Mexiko-Stadt/San Cristóbal
Da taucht er auf, kämpft sich zum Podium durch. Hunderte Hände fliegen ihm entgegen. Frauen versuchen, einen Zipfel seines gelben Anoraks zu erhaschen. Andrés Manuel López Obrador, landesweit zum Hoffnungsträger der Armen avanciert, grüßt die Menge mit verlegenem Lächeln. Dann kommt er bald zur Sache. »Die da oben zahlen keine Steuern«, sagt er und hält den Zeigefinger hoch, in die Richtung, in der die Reichen sitzen, »wir werden mit den Privilegien aufräumen.« Er ist kein Eiferer, schreit nicht. Die Anklage trägt er im Ton eines Nachrichtensprechers vor.
Am Sonntag wählt Mexiko einen neuen Präsidenten, und Amlo ist der Held der Vorwahlzeit. Amlo ist die Abkürzung für Andrés Manuel López Obrador. Seine Partei der Demokratischen Revolution (PRD) hat sich die Sonne der Azteken als Symbol gewählt. Der Kandidat der linken Allianz, zu dem sich die PRD und zwei kleinere Parteien zusammengeschlossen haben, ist nach San Cristóbal gekommen. Tausende sind auf den Hauptplatz geströmt: Ladenbesitzer, Angestellte, Touristen, vor allem aber indianische Bauern aus den umliegenden Bergdörfern, Männer mit Sombrero, Frauen in den farbigen Gewändern der Tzotziles, Tzeltales und Tojolabales, einfache Leute, denen die Armut ins Gesicht geschrieben steht. Sie alle wollen Amlo hören.
López Obrador, aufgewachsen in bescheidenen Verhältnissen – seine Eltern waren Kleinhändler im südlichen Bundesstaat Tabasco –, hat gute Chancen, am 2. Juli zum Präsidenten gewählt zu werden. In den meisten Umfragen liegt der 52-jährige Linkspolitiker knapp vor dem acht Jahre jüngeren Felipe Calderón, der für die rechte Partei der Nationalen Aktion (PAN) von Nochpräsident Vicente Fox ins Rennen zieht und für Kontinuität bürgt. Roberto Madrazo, 44, Kandidat der Partei der Institutionalisierten Revolution (PRI), die 71 Jahre lang (1929–2000) ununterbrochen regiert hat, steht für die Vergangenheit und liegt deutlich abgeschlagen an dritter Stelle. Es gibt nur einen einzigen Wahlgang. Wer die meisten Stimmen erhält, wird Präsident.
Kippt – nach Venezuela, Chile, Brasilien, Argentinien, Uruguay, Bolivien und Peru – nun auch Mexiko, die stärkste Wirtschaftsnation Lateinamerikas, der 100-Millionen-Staat, der direkte Nachbar der USA, nach links? Und wohin – ins linkspopulistische Lager, das der Venezolaner Hugo Chávez, ein erklärter Freund Fidel Castros, anführt, oder ins sozialdemokratische des Brasilianers Lula? Die mexikanische Rechte wird nicht müde, vor einem zweiten Chávez zu warnen, vor einem autoritären Regime, vor Gesetzlosigkeit, vor einem wirtschaftlichen Absturz. Es ist der härteste Wahlkampf, den Mexiko je erlebt hat.
Bei aller Hitze der Debatte bewahrt Lorenzo Meyer einen kühlen Kopf und einen nüchternen Blick. Der Politologe an der Denkfabrik Colegio de México, der seinen Nachnamen preußischen Vorfahren verdankt, ist überzeugt, dass sich López Obrador an Lula orientieren wird. Dass er nach der Pfeife Chávez’ tanzt und die USA offen herausfor dert, hält er für ausgeschlossen. Das könne sich heute kein mexikanischer Präsident mehr leisten. Nahezu 90 Prozent der mexikanischen Exporte gehen in die USA. 24 Millionen Mexikaner oder Amerikaner mexikanischer Herkunft leben legal oder illegal in den Vereinigten Staaten. Im Verhältnis zu den USA werde sich, wer auch immer die Wahlen gewinnt, nichts Entscheidendes ändern, prophezeit Meyer, und die USA würden sich auch mit einer Regierung von Amlo arrangieren.
