Der Tomorr ist einer der höchsten Gipfel Südalbaniens. Hier sind noch Falken heimisch und Wölfe. Es herrscht eine heilige Stille in dieser abgeschiedenen Gegend. Doch unten auf der Passhöhe des Kulmak lärmen Tausende, die aus dem ganzen Land zu Fuß, auf Maultieren, mit dem Lastwagen oder Jeep hierher gekommen sind. Männer mit geschulterten Lämmern stapfen den steinigen Weg hoch. Sie haben die Tiere bei einem der Schäfer gekauft, die sich an der Straße zum Pass niedergelassen haben. Hunderte von Lämmern werden Ende August hier oben geschlachtet. Vier Tage lang dauert das Fest, das die Bektaschi jedes Jahr auf dem Tomorr feiern.
Hadschi Bektasch war ein Derwisch, ein islamischer Mystiker, und lebte im 13. Jahrhundert in Zentralanatolien unweit von Ankara. Dass seine Anhänger heute vor allem in Albanien zu finden sind, hat mit den Aufständen der Janitscharen zu tun. 1826 zerschlug Sultan Mahmud der II. die Elite-Truppen des Osmanischen Reiches, die zu einer Herausforderung für das Imperium geworden waren. Die Bektaschi, die bei den Janitscharen stark verankert waren, sahen sich nun harten Verfolgungen ausgesetzt und flüchteten vorwiegend nach Albanien, damals ein Randgebiet des Reiches. Als Kemal Atatürk, der Gründer der modernen Türkei, dann 1925 sämtliche Derwisch-Orden verbot, verlegten die Bektaschi ihre Zentrale nach Tirana. In der Tekke, eine Art Kloster oder Gebetshaus, hat der Groß-Dede, das Oberhaupt aller Bektaschi, seinen Sitz.
Doch nun sitzt Haxhi Rexhat Bardi, der Groß-Dede, auf dem Teppich der kleinen Tekke auf dem Kulmak-Pass. Vor dem Gebetshaus warten Leute, die von ihm einen Rat erwarten. Schon der lange, graue Bart verleiht dem 65-jährigen Mann die Würde eines Weisen. In seiner Hirka, dem weißen knöchellangen Rock, über dem er einen grünen Überwurf trägt, und mit dem weißen Taxh, der hohen weißen Kopfbedeckung, die in ihrem unteren Teil mit einem grünen Turban zusammengehalten wird, wirkt er inmitten all dieser Bauern mit ihren grobleinigen Hemden und dicken Hosen wie ein Wesen aus einer andern Welt. Ein Heiliger ist er für die Bektaschi nicht, aber eine Art Märtyrer schon. Zehn Jahre lang, 1958 bis 1968, hat er unter der stalinistischen Diktatur von Enver Hoxha in Lagerhaft gesessen. Sein einziges Verbrechen: Er war damals schon Baba, wie die Angehörigen des oberen Klerus, die Vorsteher einer Bektaschi-Gemeinde sind, genannt werden. Und wie alle, die aus politischen oder weltanschaulichen Gründen im Gefängnis oder im Lager waren, wurde auch er nach seiner Freilassung für den Rest des Lebens zu Zwangsarbeit verpflichtet. Doch 1991 fiel das Regime zusammen, und so waren es denn nur 23 Jahre, die er vorwiegend im Straßenbau und in Steinbrüchen Schwerstarbeit geleistet hat.
Die Bektaschi sind eine der vier großen Glaubensgemeinschaften Albaniens. Man gehört ihr in der Regel einfach über die familiäre Bindung an. Es gibt heute keine verlässliche Statistik über die Stärke der Religionsgemeinschaften im ärmsten Land Europas, dessen Bürger nicht besonders religiös sind und es auch nicht waren, bevor Enver Hoxha 1967 die Kirchen, Moscheen und Tekke zerstörte oder in Gebäude zu profanen Zwecken umwandelte. Zu Beginn des Zweiten Weltkriegs waren vermutlich über fünfzehn Prozent der Albaner Bektaschi, d.h. etwa ein Viertel aller Muslime, die siebzig Prozent der Bevölkerung ausmachten. Etwa zwanzig Prozent waren orthodox und zehn Prozent katholisch. Wie alle mystischen Ausprägungen des Islam, ist auch für die Bektaschiyya die innere Gottessuche wichtiger als die Befolgung der Scharia, des islamischen Gesetzes. Bei den „Muhabet“, den Versammlungen in der Tekke, auf denen der Baba den Gläubigen die Doktrin der Gemeinschaft erklärt, sitzen Frauen und Männer durcheinander. Es wird diskutiert und auch Raki, albanischer Weinbrand, getrunken. Andererseits gibt es in der Bektaschiyya eine klare hierarchische Struktur. Der Weg vom einfachen Mitglied über den „Muhib“ (arabisch für „Freund“), den „Derwisch“ (persisch für „Armer“) zum „Baba“ (türkisch für „Vater“) und „Dede“ (türkisch für „Großvater“) ist mit Wartezeiten und religiösen Zeremonien gepflastert.
