BAMAKO. Seine sieben Kinder hat Ousmane Hallé schon vor einer Weile hergebracht, nach Bamako, in die Hauptstadt. Er sagt, dass in Timbuktu jetzt Dinge passieren, die sie nicht sehen sollen: „Ich will nicht, dass sie wie die anderen Kinder in Timbuktu neugierig auf den Platz rennen, wenn Menschen öffentlich ausgepeitscht werden.“ Außerdem will er, dass sie zur Schule gehen. In Timbuktu sind die Schulen geschlossen, die Banken auch.

Eigentlich könnte Ousmane Hallé auch in Bamako bleiben, denn Arbeit hat er in Timbuktu keine mehr. Er ist der Bürgermeister. Sein Büro wurde geplündert, die Computer gestohlen, die Verwaltung ist zum Erliegen gekommen, der Stadtrat wurde aufgelöst. Doch er will schon am nächsten Tag zurückfahren. Er will seine Leute nicht alleine lassen und das Wenige tun, was er noch tun kann. Urkunden ausstellen über Geburten und Todesfälle zum Beispiel. Die Familien werden sie in der Zukunft brauchen können, sagt er. Der Bürgermeister hofft auf diese Zukunft. Und er glaubt, dass nur eine militärische Intervention sie bringen kann. Nur so könne die Stadt von den schwer bewaffneten Islamisten befreit werden, die das Leben dort und im ganzen Norden Malis so sehr verändert haben.

Timbuktu, das ist die Stadt, die der Legende nach der Gelehrte Al Farouk beschützt, indem er jede Nacht auf seinem weißen Pferd lautlos durch die Straßen reitet und die bösen Geister vertreibt. Der Statue Al Farouks wurde der Kopf abgeschlagen und seinem Pferd die Vorderbeine. Timbuktu ist auch der Ort, an dem jedes Jahr das „Festival der Wüste“ stattfand, Robert Plant, der Sänger von Led Zeppelin, trat auf, und Bono von U2. Nun wacht eine islamische Polizei darüber, dass in der Stadt das Musikverbot eingehalten wird. Journalisten trauen sich schon seit einem halben Jahr nicht mehr an den Ort, der bis vor Kurzem das Zentrum islamischer Hochkultur war, zu groß ist die Gefahr, entführt zu werden.

Hallé Ousmane, Bürgermeister von Timbuktu

Zum Gespräch hat der Bürgermeister in das noble Hotel Amitié gebeten, im Zentrum der Zweimillionenstadt Bamako. Im angenehm klimatisierten Foyer erklärt der schmächtige Mann mit der eindringlichen Stimme die Lage in seinem Land, die für Außenstehende immer unübersichtlicher wird, seit im März nach einem Militärputsch Islamisten den Norden des Landes übernahmen. Es sind nur ein paar Schritte vom Nobelhotel zum Großen Markt, wo unter der sengenden Sonne Wunderheiler Säfte und Kräuter anbieten, wo kaum eine Straße asphaltiert ist, wo zwischen Kloaken Ziegen spazieren, wo in offenen Garküchen Bananen, Fleisch und Gemüse bruzzeln und überall der gebratene Capitaine, der köstliche Fisch aus dem nahen Niger, seinen Duft verströmt.

Hallé sagt, von den einheimischen Milizen der arabischen Minderheit, die zuerst in die Stadt einzogen, habe er sich eigentlich Schutz versprochen: vor der laizistischen MNLA, jenen Tuareg-Rebellen, die den Aufstand im Norden begonnen hatten. „Sie haben uns verraten“, sagt er. Die Islamisten vertrieben die MNLA, unterdrücken seitdem aber die Zivilbevölkerung. Zwei Gruppen herrschten nun in Timbuktu, erzählt der Bürgermeister: Aqmi und Ansar Dine. Aqmi steht für „Al-Kaida im islamischen Maghreb“, diese Truppe habe vor allem das Sagen. „Es sind Ausländer. Bei uns patrouillieren bewaffnete Algerier, Pakistani, Afghanen durch die Straßen, ja sogar zwei Franzosen, nicht arabischstämmige Franzosen, sondern richtige weiße europäische Franzosen.“ Und da ist Ansar Dine, ebenfalls ein islamistischer Verband, angeführt vom legendären Tuareg-Führer Iyad Ag Ghali, der einst den Ruf eines Trinkers und Schürzenjägers hatte, eine Zeit lang in Diensten Gaddafis stand, dann irgendwo in Pakistan oder Saudi-Arabien ein religiöses Erweckungserlebnis hatte und nun im Norden Malis die Scharia einführen will.
Ansar Dine hat in Timbuktu ein halbes Dutzend historischer Mausoleen zerstört, die zum Teil unter dem Schutz der Unesco standen. Nun hat man sich vom Terrorismus distanziert und will verhandeln. Hallé bezweifelt, dass das stimmt.

