Die Enkel des Löwen der Wüste

BENGASI. So schön kann Revolution sein. Auf dem Hauptplatz von Bengasi, der direkt am Mittelmeer liegt, turnen Kinder auf einem Schützenpanzer herum, einige Hundert Männer beten gemeinsam auf riesigen Teppichen, die auf dem Asphalt liegen. Gleich daneben demonstrieren Frauen für ein freies Libyen. Musik schallt aus den Lautsprechern am Gerichtsgebäude, in dem kein Gericht mehr tagt und niemand mehr verurteilt wird. An einer Stellwand hängen Dutzende Karikaturen von Gaddafi. Der Diktator wird dem Spott preisgegeben. Die Hinterlassenschaften seiner geschlagenen Truppen – Hülsen von Artilleriegeschossen und Patronen, Gewehrmagazine, Stiefel, Helme, aber auch Dattelpakete, Spaghetti und Kekse, ja, sogar eine Puppe – sind wie Trophäen ausgestellt. Hier ist das Zentrum des freien Libyen. Überall lachende Gesichter, überall Fahnen. Auf dem Platz herrscht Feierstimmung.

Porträts von einigen der 1247 Häftlinge, die Gaddafi am 29.06.1996 erschießen ließ

Auf die düstere Seite der jüngeren und jüngsten Geschichte verweisen an den Mauern des Gerichtsgebäudes Tausende von Fotos: Bilder jener 1247 Häftlinge, die Gaddafi nach einem Aufstand in einem Gefängnis bei der Hauptstadt Tripolis 1996 innerhalb von wenigen Stunden erschießen ließ. Und Bilder von Hunderten, die in den vergangenen sieben Wochen gefallen sind, Märtyrer der Revolution. Unter einigen Fotos stehen Telefonnummern. Die Angehörigen bitten um Nachrichten über ihre vermissten Söhne, Brüder oder Cousins, die vermutlich auch tot sind. Aber die Hoffnung stirbt zuletzt.

Vor diesen Bildern steht Mustafa. Vor zwei Monaten, kurz bevor in Bengasi die Revolte begann, die schnell aufs ganze Land übergriff, ist er 16 Jahre alt geworden. Damals studierte er noch Gaddafis Grünes Buch, Libyens Bibel, in dem der Machthaber seine Dschamahirija preist, eine Art Demokratie, in der angeblich das Volk die Macht direkt ausübt. Heute steht Mustafa vor dem Gerichtsgebäude mit zwei Fahnen in der Hand, der rot-schwarz-grünen, die unter Gaddafis Vorgänger, König Idris, gehisst wurde, und der französischen Trikolore. Präsident Nicolas Sarkozy, der auf die militärische Intervention gedrängt hat, die vermutlich die Einnahme von Bengasi und somit ein Massaker in der zweitgrößten Stadt Libyen verhinderte, wird hier überall als Held gefeiert.

Mustafa zückt sein Handy und scrollt. Bild um Bild erscheint auf dem kleinen Display. „Das ist Ahmed, ich habe sehr um ihn geweint“, sagt er trocken, „das hier ist Omar, er war zu mir wie ein Bruder, und das hier Abdul, gefallen vor vier Tagen.“ Elf Fotos hat Mustafa gespeichert, alles Bilder von Freunden – Halbwüchsige, erschossen in den vergangenen Wochen. In Privatautos und auf den Ladeflächen von Kleinlastern sind die Chabab, die Jugendlichen, mit wehenden Fahnen, alten Gewehren, viel Mut und auch viel Leichtsinn an die Front gefahren, um gegen Gaddafis mit schwerem Kriegsgerät ausgerüstete Spezialtruppen zu kämpfen.

Die Bilder der Chabab sind um die Welt gegangen. Auch jene ihrer panischen Flucht, ihres ungeordneten Rückzugs, wenn die Ersten an der Front fielen und die Granaten schwerer Artillerie einschlugen. Organisation, Gefechtsordnung, Kommando – all das kennen die Chabab nicht. Das soll nun anders werden. In Camps am Rand von Bengasi werden die kriegswilligen Jugendlichen und Männer rudimentär ausgebildet. Pensionierte Offiziere erklären ihnen, wie man Gewehre, Flakgeschütze, Raketenwerfer bedient, und wie man mit Handgranaten umgeht. Sie bringen den künftigen Soldaten der Revolution aber auch einige grundsätzliche Überlebensregeln ein: Bei Beschuss sollte man sich hinwerfen und lieber Deckung suchen, statt dem Feind ungezielt entgegenzuballern.

Vorbei an wuchernden Trabantenstädten, die wohl sobald nicht fertiggestellt werden, weil Zehntausende chinesische Bauarbeiter in den letzten Wochen aus dem Land geflüchtet sind, vorbei an einem Dutzend Wracks von Panzern, außer Gefecht gesetzt von französischen Kampffliegern, vorbei an Skeletten ausgebrannter Autos, erreicht man die Außenstelle des Camps. Hier erhalten die jungen Männer den letzten Schliff, bevor sie an die Verteidigungslinien oder an die Front gehen. Geschützdonner und Explosionen erschüttern das kleine Lager mit einem Dutzend Zelten in der Halbwüste. Zwei Jugendliche rösten Kartoffeln am offenen Feuer: Pfadfinderstimmung, Soldatenleben.

