Sie wollen Land, nicht Krieg

Im Südwesten Brasiliens, etwas mehr als hundert Kilometer vom Urwald entfernt, liegt eine Stadt mit dem seltsamen Namen Presidente Prudente (Kluger Präsident). Vom Wohlstand ihrer 200 000 Einwohner künden ein paar Dutzend Hochhäuser, Parkanlagen, Banken, Supermärkte, saubere Straßen und adrette Häuser mit blank geputzten Autos in der Einfahrt. Keine Armut. Keine Bettler. Und rund um die Stadt fruchtbares Weideland, so weit das Auge reicht. Doch es kann der bravste Mann nicht in Frieden leben, wenn es den Kommunisten nicht gefällt.



„Erst besetzen die Kommunisten das Land“, flucht Luiz António Naban Garcia, Präsident des Großgrundbesitzerverbandes UDR und selbst Einwohner von Presidente Prudente, „und dann machen sie die Revolution.“ Sein Schnäuzer zittert vor Zorn. Keinen Respekt vor Eigentum und Arbeit anderer Leute habe dieses Pack. Der Groll des Großgrundbesitzers gilt der Bewegung der Landlosen (MST), die allein im April in Brasilien über hundert Landgüter besetzt hat.

„Diese Mordbuben dringen in unsere Ländereien ein, sie zerstören Traktoren und rauben das Vieh“, wettert Naban Garcia und legt ein Foto auf den Tisch, das jüngst die Titelseite des renommierten Folha de SÆo Paulo zierte. Es zeigt einen Grundbesitzer vor seinem Haus, um das er eine hohe Mauer aus Sandsäcken errichtet hat. Jüngst war dort eine bewaffnete Bande aufgetaucht und hatte auf das Haus gefeuert. Naban Garcia hat inzwischen die Mitglieder seines Verbandes aufgerufen, sich von privaten Sicherheitsdiensten verteidigen zu lassen. Er selbst verzichtet darauf. „Ich verteidige mich selbst“, sagt er stolz, „und die Banditen wissen ganz genau, dass ich schießen werde.“

Edir Ronan, Präsident der Landlosenbewegung in der Region Presidente Prudente, bestreitet, dass seine Organsiation mit diesem Überfall zu tun hat.

„Tatsache hingegen ist“, sagt er, „dass der Sohn des Großgrundbesitzers im Gefängnis ist, weil er auf unsere Leute geschossen hat.“ Tatsache ist auch, dass am 20. April die Polizei in der Region MST-Aktivisten überraschte, die gerade mit Äxten und Macheten zwei gestohlene Ochsen zerteilten. Immerhin 250 Kilo Fleisch. 13 Männer wurden festgenommen, fünf weitere entkamen mit einem Teil der Beute. „So was kommt eben vor“, sagt Ronan achselzuckend, „aber die sind nun alle aus der Organisation ausgeschlossen.“ Mit etwa 200 Landlosen hat er sich auf dem Rasen vor dem Staatlichen Institut für Landangelegenheiten in Presidente Prudente niedergelassen. Die Familien campieren unter schwarzen Plastikplanen. Die Männer spielen Karten. Die Frauen kochen am offenen Feuer in großen Kesseln ein Eintopfgericht. „NÆo queremos guerra, queremos terra“, steht in großen Lettern am Eingang des kleinen Lagers, „wir wollen keinen Krieg, wir wollen Land.“

Der Präsident putzte Schuhe

Der Pontal de Paranapanema ist eine der konflikträchtigsten Landregionen Brasiliens. Als vor 90 Jahren die Eisenbahnlinie gebaut wurde, strömten Zehntausende hierher. Ein Mann namens Prudente wurde Präsident einer der zahlreichen Siedlungen, die damals entstanden. Man rodete Wald und besetzte Land – ohne jeden Eigentumstitel. „Etwa die Hälfte der Ländereien“, schätzt Nilo Shirozono, Abkömmling japanischer Immigranten und in Presidente Prudente für Katasterfragen zuständig, „ist terra grilada (gegrilltes Land).“

