Männer eilen durch die Gänge, erteilen Anweisungen, bellen Befehle. Pausenlos piepsen Funktelefone. Es herrscht Aufregung am Sitz der Nationalen Befreiungsfront (FLN). Ein Gericht hat die Konten der Partei sperren lassen. Die Löhne der Funktionäre können nicht ausgezahlt werden. Jetzt wird mobilisiert: Vor dem Parlamentsgebäude soll eine Großkundgebung stattfinden.

Doch Ali Benflis, der Generalsekretär der FLN, die vor über 40 Jahren Algerien in die Unabhängigkeit geführt hat, die danach fast drei Jahrzehnte lang einzige Partei im Lande war und die seit den letzten Wahlen im Parlament eine absolute Mehrheit hat, ist die Ruhe in Person. Über seinem mächtigen Schreibtisch hängt das Porträt seines Erzfeindes, des Präsidenten Abdelasis Bouteflika, Mitglied der FLN. „Er glaubt nicht an die Demokratie, er ist gegen den politischen Pluralismus, er ist gegen die Meinungsfreiheit“, konstatiert Benflis ganz nüchtern und unaufgeregt, „er will alle Macht für sich allein.“ – „Aber weshalb haben Sie ihm denn fast drei Jahre lang, bis vor acht Monaten, als Premier gedient?“ – „Ich kannte ihn nicht, als ich die Regierung übernahm.“ – „Aber Sie haben doch schon 1999 seine Wahlkampagne geleitet…“ – „Würden Sie Ihre Fragen bitte schriftlich einreichen.“ Das Interview ist zu Ende.
Algerien erlebt eine Premiere: Im April sind Präsidentschaftswahlen, und der Sieger steht noch nicht fest. Das gab es noch nie. Bislang bestimmte die allmächtige Armee frühzeitig ihren Kandidaten und ließ ihn danach vom Volk wählen. Das war auch 1999 so, als Abdelasis Bouteflika, dessen Amtszeit im April zu Ende geht, zum Präsidenten gekürt wurde. Jetzt wartet Algeriens politische Klasse auf das Editorial der nächsten Ausgabe von al-Dscheisch, der Monatszeitung der Armee. Für wen werden die Generäle – selbstredend zwischen den Zeilen – votieren? Für Bouteflika, der seine erneute Kandidatur noch nicht angemeldet hat? Oder für Benflis, dessen Kandidatur der Präsident nicht verhindern konnte?
Der Konflikt zwischen dem Präsidenten und seinem früheren Premier ist noch kein Jahr alt. Erst als deutlich wurde, dass es Benflis ins höchste Staatsamt drängte, feuerte ihn Bouteflika. Das war im Mai. Im September entließ der Präsident fünf FLN-Minister, die Benflis nahe standen. Aus Protest dagegen traten kurz danach sieben weitere Minister aus dem Benflis-Lager zurück. Anfang Oktober nominierte ein außerordentlicher Parteikongress, den Bouteflika vergeblich zu verhindern trachtete, den Parteichef zum Präsidentschaftskandidaten. Zum Jahresende eskalierte der Konflikt endgültig. Am 30. Dezember erklärte das Verwaltungsgericht von Algier den Parteitag vom März für ungültig, auf dem Benflis als Parteichef bestätigt worden war. Implizit verbot es ihm damit, sich als Kandidat der FLN um die Präsidentschaft zu bewerben. Sämtliche Parteiguthaben wurden gerichtlich blockiert.
Die meisten Zeitungen haben sich im Konflikt zwischen Benflis und Bouteflika gegen den Präsidenten gestellt – wie auch fast sämtliche Parteien, weil sie fürchten, Bouteflika könnte den Justizapparat eines Tages auch gegen sie einsetzen. Aber der Präsident hat gute Chancen, das Rennen trotzdem zu gewinnen. Er kontrolliert Hörfunk und Fernsehen des Landes, die beide staatlich sind, und nun mobilisiert er seine Kohorten. Die mächtige Nationale Organisation der Mudschaheddin, die die alten Kämpen des Unabhängigkeitskrieges vereinigt, hat sich als Erste hinter den Staatschef gestellt. Andere werden folgen. Und am vergangenen Wochenende haben seine Anhänger in der FLN – nicht gerade satzungsgemäß – einen eigenen Kongress der Wiederaufrichtung (der Partei) durchgeführt. Die Partei ist damit endgültig gespalten. Dem Präsidenten kommt es zupass.