Militärische Ausbildung bei Bengasi

Weiter hinten stehen etwa dreißig Männer in Reih und Glied. Nur wenige von ihnen tragen Uniformstücke, entweder Jacke oder Hose – niemals beides. Die meisten von ihnen sind zivil gekleidet: Jeans, Baseballmützen, Anoraks. Ein Ausbilder schreit eine Parole. Recht martialisch bellen sie im Chor zurück: „Freiheit für Libyen! Allahu akbar!“ – Gott ist groß! Nein, es sind keine Islamisten, nur fromme oder weniger fromme Muslime.

Kahani ist der Jüngste unter ihnen, kein stämmiger Bursche wie so mancher hier, sondern von eher kleinem Wuchs und schmächtig gebaut. Das Gewehr baumelt wie ein Fremdkörper an seiner Schulter. Der 17-Jährige ist erst vor vier Jahren aus der Schweiz, wo er aufgewachsen ist, ins Land gekommen. „Die Schweiz ist schön“, sagt er in unüberhörbar helvetisch gefärbtem Deutsch, „aber meine Heimat ist hier.“ Und nun wolle er eben für ein freies Libyen kämpfen. Die Schulen seien ja ohnehin alle geschlossen. Kahani will an die Front. Hat er denn keine Angst? „Nein, überhaupt nicht“, behauptet er, „wer Angst hat, sollte besser zu Hause bleiben.“ Er sagt es mit gespielter Verachtung in der Stimme. Dann kommt der Vater, ein Ingenieur, um seinen Sprössling zu besuchen. Er ist sichtlich stolz auf ihn, aber doch auch besorgt. Ist er gekommen, um sich zu verabschieden? Sieht er seinen Sohn vielleicht zum letzten Mal?

„Die Jungen wollen alle ganz vorne sein“, sagt der Vizekommandant des Camps, ein Ingenieur, der – wie er es formuliert – sein Laptop gegen das Gewehr getauscht hat. Auch sein Vorgesetzter sei ein Zivilist, erklärt er. „Die zur Revolution übergelaufenen Offiziere und Soldaten werden an der Front gebraucht.“ Dann mustert er seine kleine Truppe, die sich inzwischen vor einem Kleinlaster versammelt hat, auf dessen Ladefläche ein Raketenwerfer montiert ist. Ein recht archaisches Bild. „Bis acht Kilometer weit fliegen die Geschosse bei günstigem Wind“, sagt Mohamed, mit 30 Jahren der älteste der Rekruten. Die modernen Waffen der Artillerie von Gaddafis Spezialtruppen haben eine Reichweite von 25bis 30 Kilometern. So sind die Verhältnisse.

Mohamed trägt völlig verdreckte Jeans und spricht ein ausgezeichnetes Englisch. In seinem früheren Leben war er Angestellter der libyschen Botschaft in Stockholm. Vor sechs Jahren quittierte er den Dienst. „Man forderte von mir, Exillibyer zu bespitzeln und regelmäßig über sie Berichte abzuliefern“, sagt er, „dazu war ich nicht bereit, es widersprach meinen moralischen Vorstellungen zutiefst.“ An Gaddafis Dschamahirija hat er nie geglaubt. Über das Grüne Buch habe man nur Witze gemacht. Aber das Angebot, ins Ausland zu gehen, wollte er dann doch nicht ausschlagen.

Nach seiner Rückkehr nahm Mohamed ein Studium auf und arbeitete als Handelskaufmann in der Automobil- und in der Nahrungsmittelbranche. Studium und Job hat er erst mal an den Nagel gehängt. „Jetzt geht es darum, das Regime Gaddafi zu beseitigen“, sagt er, „wir wollen ganz Libyen befreien.“ Bislang kontrolliert die Opposition vor allem den Ostteil des Landes, im Wesentlichen die historische Cyreneika, in der der größere Teil der Erdölfelder liegt. Der Westteil, Tripolitanien genannt, ist mit Ausnahme von zwei belagerten oppositionellen Exklaven in der Hand der Truppen Gaddafis. Das sind vor allem zwei Spezialbrigaden, die beide von Söhnen des Diktators kommandiert werden, sowie das gefürchtete Afrika-Korps, eine Truppe von schwarzen Söldnern aus den südlichen Nachbarstaaten.

Aber hat denn Gaddafi tatsächlich im Ausland Söldner angeworben? Es wurde oft bestritten. Doch für Mohamed ist es keine Frage. „Als ich im Hauptcamp war“, behauptet er, „habe ich mindestens zwölf schwarze Gefangene gesehen.“ Im Verhör hätten sie angegeben, Gaddafi habe ihnen tausend Dollar pro Tag Kriegseinsatz versprochen.