Jahrzehnte nach der Landnahme verschafften sich die Fazendeiros in der Regel rückdatierte Dokumente, um ihren Besitz abzusichern. Oft wurden lebende Grillen mit den Papieren in Schubladen gesperrt. Die verwesenden Grillen sonderten eine ätzende Essenz ab, die gelbe Flecken erzeugte und die Dokumente scheinbar altern ließ. Solche Fälschungen waren ebenso üblich wie die Bestechung von Notaren und Richtern. Und deshalb sind nun sehr viele Eigentumstitel umstritten. Was ist legal erworbenes Land, und was ist terra grilada? Letztere wäre öffentlicher Besitz und könnte an Landlose verteilt werden. Doch die Prozesse schleppen sich oft jahrelang hin, und die MST wartet nicht ab, sondern macht Druck.

Seit 20 Jahren schon gibt es die Bewegung der Landlosen, doch so viele „Invasionen“ wie zurzeit kamen noch nie vor – und das just jetzt, da Luiz Inácio „Lula“ da Silva Präsident Brasiliens ist. Lula kennt die MST. Sie war immer eng mit seiner Arbeiterpartei verbunden, die einen mühsamen Weg von der extremen Linken zur Sozialdemokratie hinter sich hat. Und Lula kennt das Schicksal der Landlosen. Er selbst ist in bitterster Armut aufgewachsen, lernte erst mit elf Jahren lesen und schreiben, machte keinen Schulabschluss, verkaufte als Kind Orangen, putzte die Schuhen fremder Leute und trug Wäsche aus, bevor er mit 15 Jahren Maschinenschlosser und später Gewerkschaftsführer wurde.

In seiner Wahlkampagne behauptete er, als Präsident werde er endlich die überfällige Agrarreform anpacken und Landbesetzungen überflüssig machen. 61 Prozent der Brasilianer haben ihn gewählt – ein Traumergebnis. „Nichts ist passiert“, klagt Geraldo Fontes, Sprecher der MST in SÆo Paulo. 400 000 Familien hatte Lula Land versprochen, 12 000 wurden bisher bedacht, nach Angaben der MST alles Altfälle aus früheren Jahren. Man werde Lula die „Hölle heiß machen“, drohte die Landbewegung im März. Er lasse sich nicht erpressen, entgegnete der Präsident. Bebautes Land zu enteignen, verbiete die Verfassung.

Alles brauche seine Zeit, sagt der Präsident, und damit hat er recht. Sein Vorgänger, Fernando Henrique Cardoso, hat in seiner achtjährigen Amtszeit 400 000 Familien Land zugewiesen. Aber vielerorts fehlt es an Krediten fürs Saatgut, an technischer Ausrüstung und an Hilfe bei der Vermarktung der Produkte. Rund ein Viertel, nach einer anderen Schätzung sogar 40 Prozent des verteilten Landes wurden inzwischen angeblich wieder verkauft – was verboten wäre – oder auf andere Weise illegal zu Geld gemacht. In 6000 Fällen hat der Staat den Familien das zugewiesene Land aus solchen Gründen wieder abgenommen.

73 Tote in einem Jahr

Die Agrarreform, an sich schon ein komplexes Unterfangen, stößt zudem auf den hartnäckigen Widerstand von Großgrundbesitzern. Vor allem aber ist sie ganz offensichtlich keines der dringlichsten Anliegen Lulas, obwohl es in seinem ersten Amtsjahr bei Landkonflikten immerhin 73 Tote gab, so viele wie schon lange nicht mehr. Und vermutlich würde niemand über eine Agrarreform diskutieren, wenn nicht die landesweit gut organisierte und militante Bewegung der Landlosen mit spektakulären Besetzungen immer wieder auf sich aufmerksam machen würde. Nach eigenen Angaben hat die MST 200 000 landlose Familien organisiert, die acampados sind, also unter Plastikplanen auf fremdem Land leben und auf die Zuweisung einer eigenen Scholle warten.