Bouteflika, ein charismatischer Politiker und begabter Redner, gehört zum Urgestein der algerischen Politik. Schon 1963 wurde er im Alter von 26 Jahren Außenminister und blieb es auch während der gesamten Präsidentschaft Houari Boumediennes (1965 bis 1978), die vor allem die ältere Generation in guter Erinnerung hat. Das Erdöl wurde verstaatlicht, und in der Bewegung der Blockfreien nahm Algerien damals eine prominente Stellung ein. Auf dem internationalen Parkett der Diplomatie genoss Bouteflika höchste Reputation. Unter Boumediennes Nachfolger Chadli Bendjedid wurde er ins Exil gezwungen und kehrte erst Ende der achtziger Jahre in seine Heimat zurück – und in seine Partei, die FLN, in deren Zentralkomitee er 1989 gewählt wurde.
Benflis ist zwar mit 60 Jahren nur sieben Jahre jünger als sein Kontrahent, blasser als dieser und weniger eloquent, doch steht er gewissermaßen für eine neue Generation. In die Politik stieg der gelernte Jurist relativ spät ein. 1987 gehörte er zu den Mitbegründern der ersten algerischen Menschenrechtsorganisation. 1989 wurde er Justizminister, trat aber drei Jahre später zurück – aus Protest gegen die verfassungswidrige administrative Internierung Tausender jugendlicher Anhänger der Islamischen Heilsfront (FIS) nach dem Staatsstreich der Armee. Im August 2000 wurde Benflis unter Bouteflika Premierminister, ein Jahr später übernahm er den Vorsitz der FLN.
Benflis oder Bouteflika? Der Armeechef General Mohammed Lamari hat bereits angekündigt, die Militärs würden jeden Präsidenten akzeptieren, den das Volk wählt – und sei es selbst Abdallah Dschaballah. Der ist Führer der zugelassenen islamistischen Partei al-Islah und hat keine Chance, die Wahlen zu gewinnen – so wenig wie die übrigen Kandidaten. „Die Armee ist neutral“, verkündet General Lamari. Obwohl sie es diesmal vielleicht tatsächlich ist, glaubt es in Algerien kaum jemand. Hat doch gerade General Chaled Nessar, einst Armeechef und Verteidigungsminister, in einem aufsehenerregenden Buch so ganz nebenbei geschildert, wie 1995 und 1999 die Armee einen Kandidaten bestimmte, den sie dann zum Präsidenten wählen ließ. Der Kassenschlager trägt den Titel Bouteflika, der Mensch und seine Bilanz und ist eine gehässige Abrechnung mit dem Präsidenten. Nun fragt man sich in Algier einigermaßen verblüfft, ob Nessar für sich gesprochen hat oder die Stimme einer Armeefraktion ist.
„Bouteflika will sich von den Militärs, die ihn ins Amt gesetzt haben, emanzipieren“, mutmaßt Salah-Eddine Sidhoum, „also stärken einige Generäle Benflis, wichtig ist den Militärs bloß, dass der Präsident schwach ist und ihre Geschäfte nicht stört. Vergessen Sie nicht, dass der einzige Präsident, der gegen die mafiosen Machenschaften der Militärs vorzugehen versprach, von ihnen ermordet wurde.“ Das war Mohammed Boudiaf, den die Armee nach ihrem Putsch 1992 aus dem marokkanischen Exil holte und der wenige Monate später einem Attentat zum Opfer fiel. Wie alle Menschenrechtler spricht Sidhoum gerne von der Vergangenheit, die viele am liebsten vergessen möchten.

Mehr als 150000 Tote in zehn Jahren
Sidhoum, 55 Jahre alt, ist ein bescheidener Mann, unaufdringlich und freundlich. Und wenn er seine unglaubliche Geschichte erzählt, ist keine Spur von Bitterkeit zu spüren. An der Wand seiner Wohnstube hängen zahlreiche Diplome, Ehrungen und Auszeichnungen, die ihn als gut reputierten Chirurgen und Orthopäden ausweisen. An zentraler Stelle ist ein Regal angebracht, auf dem der Koran und andere religiöse Schriften stehen.