Mohamed meint, militärisch sei der Kampf gegen Gaddafi nicht zu gewinnen. Trotzdem wird er in drei Tagen seinen Kriegsdienst antreten, nicht an der Front, sondern beim Ausbau der Verteidigungslinien. Schon zweimal sind die Rebellen bis zu 250 Kilometer über die aktuelle Frontlinie hinaus vorgestoßen, konnten dann aber den Geländegewinn nicht halten, weil es mit der Logistik nicht klappte, kein Nachschub kam und es den Chabab wichtiger war, weiter Richtung Tripolis vorzustoßen, als das eroberte Terrain abzusichern.

Letztlich gehe es darum, sagt Mohamed, den befreiten Teil zu verteidigen und den militärischen Druck aufrechtzuerhalten, bis Gaddafi aufgibt – und das nicht, weil die Rebellen sein Beduinenzelt beschießen würden, sondern weil noch mehr Teile seiner Truppen desertieren, weil ihm wie der Außenminister, der Innenminister und der Justizminister noch mehr Personen aus seiner Entourage die Loyalität aufkündigen. „Die letzte Schlacht wird in Tripolis geschlagen“, vermutet Mohamed, „zwischen abfallenden Truppen und solchen, die bis zuletzt kämpfen.“

Die Katiba, die riesige Kaserne, in der Gaddafi residierte, wenn er nach Bengasi kam, ist total zerstört.

Dann könnte es in der Hauptstadt an vielen Orten so aussehen wie am Rand der Innenstadt von Bengasi. Dort liegt oder, besser gesagt, lag die Katiba, ein weitläufiges Gelände, einige Quadratkilometer groß. Hier residierte Gaddafi, wenn er nach Bengasi kam, hier waren auch die Unterkünfte seiner weiblichen Leibgarde und der Spezialtruppen, die das ganze Jahr über in der Stadt stationiert waren. Die Katiba ist eine riesige Kaserne mit einem Palast und einer Tribüne für die Auftritte Gaddafis, die jetzt zertrümmert ist wie alles an diesem Ort.

Überall rußgeschwärzte Mauern, Löcher statt Fenstern, die Gebäude sind alle abgebrannt. Dutzende verkohlte Autos stehen herum. Der Palast selbst ist komplett zerstört. Was noch brauchbar war, wurde weggeschafft, der Rest kurz und klein geschlagen. Nur noch einige Fayencen in den Ruinen, etwas Goldverzierung an der Außenmauer und ein Whirlpool künden von der einstigen Pracht. Mitten auf dem freien Gelände der Katiba gibt es zwei große unterirdische Räume, die durch schwere Eisentüren verschlossen sind. Luft kommt durch zwei vergitterte Öffnungen herein. Nach dem Abzug der Spezialtruppen seien hier 37 Gefangene befreit und drei Leichen geborgen worden, behauptet Hashemi, ein alter Mann, dessen Italienischkenntnisse noch aus der Zeit von Mussolinis Besetzung des Landes stammen.

Drei Tage haben die erbitterten Kämpfe um die ummauerte Katiba gedauert. Auf der einen Seite desertierte Armeetruppen und die todesmutigen Chabab, auf der andern Seite die gut ausgebildeten Spezialeinheiten Gaddafis. In den Häusern außerhalb der Mauern der zerstörten Kaserne sind überall Einschüsse zu sehen. „Sie haben aus der Katiba heraus auf die Bevölkerung geschossen“, sagt Hashemi, der in der unmittelbaren Umgebung wohnt und alles mit eigenen Augen gesehen hat, „es war schrecklich, wie zu Zeiten der Faschisten.“ Und dann fragt er: „Kennen Sie Omar Mukhtar?“ Der „Löwe der Wüste“ war der Anführer des Widerstands gegen die italienische Besatzung, 1931 wurde er gefangen genommen, zum Tode verurteilt und in Bengasi öffentlich hingerichtet. „Die Chabab setzen das Werk Omar Mukhtars fort“, sagt, mit großem Respekt vor dieser Jugend, der alte Hashemi, dessen Vater von Mussolinis Soldaten erschossen wurde.

Auch viele jener Männer, die bei der Eroberung der Katiba fielen, werden auf dem großen Platz im Zentrum Bengasis geehrt. Die Porträts dieser Märtyrer, wie sie hier genannt werden, zieren die Mauern des Gerichtsgebäudes. Es sind die Gesichter junger Männer, wie man sie überall trifft. Einige blicken den Betrachter streng an, andere etwas verkniffen, die meisten jedoch strahlen Lebensfreude und Zukunftsgewissheit aus – wie die Chabab, die an die Front ziehen, und von denen viele ihr Leben für eine bessere Zukunft der anderen lassen. Die Verehrung der Märtyrer mag den Ausländer befremden. Hier scheint sie selbstverständlich. „Sie gehören zu uns“, sagte Mustafa, der Junge, der die Bilder seiner toten Freunde im Handy gespeichert hat, „sie sind für uns gestorben, sie leben in uns, wir werden sie nie vergessen.“ Er sagte es ohne jedes Pathos.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 05.04.2011

© Berliner Zeitung