TUNIS. Mohamed Talbi zählt zu den ganz großen Intellektuellen Tunesiens. Ein unabhängiger Geist, ein scharfsinniger Denker mit Esprit, ein Kämpfer für die Menschenrechte. Dann die Überraschung. In seinem recht luxuriösen Haus in einem Vorort von Tunis sagt der Historiker seelenruhig: „Wir lieben ihn alle, und deshalb wählen wir ihn alle. Die Oppositionellen heucheln, im Herzen sind auch sie für ihn.“ Eine geschlagene halbe Stunde lang preist er den tunesischen Ministerpräsidenten in den höchsten Tönen. „Zini El Abidine Ben Ali ist unser Erlöser. Er hat uns allen geholfen. Ohne ihn wären wir nichts. Gott hat ihn uns geschickt.“ Talbi ist 88 Jahre alt. Er redet mit Fispelstimme, ist klein, wirkt zerbrechlich, sitzt zusammengekauert im Stuhl, als wollte er sich vom großen Raum verschlucken lassen. Ist er senil geworden? Oder hat er bloß Angst?
Am kommenden Sonntag wählt Tunesien ein neues Parlament und den alten Präsidenten. Ben Ali will zum vierten Mal sein eigener Nachfolger werden und sein fünftes Mandat als Präsident antreten. Er ist der zweite Staatschef in der 53-jährigen Geschichte des unabhängigen Tunesiens. 1987 hatte er seinen Vorgänger Habib Bourguiba, der ihn zum Sicherheitschef, dann zum Innenminister und schließlich zum Premierminister ernannt hatte, für amtsunfähig erklären lassen und in einem unblutigen Putsch die Macht an sich gerissen. Seither herrscht er unumschränkt. Tunesien ist ein Polizeistaat mit einer demokratischen Fassade.
Das Gespräch mit Talbi scheint nicht zu fruchten. Der alte Mann wird nicht müde, die Qualitäten des Präsidenten herauszustreichen, seine Güte, seine Vernunft, seine Liebe zum Volk. Er scheint die Verwirrung, die seine Worte anstiften, zu genießen. Ein Lächeln huscht über sein Gesicht. Der Denker hat sich nur einen bösen Scherz erlaubt. „Ben Ali ist schlimmer als Gott“, behauptet er unvermittelt, „denn Gott kennt immerhin Erbarmen. Das Touristenparadies Tunesien ist eine Diktatur. Das freie Wort ist verboten. Wer schweigt, macht sich schuldig. Schreiben Sie den deutschen und europäischen Politikern ins Stammbuch: ‚Mit eurem Schweigen unterstützt ihr die Diktatur.'“ Talbi sitzt nun aufrecht in seinem Stuhl, behauptet mit fester Stimme: „Wir leben in einem mentalen Gulag.“
Vier Kandidaten bewerben sich um die Präsidentschaft, vier Parteien um Sitze im Parlament. Bei den letzten Wahlen, 2004, ließ sich Ben Ali 94,48 Prozent der Stimmen zuweisen. Das war recht bescheiden. Fünf Jahre zuvor hatte er sich noch 99,44 Prozent genehmigt. Neben Ben Ali haben zwei Satellitenparteien ihre Kandidaten aufgestellt. Der eine von ihnen, Mohamed Bouchiha, meinte zu Wochenbeginn über Ben Ali: „Die politische Ethik gebietet es, die Hauptrolle zu unterstreichen, die Präsident Ben Ali für die globale Entwicklung des Landes unaufhörlich einnimmt.“ So klingen tunesische Blockflöten.
Der vierte Kandidat heißt Ahmed Brahim. Er kandidiert für die aus der Kommunistischen Partei hervorgegangene Ettajdid, die Bewegung für die Erneuerung. In der Parteizentrale, einer Zweizimmerwohnung, strahlt der 63-jährige Professor der Linguistik, als ob ihm der Sieg gewiss sei. Dann sagt er mit gequältem Lachen: „Ich kenne natürlich die Machtverhältnisse, ich weiß, dass ich keine Chance habe.“ Brahim ist mit 19 Jahren in die Kommunistische Partei Tunesiens eingetreten. Er will auch jetzt kämpfen, ein Zeichen setzen. In Deutschland, sagt er, wäre er Mitglied der Partei Die Linke.