Im Januar 1992 putschten die Militärs und betrogen die Islamisten um ihren Wahlsieg. „Es waren die einzigen freien und fairen Wahlen, die es in Algerien je gegeben hat“, sagt Sidhoum. Man kann heute nur spekulieren, was geschehen wäre, wenn die Armee den Wahlsieg der Islamisten akzeptiert hätte. Tatsache ist, dass diese in den Untergrund gedrängt wurden und ein Krieg seinen Anfang nahm, der wohl 150000 bis 200000 Tote forderte. Während die Weltöffentlichkeit über den Terror islamistischer Fanatiker schockiert war, sammelte Sidhoum Zeugenberichte über die Verbrechen von Armee, Geheimdienst und Polizei.
Nachdem 1994 drei bewaffnete Männer in Sidhoums Haus eingedrungen waren, tauchte der Arzt ab. 1997 wurde er in Abwesenheit zu 20 Jahren Gefängnis verurteilt. Man beschuldigte ihn, eine Verschwörung gegen den Staat organisiert zu haben. Im vergangenen September stellte sich Sidhoum der Justiz. Er wurde sofort festgenommen – und schon nach 18 Tagen von jeder Schuld freigesprochen. Neun Jahre lang hatte sich Sidhoum da versteckt, wo ihn niemand vermutete: zu Hause.

Die Gesellschaft ist zerrissen, das Land im Ausnahmezustand
Der Menschenrechtler ist überzeugt, dass der Geheimdienst die Islamisten infiltriert und manipuliert hat, die Armee habe Interesse an der Gewalt gehabt, um sich einer eingeschüchterten Bevölkerung gegenüber als Retter vor der islamistischen Gefahr zu profilieren. Vor wenigen Monaten ist in Frankreich ein Buch erschienen, das diese These untermauert. Der Autor, Mohammed Samraoui, war als hoher Geheimdienstoffizier zuletzt Militärattaché an der algerischen Botschaft in Deutschland. 1996 desertierte er, nachdem drei hohe algerische Geheimdienstler ihn in Bonn aufgesucht und ihm Order erteilt hatten, Rabah Kebir, den in Deutschland lebenden Auslandschef der FIS, zu ermorden. So jedenfalls lautet die Version Samraouis, der heute in Deutschland politisches Asyl genießt.
Einer des Trios, das damals Samraoui am Rhein besucht hat, ist General Raschid Laalali alias Attafi. Heute ist er Chef des DDSE, des Auslandsgeheimdienstes der Armee. Der General ist die Herzlichkeit in Person. „Wir waren damals wegen Recherchen über Waffentransportwege der Islamisten bei unseren Kollegen vom BND, und natürlich haben wir auch den Militärattaché unserer Botschaft aufgesucht.“ Samraoui habe nicht turnusmäßig nach Algerien zurückkehren wollen, weil es sich in Deutschland nun mal bequemer leben lässt, und die Story vom Mordauftrag habe er erfunden, um politisches Asyl zu erhalten.
Da steht Aussage gegen Aussage – wie so oft in Algerien. Von 200000 Toten sprach Sidhoum, von 100000 sprach Bouteflika bei seinem Amtsantritt 1999, auch der General hat Zahlen. Vom Laptop aus lässt er sie an die weiße Wand werfen: 24000 zivile Tote, 9500 tote Soldaten, 15300 liquidierte Terroristen – macht 48000 Tote. Heute seien nur noch etwa 500 Islamisten aktiv. Während Sidhoum noch 1000 Tote fürs Jahr 2003 gezählt hat, ist für Laalali der Krieg vorbei.
Bei SOS disparus, der Organisation der Familienangehörigen der Verschwundenen, geht es um andere Dimensionen. Ihr kleines Lokal in einer verwinkelten Gasse im Zentrum Algiers ist von oben bis unten mit Hunderten von Fotos vorwiegend junger Männer geschmückt – mit Angaben zum Datum und den Umständen ihrer Entführung durch die Sicherheitskräfte. Bei der Nationalen Vereinigung der Opfer des Terrorismus wiederum stapeln sich Ordner mit Fotos verstümmelter Personen, die den Islamisten in die Hände gefallen sind. Jede Seite sieht nur ihre eigenen Toten.
Die Gesellschaft bleibt nach zehn Jahren Krieg tief zerrissen. In Algerien herrscht noch immer der Ausnahmezustand. Versammlungen, auch in geschlossenen Sälen, sind genehmigungspflichtig, eine öffentliche Debatte ist unmöglich. Und der Verfasser dieses Berichts wurde – gegen seinen ausdrücklichen Willen, angeblich zu seiner eigenen Sicherheit – ausnahmslos auf all seinen Wegen von zwei Polizisten begleitet.

Thomas Schmid – DIE ZEIT 29.01.2004