Der Messias von Caracas

Ein einfacher Holztisch, dahinter ein Stuhl und darauf ein bulliger Mann in rotem Hemd. Die Hände hat er wie zum Gebet gefaltet, die Augen geschlossen. Ein letzter Akt der Konzentration. Die Kameras sind aufgebaut, es kann losgehen. Venezuelas Präsident Hugo Chávez moderiert seine sonntägliche Fernsehsendung. Es ist die 199. Folge von Aló presidente – „Hallo, Präsident“. Es ist seine vorletzte Show, behauptet die Opposition optimistisch.

Am kommenden Sonntag entscheiden die 14 Millionen stimmberechtigten Venezolaner, ob Chávez zweieinhalb Jahre vor Ende seiner regulären Amtszeit zurücktreten muss. Der Ausgang des Referendums ist offen.

Der Präsident fabuliert über Bolívar, den kleinen Nico und die USA

Chávez genießt seine Sendung, er liebt den direkten Draht zu seinem Volk. Ohne Punkt und Komma plaudert er von Simón Bolívar,, dem „Befreier Lateinamerikas“, von seinem Treffen mit dem argentinischen Präsidenten Néstor Kirchner, vom kleinen Nico, dessen Vater gestorben ist und der danach klaute, um zu überleben, von der revolutionären Seele des Volkes und von seiner eigenen Jugend. Er zeigt Fotos aus seiner Kindheit und den Baseball-Schläger, den ihm Sami Sosa, einer der bekanntesten Spieler der USA, geschenkt hat. Dann schließt er die Augen, konzentriert sich und rezitiert einige Strophen aus der populären venezolanischen Ballade Florentino und der Teufel, bei der es um den ewigen Kampf zwischen Gut und Böse geht. Schließlich zieht er ein silbernes Kruzifix aus der Brusttasche, hält dem Fernsehpublikum beschwörend den Gekreuzigten entgegen und schimpft auf die Opposition und die USA. Zwischendurch werden Zuhörer zugeschaltet. Chávez notiert sich die Anliegen und verspricht Abhilfe: „Ich werde der Sache nachgehen, ich verspreche es dir, wir werden eine Lösung finden.“ Der Präsident duzt alle.

Chávez ist ein begnadeter Schauspieler und ein gnadenloser Populist. Er redet wie das gemeine Volk – ungehobelt, oft vulgär. Viele Bewohner der ärmeren Viertel vergöttern ihn. Er ist ihr Messias. Jeden Sonntag spricht er zu ihnen. In den wohlhabenderen Vierteln dagegen schlägt dem Präsidenten Hass entgegen. Man nennt ihn el loco, den Verrückten, der mit seiner bolivarianischen Revolution das Land in den Ruin treibe. Die venezolanische Gesellschaft ist zutiefst gespalten, zerrissen. An Chávez scheiden sich die Geister.

Wer ist dieser Mann, für oder gegen den in Caracas in diesen Tagen Hunderttausende auf die Straße gehen, der sich seiner Freundschaft mit Fidel Castro rühmt, der 1999 den weltweit geächteten Saddam Hussein besuchte und der von einer Revolution redet, als ob in Berlin keine Mauer gefallen wäre?

In der venezolanischen Opposition hat man Chávez lange Zeit nur belächelt. Ein ungebildeter Flegel, allenfalls ein traditioneller Caudillo, so dachte man. Man hat ihn unterschätzt.

Hugo Chávez, 1954 als zweites von sechs Geschwistern geboren, wuchs in relativ bescheidenen Verhältnissen in Sabaneta auf, einem kleinen Ort im Westen des Landes. Sein Vater war Lehrer, die Mutter Hausfrau. 1970 trat er in die Militärakademie ein, für Leute aus seinem Milieu oft der einzige Weg zu sozialem Aufstieg. Zu jener Zeit herrschten in Peru General Juan Velasco Alvarado und in Panama Oberst Omar Torrijos. Beide Präsidenten waren linke Nationalisten und verstanden sich als Sozialreformer. Ihr Einfluss prägte den jungen Kadetten Chávez, der 1974 Peru besuchte und mit einem Sohn Torrijos‘ zusammen studierte. 1975 verließ Chávez die Akademie als Unterleutnant der Artillerie und schlug eine militärische Karriere ein. Schon bald konspirierte er in militärischen Zirkeln und gründete 1982 – kurz vor dem 200. Geburtstag Bolívars – die Revolutionäre Bolivarianische Bewegung 200, die Kontakt zu linken Gruppierungen im zivilen Lager suchte.