Gibt es denn Widerstand gegen den Terror der Besatzer, die Frauen den Schleier aufzwingen, Dieben die Hand amputieren und Raucher auspeitschen? „Als jüngst beim Opferfest nach dem Gebet ein Prediger von Aqmi das Wort ergriff, standen die Leute auf und gingen einfach weg“, berichtet Hallé, „es war ein deutlicher Protest.“ Etwas ändern könne jedoch nur eine Militäroffensive.

Dass eine militärische Intervention kommen wird, daran zweifelt in Bamako kaum jemand. Eine Resolution des UN-Sicherheitsrats, die den Einsatz autorisiert, soll in diesen Tagen verabschiedet werden. Auch in Europa hat man die Gefahr erkannt, dass sich im Norden Malis Al-Kaida, die sich im Wesentlichen über den Drogenhandel und Entführungen finanziert, auf Dauer festsetzt. Mali galt als beispielhaft in Afrika, seit 20Jahren herrschten demokratische Verhältnisse. Doch nun läuft die Sahel-Zone Gefahr, zur neuen Heimstatt von Dschihaddisten aus aller Welt zu werden. Schon jetzt könnten sie beängstigend gut mit Waffen ausgestattet sein. Nicht wenige Angehörige der Tuareg, ein Volk der Wüste, haben in der libyschen Armee gedient, einige sind nach dem Sturz Muammar al-Gaddafis über Niger nach Mali gereist und haben ihre Waffen verhökert. Es ist nicht auszuschließen, dass der Al-Kaida-Zweig Aqmi schon heute über Flugabwehrraketen aus libyschen Beständen verfügt, mit denen zivile Flugzeuge vom Himmel geholt werden können.

Die malische Armee, die im März gegen den gewählten Präsidenten Amadou Toumine Touré geputscht hat und unter internationalem Druck eine Übergangsregierung akzeptieren musste, ist allein nicht in der Lage, den Norden Malis zurückzuerobern. Sie ist schlecht ausgerüstet, durch Desertionen geschwächt und nach dem Putsch, den Teile der Armee ablehnten, ist ihre Kommandostruktur zusammengebrochen. So wird vermutlich eine 3 300 Mann starke Interventionsarmee aus verschiedenen Staaten der Ecowas, der Westafrikanischen Wirtschaftsgemeinschaft, die malische Armee unterstützen. Die Europäische Union will 240 Berater und Ausbilder schicken, unter ihnen dürften dann auch einige Dutzend deutsche Soldaten sein.

In Sevare, einer Stadt 650 Kilometer nördlich von Bamako, bereitet man sich schon jetzt auf den Tag vor, an dem die Rückeroberung des Nordens beginnt. Auch hier üben verschiedene Milizen, sie nennen sich Ganda Izo, „Söhne des Landes“, Ganda Koye, „Besitzer des Landes“ und „Streitkräfte zur Befreiung des Nordens“. Sevare ist die letzte Stadt vor der unsichtbaren Frontlinie, hinter der das Reich der Islamisten beginnt. In dem verschlafenen Ort gibt es zwei asphaltierte Straßen und eine Luftwaffenbasis mit Flugpiste, aber kein Kampfflugzeug.

Vor dem Hauptquartier seiner Truppe hat auf einem kleinen Klappstuhl Djibrila Diallo Platz genommen. Ein bulliger Mann, 42Jahre alt, Bauer, Kriegsveteran und Kommandant von Ganda Koye, der größten der drei Milizen. Er hat sie 1994 mitgegründet, um gegen Tuareg-Rebellen zu kämpfen. 1996 wurden die Feindseligkeiten eingestellt, 3 000 Gewehre wurden öffentlich verbrannt. 16 Jahre, nachdem die Miliz ihre eigene Auflösung erklärt hat, ist sie wieder da.

Djibril Diallo, Chef der Miliz Ganda Koye

„Wir sind multiethnisch“, sagt Diallo. „Nur Tuareg sind nicht dabei. Wir wollen sie nicht und sie wollen auch nicht zu uns.“ Die weißhäutigen Tuareg sind in Sevare mindestens so verhasst wie die Islamisten. Die Hälfte der örtlichen Bevölkerung besteht schließlich aus Flüchtlingen aus dem Norden des Landes.
„Die Tuareg haben immer wieder gegen die Regierung in Bamako rebelliert“, sagt Diallo, „um des Friedens willen wurden sie zwanzig Jahre bevorzugt behandelt, aber sie haben trotzdem keine Ruhe gegeben. Es wird schwierig sein, nach dem Krieg wieder mit ihnen zusammenzuleben. Aber wir sind alle Muslime, und Muslime können verzeihen.“ Nach dem Krieg. Man hört die drei Worte hier immer wieder. Dass der Krieg kommen wird, daran zweifelt niemand. Nach dem Krieg wird Diallo auch seine Frau und seine fünf Kinder, die er in Gao zurückgelassen hat, wieder sehen.