Nejib Chebbi, 65, der Präsidentschaftskandidat der stärksten Oppositionspartei, der sozialdemokratisch orientierten PDP, wurde legal ausgebootet. Nachdem er im Februar seine Kandidatur erklärt hatte, ließ Ben Ali im März das Parlament ein Gesetz verabschieden, das nur Kandidaten zulässt, die seit mindestens zwei Jahren ihre Partei führen. Es war eine Lex Chebbi. In der vergangenen Woche hat die PDP auch ihre Beteiligung an den Parlamentswahlen abgesagt. „Man hat uns in 19 von 26 Wahlkreisen nicht zugelassen“, gibt der verhinderte Präsidentschaftskandidat zu Protokoll, „auch in der Hauptstadt nicht.“
An den Machtverhältnissen ändert der Rückzug der PDP ohnehin nichts, da drei Viertel aller Sitze – so will es das Gesetz – nach dem Mehrheitswahlrecht verteilt und mit Sicherheit allesamt an die regierende Staatspartei RCD fallen werden. Ein Viertel der Sitze geht an die Parteien der „Opposition“, proportional zu ihrer Stärke. Mit diesen Mandaten wird das Regime, das sich bei der Abwicklung der Wahl nicht in die Karten schauen lässt, vor allem die Blockflöten belohnen.
Von einer fairen und freien Wahl kann nicht die Rede sein. Eine internationale Überwachung der ganzen Veranstaltung stand nicht einmal zur Debatte.
Talbi, Brahim und Chebbi sind sich in einem einig: Frankreich, Deutschland, Europa, die USA, sie alle haben sich mit dem Polizeistaat Tunesien arrangiert. Wichtiger als demokratische Verhältnisse ist ihnen – spätestens seit dem 11. September 2001 – die Sicherheit, die Bändigung der islamistischen Gefahr. In Tunesien ist die moderate islamische Partei verboten. Einige hundert, vielleicht über tausend jugendliche Dschihadisten oder Salafisten, jedenfalls islamistische Extremisten, sind in Haft.
„Ob sie gefoltert wurden, ob sie überhaupt irgendwelche Delikte begangen haben“, sagt Chebbi, der Rechtsanwalt ist, „das interessiert den Westen nicht.“ Und Tunesiens Wirtschaft kann sich sehen lassen. Seit über zwei Jahrzehnten verzeichnet das Land respektable Zuwachsraten. Selbst die internationale Finanzkrise hat das Land gut gemeistert.
Ben Ali sorgt für Sicherheit und Stabilität. Sein Porträt hängt seit 22 Jahren zehntausendfach in Kneipen, Frisierstuben, Ämtern, Hotels. Man hat sich daran gewöhnt. Deshalb kleben nun zusätzlich an Mauern, Straßenpfählen, Schaufenstern rot umrandete Plakate, auf denen Ben Ali die rechte Hand aufs Herz hält, ein Gestus, der sich mit „ich liebe euch“ übersetzen lässt. Ansonsten findet kein Wahlkampf statt. Ben Ali hat ihn nicht nötig, und Brahim findet in der Millionenstadt seit zwei Wochen keinen Saal . Alles ausgebucht, heißt es. Niemand will Ärger mit dem Regime.
Ärger, wie sich ihn Sihem Bensedrine seit Jahren einhandelt. Die berühmteste tunesische Dissidentin ist Sprecherin des Nationalen Rats für Freiheiten. Das Büro der Organisation, die sich seit über einem Jahrzehnt vergeblich um einen legalen Status bemüht, liegt im Stadtzentrum. Etwa zwei Dutzend Polizisten in Zivil sind in der knapp hundert Meter langen Sackgasse positioniert und hindern jeden Einheimischen am Zutritt zum Gebäude. Ausländer hingegen werden nicht behelligt, nur aufmerksam beobachtet. Doch Bensedrine lässt den vereinbarten Interview-Termin platzen. Sie zieht die Ärmel des Pullovers hoch und zeigt die Hämatome auf dem Oberarm. Sie will bei der Polizei Anzeige erstatten. Vor einer Stunde wurde sie bei einer Pressekonferenz zusammengeschlagen – als einzige Anwesende, wortlos, ohne Vorankündigung.