Als gescheiterter Putschist überzeugte Chávez die Wähler

Im Februar 1992 führte Chávez als Kommandant eines Fallschirmjägerbataillons einen Putsch an, bei dem es 19 Tote gab. Militärisch scheiterte der Staatsstreich, politisch wurde er ein Erfolg. Angesichts der grassierenden Korruption fand er bei der Bevölkerung breite Zustimmung. In Kampfuniform präsentierte sich damals Chávez der Fernsehnation und übernahm die Verantwortung für das gescheiterte Unternehmen. Viele Venezolaner rechneten ihm diese Haltung hoch an. Da stand einer öffentlich für seine Handlungen ein, statt anderen die Schuld zuzuschieben. Das war man nicht gewohnt.

Sechs Jahre später wurde der gescheiterte Putschist mit 58 Prozent der Stimmen zum Präsidenten des Landes gewählt. Schon der Amtseid geriet ihm zur Machtdemonstration: „Ich schwöre auf diese moribunde Verfassung.“ Kaum im Amt, ließ Chavez unter Verletzung der geltenden Gesetze eine verfassungsgebende Versammlung wählen, die binnen dreier Monate eine neue „bolivarianische“ Verfassung ausarbeitete. Diese wurde im Dezember des Jahres von 71 Prozent der Venezolaner gebilligt. Die Machtbefugnisse der Exekutive wurden auf Kosten der Legislative ausgeweitet. Und dem Präsidenten obliegt es nun, über Beförderungen in der Armee zu entscheiden.

Im Jahr 2000 wurde Chávez erneut – diesmal mit 59 Prozent der Stimmen – zum Präsidenten gewählt. Doch nun verängstigten sein zunehmend radikalerer Diskurs, seine Hetze gegen die alte politische Klasse, sein revolutionärer Habitus und seine Appelle an die Armen die Mittelschichten und schreckten die Oligarchie auf. Die Opposition mobilisierte ihre Anhänger, auch unter den Militärs. Im April 2002 scheiterte ein Putsch gegen den Präsidenten. Danach versuchte die Opposition, ihn mittels eines zwei Monate dauernden Generalstreiks aus dem Amt zu zwingen. Vergeblich. Nun setzt sie zum dritten Anlauf an. Die Möglichkeit der plebiszitären Abberufung des Präsidenten nach Ablauf der Hälfte seiner Amtszeit hat die bolivarianische Verfassung überhaupt erst eingeführt.

Die Opposition hat gute Argumente und doch einen schweren Stand. Chávez pariert ihre Angriffe geschickt. Seine Gegner werfen ihm diktatorische Anwandlungen vor. Aber haben sie den Putsch vor zwei Jahren nicht offen begrüßt? Haben sie nicht applaudiert, als der Chef des Unternehmerverbandes, der 47 Stunden lang Präsident war, als erste Amtshandlung das gewählte Parlament und den obersten Gerichtshof auflöste? Die Wirtschaftsdaten sehen miserabel aus. Aber ist daran nicht die Opposition schuld, deren Streik zum Bankrott Tausender Betriebe geführt hat? Chávez unterwirft auf gesetzwidrigem Weg die gesamte Judikative der Exekutive. Gewiss. Doch waren die Richter in diesem Land nicht schon immer käuflich? Das Misstrauen ist riesig, das Klima vergiftet. Und die Medien, fast ausnahmslos im Lager der Opposition, haben mit ihrer eifernden Berichterstattung zur Polarisierung nicht weniger beigetragen als Chávez selbst.