Die Bewegung der Landlosen mag Lula lästig sein, zumal sie in der katholischen Kirche Unterstützung findet und sich sogar Lulas persönlicher Berater, der Dominikanermönch Frei Betto, hinter die MST gestellt hat. Doch den Präsidenten plagen schwerere Sorgen. In seinem ersten Amtsjahr ist das Bruttoinlandsprodukt um 0,2 Prozent geschrumpft, das schlechteste Ergebnis seit 1992. Zehn Millionen neue Arbeitsplätze hatte Lula im Wahlkampf versprochen – daraus dürfte vorerst nichts werden. Das Projekt Null Hunger, mit dem Lula international viel Anerkennung fand, ist über die Verteilung von bescheidenen Lebensmittelrationen an relativ wenige bedürftige Familien nicht hinausgekommen. Und auch das umgerechnet 54 Millionen Euro teure Jobprogramm für jugendliche Berufsanfänger ist bislang ein Fehlschlag. Wie sehr er an Popularität eingebüßt hat, musste Lula jüngst in der Industriestadt SÆo Bernardo feststellen. Ausgerechnet hier, wo er unter der Militärdiktatur eine große Streikbewegung angeführt hatte, pfiffen ihn die Metallarbeiter aus – sie verlangen Einkommenssteuererleichterungen. Vergeblich gab der Präsident zu bedenken, in Brasilien sei privilegiert, wer überhaupt Einkommen zu versteuern habe. Die Funktionäre der Gewerkschaft, die er einst selbst geleitet hatte, warfen ihm nun Verrat vor. Doch es sollte noch schlimmer kommen. Am 29. April gab Lula bekannt, dass der Mindestlohn von 240 Reais, von dem 6,6 Millionen Brasilianer leben, auf 260 Reais (umgerechnet 74 Euro) angehoben werde. Das wäre inflationsbereinigt die geringste Erhöhung seit 1999 – dabei hatte Lula den Mindestlohn im Lauf der Legislaturperiode verdoppeln wollen. Der Unternehmerverband lobte den Präsidenten für das Augenmaß. Die Gewerkschaften protestierten, und am 1. Mai versammelten sich in SÆo Paulo über zwei Millionen Demonstranten gegen die Sozialpolitik der Regierung.

Bislang haben weder der Präsident noch seine Partei entscheidend an Rückhalt eingebüßt, das zeigen etliche Meinungsumfragen. Doch der Enthusiasmus ist dahin. Zwar lobte Weltbank-Chef James Wolfensohn Lula jüngst für den „vermutlich weltweit wichtigsten Versuch, soziale Gerechtigkeit in einem großen Land zu verwirklichen“. Doch es bleibt dabei: In keinem Land Lateinamerikas sind das Gesamteinkommen der Bevölkerung sowie der Besitz an Grund und Boden schließlich so ungleich verteilt wie in Brasilien. So hängt Lulas politisches Schicksal weniger davon ab, ob er einigen 100 000 Familien ein Stück Land verschafft, als vielmehr vom Erfolg seiner Versuche, in den Ballungszentren einige Millionen Arbeitsplätze zu schaffen und die ausufernde Gewaltkriminalität einzudämmen.

In Narandiba, einem Dörfchen 30 Kilometer außerhalb von Presidente Prudente, geht es um bescheidenere Dimensionen. Rund 50 landlose Familien haben hier ein Stück Land besetzt. Schon seit einer Woche wohnen sie nun unter schwarzen Plastikplanen. Die rote Fahne der Bewegung weht gleich dutzendfach. Fernando Meles, der die Fazenda seines Vaters führt, schaut ab und zu mit dem Feldstecher von seinem Haus aus zur kleinen Zeltstadt hinüber. Nein, Probleme mit den Besetzern habe er keine, sagt er, einige von ihnen kenne er sogar persönlich. Na ja, eine Kuh hätten sie ihm gestohlen, das fällt bei seinen 3500 Stück Vieh kaum ins Gewicht. Aber natürlich hat er die Justiz eingeschaltet. Innerhalb einer Woche wird sie den Besetzern eine Frist von einigen Tagen einräumen, um das Lager aufzulösen. Die 50 Familien werden weiterziehen, zum nächsten Gutshof.

Thomas Schmid, DIE ZEIT vom 13.05.2004, Nr. 17