Wer rüstig ist, steigt vom Kulmak-Pass auf den Tomorr hoch. Für die Bektaschi ist die Türbe des Abaz Aliu das Ziel. Das Grabmal steht auf dem Gipfel des Tomorr. Einer nach dem andern ziehen sie den Taxh über den Kopf, küssen das Eingangstor und betreten dann die heilige Stätte, wo der blumenbedeckte Sarkophag des Stiefbruders von Imam Hussein, dem Begründer des Schiitentums, liegt. Hier werden Kerzen, Geldscheine und Wunschzettel niedergelegt. An der Außenwand verkündet ein Schild, dass Abaz Aliu von Kerbela hierher gereist ist. Kerbela liegt im heutigen Irak und ist eine der heiligen Stätten der Schiiten. Wie die Schiiten verehren auch die Bektaschi insbesondere Ali, den Schwiegersohn von Mohammed. Doch sind die Bektaschi-Frauen, anders als die Schiitinnen, nie verschleiert. Die Bektaschiyya, die die religiöse Toleranz predigt, vereinigt nicht nur Elemente des Schiitentums und des mystischen Volksislam, in sie sind auch christliche Elemente wie die Beichte und die Absolution eingegangen.
In der albanischen Geschichte haben die Bektaschi eine große Rolle gespielt. Abdyl Frasheri, der Führer der „Liga von Prizren“, die für die nationalen Rechte der Albaner im Osmanischen Reich kämpfte, war Bektaschi. Nachdem er auf der Berliner Konferenz 1878 von Bismarck vergeblich eine Autonomie Albaniens gefordert hatte, überzeugte er zahlreiche Baba, die bewaffneten Aufstände gegen die Zentralmacht in Istanbul zu unterstützen. Es war die große Zeit der albanischen Bektaschi. Als mit dem Verbot islamischer Orden und Bruderschaften in der Türkei auch das „Pir Evi“ (Mutter-Haus), die Tekke Hadschi Bektaschs mit dem Grab des verehrten Mystikers, geschlossen wurde, beschloss der dritte Weltkongress der Bektaschi, der etwa sieben Millionen Mitglieder vertrat, die Zentrale von Anatolien nach Albanien zu verlegen. Zum ersten Groß-Dede wurde Salih Nijazi, ein Albaner, der in der Türkei lebte, gewählt. 1930 traf er in der Tekke von Tirana, dem neu errichteten Weltzentrum des Bektaschitums ein. Im Zweiten Weltkrieg wurde er ermordet. Der zweite Groß-Dede, Ali Riza, war wegen seiner mangelnden Kenntnisse der Doktrin so umstritten, dass er schon bald das Amt aufgab. Sein Nachfolger, Kamber Ali Prishta, war nur etwas mehr als zwei Jahre im Amt. Die kommunistischen Partisanen, die im November 1944 in das von den Nazis geräumte Tirana einzogen, warfen ihn ins Gefängnis, wo er bald verstarb. Enver Hoxha hatte seinen Kampf gegen die Religionen begonnen. Im Februar 1945 setzte die kommunistische Regierung Xhaver Sadik als neuen Groß-Dede ein, doch er starb wenige Monate später.
Die Namen der drei Groß-Dede, die während des Krieges die höchsten Ämter der Bektaschi bekleideten, kennt kaum einer der Bektaschi, die auf den Tomorr gekommen sind. Doch auf die Geschichte von Abbas Hilmi, dem fünften Groß-Dede, ist hier jeder stolz. 1947 erhielt er Besuch von zwei Babas, die von ihm verlangten, er möge den Derwischen erlauben, sich zu rasieren, in der Öffentlichkeit Zivilkleidung zu tragen und zu heiraten. Sollte er den drei Forderungen nicht stattgeben, sei er ein Gegner Enver Hoxhas. Die historisch verbürgte Antwort des Groß-Dede waren zwei Schüsse, mit denen er die beiden Emissäre tötete. Anschließend richtete er sich selbst. Der Rest ist schnell erzählt. Ahmed Myftar, Groß-Dede Nummer Sechs, lud die Gläubigen ein, das Fest der „Ashure“, das die zehntägige Trauerperiode des „Matem“ abschließt, im Hass auf die angloamerikanischen Imperialisten und in Liebe zur Volksmacht zu begehen. Fehmi, Groß-Dede Nummer Sieben, hängte ein riesiges Stalin-Porträt ins Weltzentrum der Bektaschi. Es nützte nichts. 1967, als Enver Hoxha, der „rote Gott“, Albanien zum ersten atheistischen Staat der Welt erklärte, wurde die Tekke von Tirana in ein Altenheim umgewandelt. Die Feste auf dem Tomorr wurden verboten.
An der Straße die zum Kulmak-Pass hinaufführt, kommt man an einem verwilderten Hubschrauberlandeplatz vorbei. Ganz in der Nähe wurden zwei Tunnel in den Berg gebohrt. Der eine sollte dem Politbüro, der andere dem Generalstab der Armee im Fall einer Invasion fremder Truppen als Kommandozentrale dienen. Die Notunterkünfte wurden vergeblich gebaut, das Regime brach zusammen. Seither gehört der Tomorr im August wieder den Bektaschi. Doch die wenigen Derwische, die sich auf der Passhöhe eingefunden haben, sind alle im Rentenalter. Nachwuchs ist kaum in Sicht. Aber darüber machen sich nur wenige Bektaschi Sorgen. Hauptsache, man ist zusammengekommen und das Lamm hat geschmeckt.
Thomas Schmid | Berliner Zeitung – 14.08.1999