Es herrscht eine explosive Stimmung in Caracas. Im Chávez-Lager gibt es bewaffnete Stoßtrupps und unter seinen Gegnern bewaffnete Provokateure. Da kann die Lage schnell außer Kontrolle geraten.

Es geht, das hämmert der Präsident seinen Anhängern und Gegnern täglich ein, um nicht weniger als eine Revolution. Chávez gibt seinen Anhängern das Gefühl, an einer großen nationalen Aufgabe mitzuwirken. Mit atemberaubendem Tempo hat er in den vergangenen Wochen bolivarianische Schulen eingeweiht und Versorgungszentren für die Bedürftigsten eröffnet. In den Armenvierteln, wo vor Jahren schon die Gesundheitsversorgung zusammengebrochen ist, klopfen nun kubanische Ärzte Herzen und Lungen ab, reparieren Zähne und passen Augengläser an. Alles gratis. Die Armen wissen es zu schätzen. Ob das eine nachhaltige Entwicklung einleitet, ist fraglich. Aber die ¯Missionen®, wie Chávez seine sozialen Projekte nennt, schaffen Hoffnung und Arbeitsplätze und bringen Geld in die ärmeren Viertel. Manchmal nennt der Präsident seine Sozialpolitik auch „Mission Christus“.

„Christus ist mein Kommandant“, pflegt Chávez zu sagen, der die militärische Terminologie liebt, „ihm gehorche ich.“ Wichtiger als der Gekreuzigte ist ihm aber Simón Bolívar,. Der in Caracas geborene „Libertador“, Befreier Lateinamerikas, ist nicht nur der Nationalheld, dem bisher noch alle Präsidenten Venezuelas huldigten. Er ist auch tief in der synkretistischen Volksreligion verwurzelt. Eine Gipsfigur von Bolívar,, meistens auf dem weißen Pferd reitend, steht in vielen Hausaltären. Chávez weiß das. Es ist die Welt, in der er aufgewachsen ist. Er bezieht diesen Kult geschickt in seine Propaganda ein.

„Die bolivarianische Revolution ist friedlich, aber bewaffnet“, verkündet der Präsident bei jeder Gelegenheit. Und es ist wahr: Anders als in Kuba kommt die Macht der venezolanischen Revolutionäre aus der Wahlurne. Und anders als Chiles Revolutionäre in den siebziger Jahren schwört Chávez das Militär auf sein politisches Projekt ein. Die Opposition kritisiert die Politisierung der Streitkräfte. Die Armee, betont Chávez, werde die bolivarianische Revolution im Notfall verteidigen.

Aber handelt es sich überhaupt um eine Revolution? Venezuela bedient seine Auslandsschulden ohne Verzug. Chávez hat das Privateigentum nicht angetastet. Verstaatlichungen gab es keine. Die USA, die ungefähr die Hälfte der venezolanischen Ölexporte kaufen, werden pünktlich bedient, ihre Wirtschaftsinteressen sind nicht tangiert. Der Bush-Administration ist Chávez trotzdem ein Ärgernis. Er ist mit dem ewigen Widersacher auf Kuba befreundet. Er mausert sich zu einer Idolfigur der globalisierungskritischen Linken Lateinamerikas. Er schmiedet an einer lateinamerikanischen Allianz gegen die von den USA angepeilte Amerikanische Freihandelszone (FTAA) und setzt ihr die ALBA, die Bolivarianische Allianz Amerikas, entgegen, den Traum Bolívars von einem vereinigten Lateinamerika.

„Unsere Revolution macht da weiter, wo Bolívar, aufgehört hat“, verkündete Hugo Chávez in seiner 199. Folge von Aló presidente . Der Präsident ist überzeugt von seiner historischen Mission. Und er möchte in die Fußstapfen des gealterten Fidel Castro treten. Er ist auf dem besten Weg: Fünf Stunden lang hat er geredet. Und sich dabei noch zurückgehalten – manchmal werden es sieben.

Thomas Schmid, DIE ZEIT, 12.08.2004, Nr. 34