ausgegrenzt. Psychologen sprechen von einer narzisstischen Kränkung, von geringer Frustrationstoleranz, von Aggressionsstau. Ein verbreitetes Muster, wie die Profiler wissen, jene Spezialisten der Polizei, die den Charakter von Tätern zu ergründen suchen. Aber deshalb schiesst man doch nicht Menschen wie Hasen ab. Warum wurde Robert Steinhäuser zum „schlimmsten Massenmörder in Deutschland seit 1945“, wie die Bild-Zeitung behauptet?

Warum? Robert Steinhäuser lebte in geordneten Verhältnissen: Mutter Krankenschwester, Vater leitender Angestellter bei Siemens. Als ihr Sohn am Freitag, dem Tag des Abiturs seiner früheren Mitschüler, mit einer schwarzen Tasche, in der er Maske, Pistole und Pumpgun versteckte, zur Schule ging, wünschten sie ihm viel Glück bei der Prüfung. Die Schulleitung hatte die Eltern vom Rausschmiss im Februar nicht benachrichtigt. Schliesslich war Robert volljährig. Er sei immer ein unauffälliger junger Mann gewesen, sagen Nachbarn und Freunde. Wahrscheinlich hat er darunter gelitten. Er wäre wohl gerne aufgefallen. Am Freitag schaffte er es.

Bei der Durchsuchung seines Zimmers stiess die Polizei auf CDs der Heavy-Metal-Gruppe „Snipknot“ und einen Song mit dem Text „Knall Deine ekelhaften Lehrer mit der Pumpgun ab“. Und sie fand jede Menge Computerspiele, in denen geballert wird und Blut fliesst. Besonders gern spielte Robert Steinhäuser „Counterstrike“. Hier lernt der Spieler, dass er möglichst viele Personen, die durch ein Labyrinth seelenloser Betongänge rennen, möglichst schnell abknallen muss, wenn er selbst überleben will. Der Spieler, der mit zwei digitalen Schusswaffen, einer Pistole und einer Pumpgun, ausgerüstet wird, erhält die Empfehlung, beim Zielen an Leute zu denken, die er nicht mag. „Counterstrike“ ist das meistgespielte Online-Spiel der Welt ist. Nach Angaben von Sierra Entertainment, der Herstellerin des Killerspiels, sind zu jeder Sekunde des Tages weltweit durchschnittlich 500.000 Spieler eingeloggt. Sicher sind auch einige von ihnen durch Abschlussprüfungen gefallen, ohne deshalb im richtigen Leben gleich zu Killern zu werden. Warum aber machte Robert Steinhäuser Ernst mit seinen Wunschträumen?

Warum? War er einfach der personifizierte Ausdruck oder gar das Opfer einer allgemeinen Verrohung unserer Gesellschaft? Die These, die deutsche Gesellschaft werde immer gewalttätiger, ist populär, doch empirisch lässt sie sich kaum belegen. Die Statistiken jedenfalls zeigen, dass die Mordrate seit Jahrzehnten relativ stabil ist, dass im Jahr 2000 etwa halb so viel Straftaten mit Schusswaffeneinsatz registriert wurden wie im Jahr 1972, dass die Gewaltkriminalität insgesamt seit Mitte der 90er Jahre stagniert. Allerdings häuften sich in den letzten Jahren tödliche Aggressionen in der Schule, wie sie früher kaum vorkamen. Gerade das Gutenberg-Gymnasium galt aber als vorbildliche Schule. Hier wurden Seminare über die Ursachen von Gewalt, über Gewaltverhinderung und rechtliche Handlungsmöglichkeiten gegen Gewalt angeboten. Gewalt sei an der Schule eigentlich nie ein grosses Problem gewesen, beteuern die Schüler einhellig.

Bundespräsident Johannes Rau hatte Recht. In seiner ersten Stellungnahme nach dem Verbrechen sagte er: „Wir haben keine Antwort.“ Und er fügte mahnend hinzu: „Wir wollen auch keine schnellen Antworten geben.“ Aber Innehalten und Nachdenken fällt vielen Politikern schwer. Kaum waren die Schüsse verhallt, da fand der Kanzlerkandidat der Union, Edmund Stoiber, dass grausame Computerspiele verboten gehören. Eine an sich vernünftige Forderung, wenn auch in ihrer praktischen Umsetzung dank der Globalisierung mit einigen Schwierigkeiten behaftet. Sie taucht im übrigen seit Jahren regelmässig auf, wenn ein Jugendlicher einen besonders grausamen Mord begeht. Und wird ebenso regelmässig ad acta gelegt. Und schon wird über eine weitere Verschärfung des Waffengesetzes gestritten, das der Bundestag just am Tag des Attentats verabschiedet hat. Auch vernünftig. Aber mehr als marginale Schönheitskorrekturen sind angesichts der Lobby von Waffenhändlern, Schützenvereinen und Jägern wohl nicht zu erwarten. Der Wahlkampf hat begonnen. Im September entscheidet sich, ob Schröder Kanzler bleibt oder Stoiber es wird.

