BENGASI. Brega, immer wieder Brega. „Wir fahren nach Brega“, sagen die Chabab, die jungen libyschen Rebellen, die auf die Ladefläche eines Kleinlasters steigen. Schon mehrmals zog die Front über die Stadt mit dem wichtigen Ölhafen hinweg: Zuerst im März, als die Aufständischen westwärts fast bis Sirte vorstießen. Dann beim Gegenangriff der Regierungstruppen, der im Osten erst vor den Toren von Bengasi, der Hauptstadt des „freien Libyen“, haltmachte. Das war, als französische und US-Kampfflieger die Truppen von Muammar al-Gaddafi zum Rückzug zwangen und es den Rebellen erlaubten, Brega für kurze Zeit zurückzuerobern. Und nun stehen – alle Siegesverlautbarungen in Bengasi Lügen strafend – abermals Gaddafis Soldaten in der Stadt. Seit einer Woche wird um Brega erbittert gekämpft.
Jeden Tag fahren in Bengasi etwa hundert Journalisten los, um zu sehen, wie es um Brega steht. Der Weg führt an zerschossenen Panzern und weidenden Kamelen vorbei. Am letzten Kontrollpunkt der Rebellen, zehn Kilometer vor dem Stadtrand, wird man gewarnt, aber an der Weiterfahrt nicht gehindert. Niemand weiß, was vorne, hinter der nächsten Anhöhe, los ist.
Also fragt man den Ersten, der von dort kommt. „Fahren Sie ruhig weiter“, sagt der junge Mann, der sein Autofenster heruntergekurbelt hat, „ganz Brega wird von den Rebellen kontrolliert. Die Armee des Affen ist abgezogen.“ Wen er mit dem Affen meint, weiß hier jeder: Gaddafi wird in zahlreichen Karikaturen als Affe verhöhnt. Im nächsten Auto kommt eine siebenköpfige Familie an. „Ich weiß nicht, ob noch jemand in Brega lebt“, sagt der Alte am Lenkrad, „wir sind vielleicht die letzten, die gegangen sind. Überall Gaddafis Soldaten und viele Heckenschützen. Fahren Sie bloß nicht hin!“ Wem trauen?
Gewehrsalven und dumpfe Einschläge von Artilleriegranaten erleichtern die Antwort. „Die Kämpfe finden zwei Kilometer von hier statt“, sagt Mahmut. Er sitzt auf einem Autoreifen, die Sonnenbrille auf das gegelte Haar hochgeschobene, und hält seine Kalaschnikow wie ein Baby im Arm. Die Angst der Journalisten amüsiert ihn. 18 Jahre alt ist er, zwei ältere Brüder hat er an der Front verloren. Er ist in ihre Fußstapfen getreten. Hat er keine Angst? „Gaddafi muss weg, wir wollen ein freies Libyen“, antwortet er. Weshalb auch sollte er hier über seine Gefühle sprechen – vor all seinen Kameraden? Was er studieren, will, soll Mahmut sagen. „Darüber reden wir, wenn Gaddafi weg ist.“
Es herrscht eine gespenstische Atmosphäre hier in der Wüste. Am Straßenrand warten Krankenwagen auf Verletzte. Schüsse ertönen, sie scheinen näherzukommen. Aber noch immer verteilt ein Mann in aller Herrgottsruhe Cola-Dosen und Kekse an die Rebellen. Ein Älterer, die Trikolore des libyschen Königreichs zu einem Turban gewickelt, läuft mit einem Lautsprecher umher und schreit wie besessen: „Allahu akbar!“ Einige Jugendliche geben den Ruf murmelnd zurück: „Gott ist groß.“
Mahmuts Kumpel Fahti ist enttäuscht. Seit zehn Tagen schon ist er hier, und noch immer kam er nicht richtig zum Einsatz. Er wollte in vorderster Linie kämpfen. Aber die Soldaten der Rebellenarmee haben ihn zurückgeschickt. Zu viele Jugendliche sind in den ersten Wochen des Krieges gestorben. Ohne Kommando, ohne Schlachtplan hatten sie sich mit Todesmut und leichten Waffen Gaddafis Soldaten entgegengestellt. Nun sollen desertierte Soldaten die Schlacht schlagen, unterstützt von in aller Eile rudimentär ausgebildeten Rebellen.
Mehr als hundert bewaffnete Jugendliche lagern in Grüppchen an der Straße. Wer hat das Kommando? Haben sie überhaupt jemanden, der befiehlt? „Wir sind Revolutionäre“, sagt Fahti, „wir unterstützen die Armee. Die Kommandanten sind an der Front.“ Dann bricht ein kleiner Trupp der Chabab zu Fuß auf und verschwindet in der Wüste. Hat sie jemand gerufen? Ein Funkgerät hat hier keiner. Mit dem Fernglas kann man erkennen, wie sie sich in dieser Landschaft von Stein und Sand, die kaum einen natürlichen Schutz bietet, verteilen.
Ein Spiel mit dem Tod
Kleinlaster mit Minenwerfern auf der Ladefläche fahren vorbei, dann ein Tieflader mit einer imposanten Stalinorgel. Mit großen wehenden Fahnen fahren sie Richtung Brega. Es hat etwas Mittelalterliches an sich. Auf den Gefährten sitzen Männer, die meisten haben sich aus Versatzstücken Uniformen gebastelt. Einige tragen T-Shirts und leichte Turnschuhe, andere dicke Wollpullover und schwere Stiefel. Kein einziger hat einen Helm. Und mit schusssicheren Westen laufen hier nur Journalisten herum.
Plötzlich ein lauter Knall, 300Meter entfernt wirbelt eine Sand- und Staubwolke hoch. Ein Geschoss ist eingeschlagen. Wie ein aufgescheuchter Hühnerhaufen flüchten sich Rebellen und Journalisten in ihre Gefährte und rasen los – weg von der Front. Einige Grünschnäbel haben ihren Wagen nicht in Fluchtrichtung geparkt und müssen erst wenden. Sie lösen ein Chaos aus, während die Gewehrsalven immer lauter werden. Nach etwa drei Kilometern halten die meisten an. Die Schüsse sind leiser geworden. Einige fahren schon bald wieder Richtung Front zurück. Es scheint ein Spiel mit dem Tod zu sein.
Auf dem „Freiheitsplatz“ im Zentrum von Bengasi herrscht wie jeden Abend Feierstimmung. Wie jeden Abend wird demonstriert. Aus dem Lautsprecher dröhnt ein Revolutionslied von Abdusalem al-Mashatti. Dann fahren drei Kleinlaster mit wehenden Fahnen vor. Sie kommen von der Front und kurven mehrere Male über den Platz. Auf der Ladefläche des mittleren Wagens liegt ein Sarg. Sechs Männer schultern ihn. Der Tote heißt Ibrahim Ali Atuhami. Er ist an der Front von Brega gestorben. Seine Kameraden feuern einige Gewehrsalven in die Luft. Ein letzter Salut.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 07.04.2011