López Obrador kritisiert zwar den Neoliberalismus, doch das Freihandelsabkommen der drei nordamerikanischen Staaten (Nafta) von 1994 stellt er nicht grundsätzlich infrage. Allerdings hat er angekündigt, er wolle mit den USA und Kanada eine Vereinbarung aushandeln, um zu verhindern, dass ab Januar 2008 – wie im Abkommen vorgesehen – die Zollschranken für Mais und Bohnen fallen. Immerhin leben etwa drei Millionen mexikanische Familien vom Anbau der traditionellen Nahrungsmittel des Landes. »Die Amerikaner werden nicht nachgeben«, sagt Meyer voraus. Doch die Ängste der Mexikaner hält er für übertrieben. Denn ihren überflüssigen Mais würden die Amerikaner in nächster Zukunft ohnehin zu Treibstoff verarbeiten, um ihre Abhängigkeit von Benzinimporten zu verringern. Und immerhin hat Mexiko dank dem Freihandelsabkommen Brasilien wirtschaftlich überholt. Andererseits sind gerade auf dem Land viele Arbeitsplätze vernichtet worden, was den Auswanderungsdruck enorm erhöht hat. Fox habe zehn Millionen neue Arbeitsplätze geschaffen, frotzelt man in Mexiko, leider alle im Ausland. In diesem Jahr werden die Überweisungen der Emigranten an ihre Familienangehörigen zu Hause die Rekordhöhe von 24 Milliarden Dollar erreichen. Just so viel nimmt Mexiko über den Verkauf seines Erdöls ein.
Antiamerikanische Töne gibt López Obrador bislang nicht von sich. Außenpolitik ist ohnehin Neuland für ihn. Nur urlaubshalber war er zwei- oder dreimal in den USA und auf Kuba. »Ich bin ein bekennender Provinzler«, sagte er vor zwei Jahren. Damals regierte Amlo den Moloch Mexiko-Stadt. Und als Bürgermeister der Hauptstadt war er durchaus erfolgreich. In seiner fünfjährigen Amtszeit entstand eine zweistöckige Autobahn. Es ist ein futuristisch anmutendes Bauwerk, das sich elegant durch den Großstadtdschungel schlängelt. Auf der »Insurgentes, die mit über 30 Kilometer Länge als größte innerstädtische Straße der Welt gilt, fährt auf einer separaten Spur im Minutentakt der neue Metrobus. In einer Stadt, in der die Rush-Hour morgens wie abends drei bis vier Stunden dauert, weiß man solche Neuerungen durchaus zu schätzen.
Auch sozialpolitisch hat López Obrador in Mexiko-Stadt Pflöcke eingeschlagen. Wer über 70 Jahre alt ist, hat Anrecht auf kostenlose medizinische Untersuchungen und vor allem auf eine Grundrente von monatlich 650 Pesos, umgerechnet knapp 50 Euro – für viele der über 700000 Bezugsberechtigten die einzige Einkunftsquelle überhaupt. Es gibt Sonderhilfen für ledige Mütter und Invalide, Schulfrühstück für Kinder aus armen Familien. All dies, verspricht Amlo, werde er als Präsident landesweit einführen. Kein Wunder, dass López Obrador sehr populär ist.
Antiamerikanische Parolen sind von Obrador nicht zu hören
Zahlreiche Wissenschaftler, bekannte Schriftsteller wie Carlos Monsiváis und Elena Poniatowska und viele Künstler unterstützen seine Kandidatur. Doch rühren sich im Intellektuellenmilieu auch warnende Stimmen. Allen voran der Historiker Enrique Krauze, Herausgeber der liberalen Kulturzeitschrift Letras Libres (»Freie Worte«). In einem gerade erschienenen Essay erinnert er daran, wie Amlo in den neunziger Jahren aus Protest gegen einen Wahlbetrug in seinem »Exodus für die Demokratie« mit Tausenden Bauern nach Mexiko-Stadt zog und dort vor der Kathedrale campierte und wie er mit Arbeitern des staatlichen Erdölkonzerns Pemex über 50 Bohrlöcher besetzte. Krauze kritisiert das nicht. Doch habe López Obrador, der von den Armen verehrt wird und sich selbst einmal als »Hoffnungsstrahl« bezeichnet hat, Politik immer als quasireligiöse Mission begriffen und sich selbst als Erlöser. Für seine Anhänger sei er ein Messias. Ein zweiter Chávez sei er gewiss nicht, konzediert auch Krauze, aber eben auch kein Lula. Er vertrete den Typus des autoritären Linken. Wenn er die Wahlen nur knapp verliere, so fürchtet der liberalkonservative Vordenker, werde Amlo das Resultat nicht anerkennen, seine Anhänger mobilisieren und womöglich eine Parallelregierung ausrufen. Wenn er die Wahlen gewinne, »könnte er der Versuchung erliegen, als Revolutionär und Autokrat die demokratischen Institutionen auf einen Schlag oder nach und nach aufzulösen«. Gewagte Sätze. Ist López Obrador der linke Populist, als den ihn seine Gegner pausenlos verteufeln?