Es waren Polizisten in Zivil. Daran gibt es für sie keinen Zweifel. Es ist der mutigen Menschenrechtlerin bereits öfter passiert. Man hat auch schon die Bremsleitungen ihres Autos angesägt und einen Hund am Fensterkreuz ihrer Wohnung aufgeknüpft. Omar Mestiri, ihr Mann, fand eines Tages einen geköpften Vogel unter dem Scheibenwischer seines Autos, mit einem Brief, in dem seine Gattin als Hure beschimpft wurde.
Doch Bensedrine lässt sich nicht einschüchtern. Sie macht weiter, gibt ihre Zeitschrift Kalima heraus. Nicht auf Papier, nur im Internet. Zwar ist die Website in Tunesien gesperrt. Wer technisch versiert ist, kann sie jedoch dennoch lesen, andere lassen sich die Artikel von Freunden aus dem Exil mailen. Seit Jahresbeginn produziert die Kalima-Redaktion über Satellit auch Radiosendungen, die im Internet abrufbar sind. Es sind kleine Breschen in die Mauer des Medienmonopols der Machthaber. Sämtliche Fernseh- und Radiosender wie auch Tageszeitungen gehören entweder dem Staat oder der Partei oder Sakhr Materi, dem mächtigen Schwiegersohn des Präsidenten.
Wo es an zuverlässigen Informationen mangelt, sprießen die Gerüchte. Der 73-jährige Präsident ist krank, heißt es. Seit mindestens drei Jahren schon. Er soll an Prostata-Krebs leiden. Aber vielleicht ist es doch etwas anderes. Wird Ben Ali in Deutschland behandelt oder auf Malta? Wer wird ihm folgen? Sakhr Materi, der bald die erste islamische Bank im Land eröffnen wird? Oder Leila Trabelsi, die Ehefrau des Präsidenten, die sich politisch immer mehr in den Vordergrund drängt? Hat sie nicht längst die eigentliche Macht inne und ist Ben Ali vielleicht nur noch der Hampelmann?
„Die Macht des Regimes“, erklärt Ridha Kefi in der Lobby eines Luxushotels, „basiert auf Angst und Belohnung für Gehorsam.“ Dass sich zwei Männer just am Nebentisch niedergelassen haben, obwohl fast alle andern Tische frei sind, stört den Journalisten nicht. Er ist die Allgegenwart von Polizeispitzeln gewohnt. „Wer nicht spurt, kriegt Ärger“, sagt Kefi, „er kriegt keine Sozialwohnung, keinen Kredit bei der Bank, er geht bei der Arbeitsvergabe leer aus, seine Kinder erhalten keinen Studienplatz.“
Ridha Kefi war Chefredakteur einer Wochenzeitung, bis ihn der Verleger auf Druck hoher politischer Kreise und aus Angst, bei der Zuteilung staatlicher Inserate leer auszugehen, entließ. Heute hat er keinen Presseausweis mehr. Und einen Wahlausweis hat er trotz Nachfrage keinen erhalten. Also kann er an der Wahl nicht teilnehmen. Seinen Eltern hingegen wurden Wahlunterlagen zugeschickt, obwohl sie gar keine angefordert hatten.
Auch Taoufik Ben Brik, 48 Jahre alt und das enfant terrible der tunesischen Kulturschaffenden, hat keinen Wahlausweis. Dabei würde er gern selbst Präsident werden. Wie schon vor fünf Jahren. Damals hatten Günter Grass, Werner Herzog, Gabriel García Marquez, Bob Dylan, Woody Allan und viele andere Künstler mit ihrer Unterschrift die symbolische Kandidatur des Schriftstellers unterstützt. Es war ein Gag, ein Protest gegen die Farce des Regimes.
Im Jahr 2000 hatte Ben Brik mit einem anderthalbmonatigen Hungerstreik gegen die Beschränkung seiner Reisefreiheit und seiner Meinungsfreiheit protestiert und weltweit Aufsehen erregt. Einige seiner Romane sind im renommierten Pariser Verlag La Découverte erschienen. Er legt sie alle auf den Tisch. Die Bücher tragen Titel wie „Ich werde nie abhauen“, „Eine so süße Diktatur“ und „Ben Brik Präsident“. Jetzt will er wieder Präsident werden. Wieder sucht er Unterschriften. Die erste hat er bereits. Sie stammt, wenn man dem Schreiben glauben will, das er dem Besucher unter die Nase hält, vom „scheidenden Präsidenten, seiner Exzellenz Zini El Abidine Ben Ali“.
© Berliner Zeitung
Thomas Schmid, Berliner Zeitung, 23.10.2009