Von Politik will man in Erfurt nichts hören. Man rückt zusammen. Über die Stadt hat sich ein Schleier der Trauer gelegt. An den Antennen der Polizeifahrzeuge flattert ein schwarzes Band zum Gedenken an Andreas Gorski, den erschossenen Polizisten, Vater von zwei Kindern. Es sind mehr Leute als gewöhnlich auf den Strassen und Plätzen. Doch überall herrscht eine fast heilige Stille. Viele Jugendliche halten eine Blume in der Hand. Am Obelisk auf dem Domplatz sitzen wie immer einige Punks, in zerschlissenen Hosen, Augenbrauen, Ohrläppchen und Lippen gepierct. Schweigend. Ohne die üblichen Bierdosen. Einer tröstet seine schluchzende Freundin. Zwei Mädchen liegen sich in den Armen. Unendlich traurig. Genau das richtige Bild für einen Fotoreporter, der aus einer andern Welt kommt und nicht begreifen will, dass er bitteschön, gehen soll. Sie sagen es ihm ohne jede Aggression.

„Wir mussten über die toten Körper springen, die uns gestern noch unterrichtet hatten.“ – „Er kam in den Raum. Unsere Lehrerin stand vor der Klasse. Schüsse fielen. Drei trafen den Körper, einer den Kopf. Sie verblutete vor unseren Augen.“ – „Ich hab gesehen, wie meine Klassenlehrerin direkt neben mir erschossen wurde. Sie sackte in sich zusammen. Ich sah nur noch Blut. Ich wollte ihr helfen, aber ich bin einfach nur weggerannt.“ Wie verarbeiten Kinder und Jugendliche solche Erlebnisse? Vier Stunden lang hatten sich 180 Schüler in der Aula verbarrikadiert. Vier Stunden entsetzliche Angst. Vier Stunden, während derer Mütter und Väter nicht wussten, ob sie ihre Kinder lebend wiedersehen würden. Inzwischen sind Dutzende von Psychologen und Traumaspezialisten vor Ort. Es gibt Notruftelefone und über Nacht eingerichtete Beratungszentren. Hunderte von Schülern brauchen Rat und Behandlung, aber auch viele der überlebenden Lehrer sind traumatisiert. Angehörige der Opfer, Sanitäter, und Polizisten suchen das heilende oder wenigstens beruhigende Gespräch.

„Der Kopf ist voll und doch leer an Gedanken. Unverständnis füllt ihn und die Frage nach dem Grund, warum ein Mensch so etwas tut und sich dann selber aus dem Leben stiehlt. ER sah vielleicht keinen Sinn mehr. Doch andere hatten Träume und Zukunftspläne und eine Familie. ER sieht nicht mehr die Trauer und das Leid in den Gesichtern aller, die jetzt noch hier sind. Keiner kann es begreifen.“ So schreibt eine Lydia in einem Brief, der „an alle“ gerichtetet ist und den sie auf die Blumen beim Rathaus gelegt hat, dessen Räume der Bürgermeister seit Montag den Gutenberg-Gymnasiasten zur Verfügung stellt. „Manchmal, wenn jemand etwas ganz Kleines sagt, fällt es gerade auf die leere Stelle in unserem Herzen“, heisst es hoffnungsvoll in einem andern Schreiben einer jungen Schülerin. Vielleicht hat sie an den emotional vereinsamten Täter gedacht. Vielleicht an sich selbst.

Noch am Abend des Dramas war die kleine evangelische Andreas-Kirche zum Bersten voll. Am Samstag, 24 Stunden nach den Schüssen, strömten 5.000 Menschen zur Gedenkfeier im Mariendom. Nicht dass die Menschen hier sonderlich religiös wären. Gerade ein Viertel von ihnen ist überhaupt getauft, drei Viertel sind – dank 40 Jahren kommunistischer Politik – konfessionslos. Aber die Kirchen sind nun mal der einzige Ort der Besinnung, wo die Menschen zusammenkommen können, um sich in ihrer Ratlosigkeit, die dem Entsetzen gefolgt ist, und in ihrer Trauer nicht alleine zu fühlen.

Am Montag war der Dom erneut voll. Tausende Schüler zogen am ersten Schultag nach der Tragödie das Gotteshaus der Schule vor. Danach versammelten sie sich auf dem Domplatz zur freien Aussprache. Die meisten standen zum erstenmal vor einem Mikrophon. Ein Mädchen dankt mit tränenerstickter Stimme seiner Mutter, eine Schülerin weint über den Tod ihrer Lehrerin. Die Schulleiterin umarmt einen jungen Mann, dessen Worte in Schluchzen untergehen. Aber auch Kritik wird laut: am Kultusminister, der meint die Schüler hätten ab Dienstag wieder in die Schule zu gehen, an der Gesellschaft, in der nur zähle, wer ein Abitur hat, und vor allem an den Medien, von denen sich viele belästigt fühlen: „Wer am besten heult, kriegt den besten Sendeplatz.“ Schon bald werden die 600 Reporter, die aus aller Welt gekommen sind, verschwinden und sich auf die nächste Katastrophe stürzen. Wer wird noch von Erfurt reden?

*Dies ist die unredigierte Fassung. Sie mag vom veröffentlichten Beitrag geringfügig abweichen.

Thomas Schmid, DIE WELTWOCHE, 02.05.2002, Nr. 18*