Gegen einen Besuch seines Camps hat der Kommandant nichts einzuwenden. Es ist gerade Frühstückspause. In einer Feldküche wird am offenen Feuer in großen Kesseln Reis gekocht. „Wir haben keinen Zucker und keine Milch“, klagt ein Milizionär, „es gibt zu wenig zu essen.“ Ob er einfach gehen kann, wenn ihm das Leben im Lager zu hart oder zu eintönig ist? „Natürlich, wir sind alle freiwillig hier. Nur ganz wenige sind abgehauen, niemand hat sie aufgehalten.“

Anders als die beiden anderen Milizen nehmen die „Besitzer des Landes“ auch Frauen auf. „Wir machen dasselbe wie die Männer“, sagt Fatoumata Touré, die kurz weggehuscht ist, um in Uniform gekleidet und mit prächtigem Ohrschmuck wiederzukommen, „wir treiben gemeinsam Sport, wir exerzieren gemeinsam und machen gemeinsam unser militärisches Training.“

Milizionärin Fatoumata Touré

Nur die Schlafzimmer seien getrennt, fügt sie lachend hinzu. Touré, 25Jahre alt, ist Mutter eines siebenjährigen Mädchens und eigentlich Journalistin. Bis zu ihrer Flucht aus der Stadt Gao moderierte sie bei einem privaten Rundfunksender das Musikprogramm. „Als die Islamisten die Stadt einnahmen und jegliche Musik verboten, war ich natürlich arbeitslos“, sagt sie, „Nun will ich bei der Rückeroberung meiner Heimatstadt helfen.“ Ihre Tochter hat Touré bei ihrer Mutter in Gao gelassen. Der Vater der Kleinen hat längst eine andere Frau geheiratet. Aber darüber mag sie nicht reden.


Touré muss antreten zum Appell. Über hundert Männer und ein Dutzend Frauen stellen sich in Reih und Glied auf. Im Stechschritt marschieren sie los, schlagen die Hacken zusammen, stehen stramm, salutieren. Sie tun, was Soldaten tun, nur dass in dieser kleinen Armee die wenigsten Soldaten Uniform tragen. Ihre Füße stecken in Sportschuhen oder Plastiksandalen. Nur einer hält ein Gewehr, eine Kalaschnikow.

Milizionäre beim Training

Es sind schlecht ausgerüstete, aber hoch motivierte junge Leute. Alle wollen sie – und sie betonen es bei jeder Gelegenheit – den Norden zurückerobern, ihre Heimatstädte befreien. Vielleicht auch Rache üben.
Wut und Verbitterung sind groß. Über 400 000 Menschen sind aus ihren Städten und Dörfern geflüchtet, die Hälfte ins Ausland, die andere Hälfte in den von der Regierung kontrollierten Süden des Landes. Aber auch in Sevare gibt es kaum eine Familie, die nicht Angehörige oder Freunde aufgenommen hat. Man lebt eng und teilt, was man hat. Mali gehört zu den ärmsten Staaten Afrikas, aber vor Obdachlosigkeit schützt weithin noch die Großfamilie. In Sevare haben nur 58 Familien keine Bleibe gefunden, etwa 400Personen, die schließlich im einzigen Flüchtlingscamp der Region untergekommen sind. Schafe und Ziegen stehen zwischen den Zelten. Am Eingang schlafen Männer, im Innenhof stampft eine Frau mit einem mannshohen Mörser Hirse.

Geleitet wird das Lager von Boubacar Traoré. Der 56-jährige Automechaniker hatte seine eigene Werkstatt. Als Anfang April die Tuareg-Guerilla MNLA seine Stadt stürmte, plünderte sie seine Garage, nahmen Werkzeuge, Autos und Roller mit. Traoré flüchtete mit einer seiner beiden Frauen, den gemeinsamen Kindern und den Kindern seines Bruders. Die andere Frau ist mit einem Sohn zurückgeblieben. Der ist heute Mechaniker in der Werkstatt seines Vaters – als Angestellter der Islamisten, die sich zu den neuen Eigentümern erklärt haben.

„Die Besatzer sind Ausländer“, sagt Traoré, „keiner spricht unsere Sprachen. Aber sie versuchen nun, unter der Bevölkerung Kräfte zu rekrutieren. Du findest immer einen arbeitslosen Jungen, der für etwas Geld und eine Kalaschnikow zu ihnen überläuft.“ Befürchtet er nicht, dass bei einer militärischen Intervention die Islamisten gegen die Zivilbevölkerung vorgehen? „Ohne Krieg lässt sich das Problem nicht lösen“, sagt Traoré, zückt sein Handy und zeigt einen kurzen Videofilm: Ein schwarzer Jeep mit der französischen Aufschrift „Police islamique“ und einer schwarzen Fahne mit Koransure fährt vor. Kurz danach saust eine Peitsche auf den nackten Rücken eines Mannes, immer wieder. Er hat geraucht, die Strafe sind hundert Peitschenhiebe. Auf dem Handy-Display sieht man, wie der Mann sich windet. Und daneben Kinder, die zuschauen.

Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 26.11.2012


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