Es ist der härteste Wahlkampf, den Mexiko je erlebt hat
Auf dem Zócalo, dem riesigen Hauptplatz von Mexiko-Stadt, stehen über zwei Dutzend Zelte. Es ist ein Jahrmarkt des Protests: Streikende Lehrer aus Oaxaca verlangen höhere Löhne. Bauern aus Querétaro fordern die Freilassung ihrer verhafteten Führer. Arbeiter aus Michoacán machen sich für den korrupten Führer ihrer Gewerkschaft stark, der vom Staat abgesetzt wurde und nun flüchtig ist. Mitten auf dem Platz hält der legendäre Indioführer Subcomandante Marcos eine Rede – mit obligatorischer Wollmaske, Pfeife, Funkgerät und Feldflasche. Er verurteilt alle Parteien gleichermaßen. Nur wenige hundert Menschen hören ihm zu. Einige Touristen zücken ihre Digitalkameras. Man trifft ja nicht in jedem Urlaub auf einen Guerillaführer. Mitten in diesem Chaos steht ein großes gelbes Zelt mit der Sonne der Azteken. Davor wird ein Film gezeigt: Wer ist Herr López?
Das Video beginnt mit einer Diskussion zwischen Wissenschaftlern und Publizisten über Populismus. Es folgt eine Statistik des Finanzministeriums, wonach die öffentliche Verschuldung der Hauptstadt trotz der Sozialprogramme, die López Obrador den Vorwurf des Populismus eingetragen haben, gesunken ist. Und dann erscheint der heutige Präsident Fox auf der Leinwand, wie er im Wahlkampf 2000 den Mexikanern mit todernstem Gesicht die große Wende, weniger Armut und mehr Arbeitsplätze, verspricht. Die Zuschauer lachen. Nichts ist draus geworden. Ganz anders Amlo. Sein stärkster Trumpf ist seine Glaubwürdigkeit. Als Bürgermeister hat er viele Probleme nicht gelöst: Die Kriminalität in der Hauptstadt ist hoch, und in den ärmeren Vierteln haben noch ganze Straßenzüge kein fließendes Wasser. Aber was er zu den Bürgermeisterwahlen damals versprochen hatte, das hat er in der Regel dann auch gemacht. Das geben selbst viele seiner Gegner zu.
Im Falle seines Wahlsiegs, so hat López Obrador angekündigt, werde er sein Gehalt als Präsident halbieren und die Regierungsgeschäfte nicht mehr wie seine Vorgänger in der luxuriösen Residenz Los Pinos, die in einem Nobelviertel am Stadtrand liegt, erledigen, sondern im alten Nationalpalast am Zócalo. Und da will er auch wohnen. Man kann das Populismus nennen. Aber in einem Land, wo Einkommens- und Wohlstandsgefälle so krass sind wie in Mexiko, können solche symbolischen Gesten auch Brücken schlagen. Zumindest hätte ein Präsident Amlo dann von seinem Amtszimmer aus einen direkten Blick auf den größten Platz Lateinamerikas, wo Maler, Spengler, Tischler und allerlei andere Tagelöhner ihre Arbeit anbieten und wo die Unzufriedenen weiterhin ihre Zelte aufschlagen werden.
Thomas Schmid – DIE ZEIT, 29.06.2006